Ein Thema jagt das andere

Wenn ein deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt eigene Aufnahmen einem Label in England zur Verfügung stellt, was ist das? Im besten Fall kulturelle Globalisierung. Im schlimmsten Fall hat sich für Carl Loewes Klaviermusik in seinem Heimatland keine Firma gefunden. Wie dem auch sei, bei Toccata Classics mit Sitz in London ist jetzt als Volume one Piano Music von Loewe veröffentlicht worden mit Linda Nicholson am Klavier (TOCC 0278). Die Engländerin spielt ihr breit angelegtes Repertoire, das vom Barock bis zu Frühklassik reicht, am liebsten auf Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Sie legt Wert auf Authentizität. Für Loewe kommt ein Instrument der berühmten Londoner Klavierbauer-Brüder Collard & Collard zum Einsatz, das um 1850 entstand. Der Klang ist gelegentlich etwas trocken. Aufgenommen wurde im November 2012 im WDR-Funkhaus in Köln. Des Programm der CD enthält die aus fünf Sätzen bestehende Zigeuner-Sonate, die Tondichtung Mazeppa, die Große Sonate in E-Dur und die Alpenfantasie.

loewe cpoLoewes Klaviermusik sprudelt über vor musikalischen Einfällen. Thema auf Thema. Ein Gedanke jagt den anderen, so dass mitunter der Eindruck entsteht, Ausführung und Ausformung der einzelnen Themen kämen zu kurz. Das gilt für beide große Sonaten. Es spricht ein starker musikalischer Mitteilungsdrang aus dieser Musik. Sie prägt sich deshalb rasch ein und kann durchaus auch mal nebenbei gehört werden. Das richtet sich nicht gegen Loewe, das zeugt von seinem überbordenden Talent. Wer sich mit den Balladen, die sein gewaltiges Hauptwerk bilden, auskennt, wird viele Ähnlichkeit feststellen.

Für seine Tondichtung Mazeppa, die mir am besten gefällt, braucht Loewe keine zehn Minuten. Er wurde durch die literarische Vorlage von Lord Byron inspiriert, die 1819 erschienen war – gut zehn Jahre bevor sich Loewe an seine Komposition machte. Liszt kam mit seiner sinfonischen Dichtung, die auf ein Gedicht von Victor Hugo zurückgeht, mehr als zwanzig Jahre danach. Tschaikowski beschäftigte sich mit dem Stoff noch viel später. Seine Oper, die einem Gedicht von Puschkin folgt, wurde 1884 uraufgeführt. Mazeppa, längst zum Hetman, also zum Führer des Kosakenheeres aufgestiegen, ist in die Jahre gekommen und liebt eine junge Frau, die seine Tochter sein könnte. Im Gegensatz zu Tschaikowski wenden sich Liszt und Loewe der legendenumwobenen, rasanten Vorgeschichte zu, die auch Maler zu dramatischen Gemälden inspirierte.

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Mazeppa auf dem Rücken seines toten Pferdes: Ausschnitt aus einem Gemälde des französischen Malers Horace Vernet

Mazeppa war als Page an den Hofe des polnischen Königs Johann Kasimir gekommen, der auch über ukrainische Provinzen gebot. Er genoss das Vertrauen des Königs, wurde mit vielen Missionen betraut, schließlich aber hart bestraft als er in sehr vertraulichem Umgang mit der Gattin eines einflussreichen Magnaten überrascht wurde. Dieser soll ihn nackt auf den Rücken seines eigenen Pferdes gebunden haben, das fortan durch die Steppe raste. Nach wenigen Tagen stirbt das Pferd, Mazappa aber wird völlig entkräftet von Kosaken gerettet, zu deren Heerführer er aufstieg. Ähnlich Liszt, der dazu ein großes Orchester zur Verfügung hatte, schildert Loewe ausschließlich den verhängnisvollen Ritt. Das Klavier rast, dem Pferde gleich. Selbst dann, wenn sich die Musik dem Helden, seinen Gedanken, Nöten und Ängsten zuwendet, ist der Hintergrund von Unrast erfüllt. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Dramatik und Bildhaftigkeit Loewe aus seinem Instrument herausholen kann – auch hier ganz der Geschichtenerzähler.

Mir ist nicht bekannt, ob Loewe, der 46 seins Lebens als Organist, Kantor, Musikdirektor und Gymnasiallehrer in Stettin zubrachte, jemals die Alpen gesehen hat. Aus seiner Alpenfantasie ist auch Sehnsucht und Aufbruch herauszuhören. Sie ist wie ein entschlossener Aufstieg angelegt also wollte da einer mit großer Entschlossenheit und mit raschem Schritt aus seiner engen Welt ausbrechen und höher und höher hinaus, um dann auf halber Strecke aufzugeben – oder gar abzustürzen. Der Schluss ist abrupt. Ich würde mir wünschen, dass dieser CD noch weitere nachfolgen, denn noch ist ein erheblicher Teil des Gesamtwerkes von Loewe unerschlossen. In jüngster Zeit kommen aber immer neue Titel hinzu. Daran hat das Label cpo erheblichen Anteil mit seiner vorbildlichen Gesamteinspielung aller Lieder und Balladen auf einundzwanzig CDs. Wirklich aller? Zumindest aus der patriotischen Abteilung des Werkverzeichnisses fehlt mancher Titel. Gewiss ist das meiste offenbar sehr lässlich, aber man hätte sich schon gern selbst ein eigenes Bild gemacht.

Rüdiger Winter