„Das Geheimnis liegt in der Stille!“

 

Am Ende wird das Buch auf unheimliche Weise aktuell. Befragt zur Opernregie, schwärmt Riccardo Chailly von Nikolaus Lehnhoff, der drei Tage vor Erscheinen von Chaillys Buch Das Geheimnis liegt in der Stille. Gespräche über Musik verstorben war, „Ich habe große Hochachtung vor Lehnhoff, vor allem, wenn er bestimmte Ideen nicht bis ins Extrem ausreizt“. Nach den Erfahrungen mit der Amsterdamer Tosca hatte Chailly ihn Luciano Berio für die Erstaufführung der Turandot mit Berios Finale empfohlen, worauf der Komponist meinte, „dass er in Lehnhoff einen selten intelligenten und dialogbereiten Regisseur erlebt habe, mit dem er gerne zusammenarbeiten würde“. Diese Produktion wurde dann, neuerlich mit Chailly am Pult, im Mai dieses Jahres in Mailand im Rahmen des EXPO-Programms wiederholt. Angesichts von Chaillys umfangreichen Opernproduktion nehmen die Regisseure nur einen schmalen Raum ein, etwa Klaus Maria Grüber, der über „ein inszenatorisches Denkvermögen von bemerkenswertem Tiefgang“ verfügte, und der tiefgründige Willy Decker; beide in Amsterdam. Weniger glücklich war die Zusammenarbeit mit Zeffirelli, bei dem er anlässlich der Mailänder Aida entschied, „seine Welt einfach zu akzeptieren“.

chailly henschel verlagErwähnung findet die Arbeit mit Luca Ronconi in Bologna, Pesaro und Mailand, mit Jean-Pierre Ponnelle, der bei Chaillys Einstand in San Francisco (Turandot 1977 in San Francisco) und seinem ersten Opernfilm (Rigoletto 1981 mit Pavarotti und Gruberova) Regie führte, mit den italienischen Altmeistern Giancarlo Cobelli und Roberto De Simone („wie aus alten Zeiten“) sowie erstaunlicherweise auch mit dem provokanten Ken Russell („ein Vulkan, der ständig Asche spuckt: er besaß eine Vorliebe für Chianti und hatte immer eine Flasche unter seinem Sitz im Parkett versteckt“). Allein die paar Namen und die zahlreichen damit verbunden Produktionen zeigen, dass Chailly ein Mann des Theaters ist, was man angesichts des Buches fast ein wenig vergessen könnte.

Bereits 1967 hatte der 1953 geborene Sohn des Komponisten und Musikmanagers Luciano Chailly seinen ersten Auftritt als Dirigent. Zuvor hatte ihn der skeptische Vater, der ihn vom befreundeten Franco Ferrara begutachten ließ, selbst unterwiesen, dann an die Konservatorien von Mailand und Perugia und schließlich in die Dirigenten-Schmiede von Franco Ferrara nach Siena geschickt, wo zur gleichen Zeit auch Sinopoli, Daniel Oren, Iván und Adam Fischer studierten. 1971 gab Chailly in Mailand – am Teatro Nuovo – sein Operndebüt, bereits 1974 kam er durch Vermittlung Bartolettis an die Lyric Opera in Chicago, wo er Madama Butterfly dirigierte, deren Erfolg die oben erwähnte Turandot in San Francisco nach sich zog, und 1977 dirigierte er I Masnadieri bei Henzes Cantiere Internationale d‘ Arte in

Montepulciano, das eine prägende Zeit für Chailly gewesen sein muss, denn dies ist einer der wenigen Abschnitte, die wirklich lebendig werden und etwas von jugendlichem Schwärmen vermitteln, aber auch viel über den Vitalismus und die Aufbruchsstimmung im Musikleben im Italien der 1970er Jahre verrät. Dazu gehört auch Claudio Abbado, dessen Assistent er wurde.

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Als jüngster Dirigent in der Geschichte des Hauses debütierte er 1978 an der Scala mit I Masnadieri (Maliponte, Garaventa, Manuguerra, Nestorenko); der sehr junge Chailly war damals offenbar der Mann für die Raritäten, denn ich erinnere mich noch an I due Foscari im folgenden Jahr sowie den Jahrmarkt von Soroschinizy im Rahmen von Abbados großartiger Mussorgsky-Retrospektive 1981.Chaillys gegenwärtiger Vertrag mit dem Leipziger Gewandhausorchester wurde laut Frankfurter Neue Presse soeben aufgelöst (03. September 2015), während die vor kurzem verlängerte Laufzeit eigentlich bis 2020 ging. Über die Gründe wurde nichts bekannt, sein letztes Konzert dirigiert er Mitte Juni 2016 in Leipzig. Ab 2017 wird Chailly offiziell die Position des Musikdirektors an der Scala antreten, „Ich wünsche mir, dass sich die Scala in Zukunft wieder mehr auf dem Gebiet der italienischen Oper profiliert, und zwar in einer neuen Qualität, die an vergangene Zeiten anknüpft“. Doch, wie gesagt, das Musiktheater kommt in diesem Band ein wenig kurz. Ausnahme ist ein Kapitelchen über Verdi, in dem Chailly Otello als seine liebste Verdi-Oper bezeichnet, „dicht gefolgt von Falstaff“, und einem über Rossini und Puccini, die beide zentrale Rollen in seiner Karriere spielten: seine erste große Aufnahme bei der Decca, mit der er seit über 30 Jahre verbunden ist, galt Guillaume Tell, und Puccinis Butterfly und Turandot hat er gleich zu Beginn seiner Karriere dirigiert, wobei besonders die Anmerkungen über Mahlers Einfluss auf Puccini interessant ist.

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Befragt wird Chailly von dem Journalisten Enrico Girardi vor allem zu Bach und Mozart, Beethoven, Mahler und Bruckner, zur klassischen Moderne und den Zeitgenossen. Hier verblüfft der undogmatische und weite Blick auf die Interpretationsgeschichte, die unterschiedlichen Vorbilder oder Inspirationsquellen, die Chailly benennt, bei Bach selbstverständlich Leonhardt und Harnoncourt, bei Mozart neben Fritz Busch, Walter, Harnoncourt und Gardiner aber auch Peter Maag und Toscanini, bei Beethoven nennt er Felix Weingartner neben Carlos Kleiber, bei Mahler Abbado („… er zählt zweifellos zu den großen Mahler-Interpreten aller Zeiten, ähnlich wie Bernard Haitink, Inbegriff der großen Mahler-Tradition beim Concertgebouw, und natürlich Leonard Bernstein“). Alles wohl überlegt, keine Gefälligkeitsadressen (Riccardo Chailly, Das Geheimnis liegt in der Stille. Henschel Bärenreiter, 192 Seiten; ISBN 978-3-89487-944-0). Rolf Fath

 

Riccardo Chailly ist Decca-Exklusiv-Künstler, auf der dortigen website finden sich seine verfügbaren Aufnahmen. Die Fotos (oben von Benjamin Ealovega für Decca und hier im Text) stammen ebenfalls von dort, Dank an Universal!