Oper als Reich des Scheins

 

Angemessene Würdigung: Einen so prachtvollen wie interessanten vor allem Bildband gibt es aus dem Henschel-Verlag über und mit dem Regisseur Nikolaus Lehnhoff, zweisprachig, wobei der englische Titel eher zutreffender als der deutsche ist. „Illusion“ heißt es in englischer Sprache, was  im Deutschen Die Oper ist das Reich des Scheins  lautet und eher abwertend klingen könnte, denkt man an „mehr Schein als Sein“. Wie hoch aber der Regisseur und Verfasser das Reich des Scheins schätzt, kann man auf jeder Seite des Buchs feststellen, wenn auf einer halben bis zwei Seiten für dreißig Opern, die Lehnhoff einmal oder mehrfach inszeniert hat, die Sicht auf das jeweilige Werk erläutert wird und dann eine Reihe von Fotos zur Verdeutlichung folgt. Allerdings geben Fotos eher die Arbeit des Szenographen als die des Regisseurs wieder, verraten wenig über die Personenregie,  aber in den einführenden Artikeln wird deutlich, wie eng die Zusammenarbeit zwischen Lehnhoff und seinem jeweiligen Bühnenbildner war und wie viel von seinen Ideen zum Stück in die Optik der Bühne eingeflossen ist.

Nikolaus Lehnhoff/youtube

Nikolaus Lehnhoff/youtube

Der mit dem umfangreichen Band nicht zuletzt Geehrte betont einleitend, dass er bei seiner Arbeit stets vom Stück ausgeht, dass für ihn der singende Mensch im Vordergrund steht. Herausgegeben wurde der Band mit kostbarem Papier von Birgit Pargner, die in ihrem Vorwort darüber berichtet, wie stark der Regisseur von Wieland Wagner beeinflusst wurde, die Beispiele für die Personenführung, so im Baden Badener Lohengrin und in Così fan tutte anführt und die betont, wie sehr viel wichtiger Lehnhoff in den vierzig Jahren seines bisherigen Wirkens Architektonisches im Vergleich zu Illusorischem war. 30 Opern wurden ausgewählt, um dafür den Beweis anzutreten.

Ein Portrait Lehnhoffs von Manuel Brug schließt sich dem Vorwort an, das den Karriereweg des Regisseurs nachzeichnet, vom Regieassistenten bei Sellner und Wieland Wagner, an der Met, seine erste große Regiearbeit in Paris mit Die Frau ohne Schatten, protegiert von Böhm, sein Wirken als „nobler Außenseiter“ in Bezug auf das moderne Regietheater. Kurz umrissen wird der Regiestil des Portraitierten, werden besonders aufsehenerregende Arbeiten erwähnt wie der Tristan in Orange, die drei Janácek-Inszenierungen in Glyndebourne, wohin er auch den ersten Tristan bringt, das Schwimmen gegen den Strom der Regietendenzen, wenn er es wagt, Stücke in der Zeit anzusiedeln, die das Libretto vorsieht. Der Hauptteil des Buches ist alphabetisch nach Komponistennamen gegliedert. Nicht nur einen jeweils vorangestellten Text, sondern auch neben jedem Foto Bemerkungen gibt es zu den einzelnen Inszenierungen, dazu die Besetzungen, oft unterschiedliche, wenn eine Produktion an mehreren Bühnen gezeigt wurde, so wie der Fidelio, für den Enzensberger einen Text schrieb, der die gesprochenen Dialoge ersetzte. Für Bonn und Salzburg wurden dann andere Lösungen gefunden. Allemonde als Seelenraum im Wechselspiel zwischen Realismus und poetischer Überhöhung ließ sich Lehnhoff von Raimund Bauer, in den letzten Jahren sein künstlerischer Begleiter, entwerfen, die Vision eines Idealstaates in München 1992 für Der Prinz von Homburg von Gottfried Pilz mit einem blauen „Sehnsuchtsraum“ entwerfen. Für die Salzburger Felsenreitschule schuf er Inszenierungen von Idomeneo und Schrekers Die Gezeichneten, die Mozart-Oper 1990 als die einer Gesellschaft, in der Angst ein Dauerzustand ist, den Schreker in Endzeitstimmung. 2003 entstand in Hamburg eine Inszenierung der Karmeliterinnen, bei denen der Regisseur neue Konstellationen im Verhältnis zwischen Blanche und Constance und  zwischen Mére Marie und Lidoine entdeckte. Nicht ganz nachvollziehen kann man seine Meinung über das Personal der Fanciulla, das für ihn aus profitgierigen Kleinkriminellen besteht, die immerhin einem der Ihren die Heimreise bezahlen. Auch Cavaradossi als Handlanger Scarpias, des gefallenen Engels, dürfte nicht für jeden Opernbesucher und Leser nachvollziehbar sein (Amsterdam 2009). Ein geheimnisvoller Satz wie „Die Existenz wird dem Menschen zur Todesfalle“ hilft da nicht viel weiter. Es fällt auf, wie häufig Lehndorff in Amsterdam gearbeitet hat, eine Turandot mit Berio-Schluss gehört dazu. Besonders häufig widmete er sich Salome, so 1989 an der Met, 1994 in Leipzig und 2011 in Baden Baden. Verdi ist nur mit Rigoletto in Leipzig vertreten, Wagner umso häufiger, und wer erinnert sich nicht an den vor sich hin komponierenden Lohengrin in der Brautnacht aus Baden Baden. Mehr Freud und Strindberg als Kaiser- oder Nazizeit sieht Lehnhoff in dem Werk, geht aber fehl, wenn er in Heinrich den Angreifer gegen die Ungarn sieht. Nicht klar wird, ob die Ruine auf der Festwiese der Meistersinger an der Scala frei nach C.D Friedrich gestaltet sein oder einen Teil des verwüsteten Nürnberg darstellen soll. Überlieferten hier die Italiener die Schreibweise für den Stolzing „Peter Seiferth“ und für „Petra Schnitzer“ ohne Maria? Der Bühnenbildner jedenfalls ist mit Ezio Toffolutti ein solcher. „Der Schauplatz dieser Handlung ist die Seele“, stellt das Buch für Tristan fest, für den in Orange eine raffinierte Lichtregie gestaltet wurde. Interessant sind auch die Ausführungen zum Ring (San Francisco und München), über die drei möglichen Schlüsse und die drei Erbsünden, die vor dem Goldraub begangen werden. Der Welt Becketts verwandt schließlich sieht Lehnhoff Wagners Parsifal, den er für London, Chicago, Baden Baden und Barcelona inszenierte. Ein Anhang aus einem Inszenierungsverzeichnis, einem Fotonachweis und dem Impressum vervollständigt das Werk (Henschel Verlag ISBN 978-3-89487-774-3).

Ingrid Wanja