Erika Köth – Ihre schönsten Aufnahmen, ihre größten Erfolge. Das passt immer. Zumal bei der Köth. Die Zahl ihrer schönsten Aufnahmen ist so umfänglich wie die ihrer größten Erfolge. In der Zusammenstellung der neuen Box aus der hübschen Sängerserie von The Intense Media wird eine klingende Bestandsaufnahme versucht (600210). Zehn CDs, nicht immer randvoll. Da kommt einiges zusammen, auch wenn einiges fehlt. Im Oratorium war sie kaum unterwegs. Also kann es keine Aufnahmen geben. Die größten Lücken der Box werden bei Liedern deutlich. Die Köth war auf diesem Gebiet außerordentlich tüchtig. Es gab etliche Schallplatten. Mit Liederabenden bereiste sie die Welt. Nach eigenen Angaben ist sie die erste Sängerin gewesen, die 1961 bei einer Tournee durch die Sowjetunion Hugo Wolf gesungen hat – in Deutsch. Selbst erinnere ich mich gern an meinen eigenen Liederabend mit der Köth, wobei sie ausschließlich Mozart vortrug. Das war Ende der sechziger Jahre in Jena. Sie machte, was nicht selbstverständlich gewesen ist in Zeiten des Kalten Krieges, gemeinsam mit ihrem treuen Begleiter Günther Weißenborn keinen Bogen um den Ostblock. Man kannte sie gut. Aus dem Westfernsehen, wo sie genau so berühmt war wie Willy Brandt oder die Valente. Sie hatte ihre eigene Show und war gern gesehener Gast im „Blauen Bock“, beim Hessischen Rundfunk. Das Fernsehen war ihr größter Erfolg. Es brachte ihr ein Publikum ein, das in Millionen zu zählen ist und nicht in Tausenden wie in den größten Opernhäusern. Niemand nahm der Köth diese Ausflüge übel. Sie bekannte sich dazu, wie sie aus ihrer Freude an einem guten Tropfen keinen Hehl machte. Den eigenen Weinberg gleich um die Ecke. Ihr ganzes Leben lang blieb sie das Kind aus der Pfalz. Noch zu ihren Lebzeiten wurde eine Straße nach ihr bekannt. Eine Ehre, die sonst nur Toten zukommt.
In der Box werden diese leichten Seiten angeschlagen, die sie so populär und beliebt machten. Deutsche Volkslieder mit Otto Matzerath, der damals Chefdirigent des Frankfurter Radio-Sinfonieorchesters war, am Klavier von 1956 sollen zuerst genannt werden. Warum? Weil sie das Wesen und die Kunst dieser Sängerin für mich sehr anschaulich, vielleicht gar am anschaulichsten offenbaren. Zunächst fällt diese Virtuosität mit einer unangestrengten Höhe auf, die auch in schwindelerregenden Bereichen immer noch natürlich klingt, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, sich in diesen Lagen auszudrücken und zu kommunizieren. Sie holt die Koloratur mit Leichtigkeit in die menschlichen Niederungen zurück. Jedes Wort ist zu verstehen, kein Vokal, kein Konsonant, kein Komma, kein Punkt gehen unter. Sie kann sogar noch dem Z, mit dem das Lied „Z‘ Lauterbach hab i mein Strumpf verlorn“ beginnt, ein Maß an Ausdruck abgewinnen, den man bei diesem unliebenswürdigsten aller Buchstaben nie vermuten würde.
Sie singt vom Wort her. Wenn sich Erika Köth an das Studium eines neuen Werkes machte, sagte sie sich zuerst den Text vor. Nicht nur einmal. Sie ergründete ihn für sich. Der Text als Basis. Ein phonetisches Einpauken einer Partie wäre für sie nie in Frage gekommen. Obwohl sie die Originalsprache in der Oper für sinnvoll hielt, blieb ihrer Generation deren ausschließliche Verwendung erspart. Als sie die Königin der Nacht in der Mailänder Scala unter Karajan in Italienisch singen musste, begann sie zuvor, die Sprache zu lernen. Textverständlichkeit macht ihre Darbietungen so glaubhaft und wahrhaftig. Uneingeschränkt gilt dies auch für die Volkslieder, die zudem noch in unterschiedlichen Dialekten gehalten und mit mundartlichen Raffungen und Verkürzungen ganzer Wörter einher gehen. Ihre Gesangslinie strömt schlicht und einfach. Einerseits ist das Begabung und gut gelernt, andererseits kann die Köth Töne in einer Weise zu einer Melodie verbinden, dass nichts Überflüssiges bleibt. Ihr Legato ist vollkommen. Es ist wie ein Konzentrat. Ein leichtes Vibrato, das innere Erregung und Anteilnahme verrät, ist ihr Markenzeichen von Anfang an. Es hat sich mit den Jahren verstärkt und wurde ihr nicht selten als Bibbern angekreidet. Mich stört es nicht. Es macht den Klang der Stimme so unverwechselbar, so dass ich sie immer heraus höre.
Die Zauberflöte dürfte die Oper sein, in der sie am häufigsten aufgetreten ist. Einen Rekord erzielte sie mit 250 Auftritten in München. Generationen dürften dort nur die Köth als Königin gekannt haben, was im Nachhinein so unvorstellbar wie leicht gruselig ist. Immer nur Köth, fünfundzwanzig Jahre lang. Selbst die größte Wertschätzung gefriert vor dieser Statistik. Nach Salzburg hatte sie noch eine Empfehlung von Wilhelm Furtwängler geführt. Mit ihren strahlenden „Hojotoho’s“ war ihm die „Kleine“ als Helmwige bei der Schallplattenaufnahme der Walküre 1954 in Wien aufgefallen. Die Szene findet sich auch in der Box, sie muss nicht aus der Gesamtaufnahme im Regal herausgesucht werden. So wird auf kurzem Weg klar, warum Furtwängler im Schlachtruf der wilden Wotans-Maid auf dem Felsen die Königin der Nacht hörte. Ihre beiden Arien sind in der Sammlung geteilt in live die erste (Salzburg 1959) und Studio die zweite (1955). Es fällt auf, wie perfekt Erika Köth diese Rolle beherrschte. Noch in der Drohung verleiht sie ihr menschliche Züge. Sie keift nicht, sie rührt an. Im Interview mit August Everding in der Sendung Da Capo (ZDF 1988) hat sie lange nach Ende ihrer Karriere die finsteren Seiten der Figur herausgestellt. Gestalten konnte sie die nicht. Ihr Timbre gab das einfach nicht her. Sie ist und bleibt für mich die gute Seele, die Lichtgestalt – die Liu, die Gilda, die Sophie, die Konstanze. Alle Figuren finden sich in der Box mit den anrührendsten Szenen wieder.
Allenfalls war sie kokett. Wie als Zerbinetta, deren Arie „Großmächtige Prinzessin“ sie mit großem Spaß an der Freude hinlegt in einer brillanten Einzelaufnahme mit den Berliner Philharmonikern von 1956 unter Matzerath. Niemand dürfte ihr die Frau Fluth nachmachen, deren Arien „Nun eilt herbei“ sie 1954, begleitet von Wilhelm Schüchter am Pult der Berliner Symphonikern, eingespielt hat. Ein ganz besonderer Fall ist das fesche Ännchen in dieser Sammlung. Joseph Keilberth hatte die Köth für seine berühmte Freischütz-Einspielung von 1958 bestimmt. Sie musste aber aus gesundheitlichen Gründen wieder aussteigen. Lisa Otto sprang ein, ohne sie ersetzen zu können. Erhalten haben sich zwei Szenen, nämlich “Schelm! Halt fest!“ mit Elisabeth Grümmer als Agathe und die Arie „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“. Endlich sind sie wieder zugänglich. Allein deshalb hätte ich mir die Edition zugelegt.
Das italienische und französische Fach wird, wie damals in den 1950er Jahren hierzulande üblich, in deutscher Sprache gepflegt. Die sagenumwobene Lucia di Lammermoor der Callas war durch Platte und Gastspiel längst auch in der Bundesrepublik bekannt und hatte den modernen Standard gesetzt, als sich Erika Köth auf die Rolle in München einließ und zwischen Ende 1956 und Oktober 1968 sage und schreibe hundert Mal darin auftrat – mit großem Erfolg. Eine gute halbe Stunde aus dem großen Querschnitt, der 1957 in Berlin unter Wilhelm Schüchter im Studio entstand, lässt den heutigen Zuhörer etwas ratlos zurück, zumal auch Rudolf Schock als Edgardo, Josef Metternich als Enrico und Gottlob Frick als Raimondo das Ihre dazu beitragen, dass aus Lucia eine deutsche Oper wird und stellenweise ein bisschen wie Martha klingt. Besser schneiden für mich die fünf zusammengewürfelten einzelnen Szenen aus Rigoletto ab, was auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass diese Oper von Verdi eine viel stärkere Pflege im deutschsprachigen Raum genoss hatte als die damals noch unbekannte Lucia Eine Episode in der Laufbahn der Köth blieb die Butterfly. Sie hatte die Rolle zwar studiert und sie für sich mehrfach durchgesungen – bis zur Heiserkeit. Ihr war aber bald klar geworden, dass sie sich damit die Stimme in der Mittellage ruinieren würde. Eine kluge Einsicht. Als nichts mehr zu befürchten stand, nämlich 1978, ist sie mit der Arie „Eines Tages seh’n wir“ schnell noch ins Studio gegangen. Das Duett „Mädchen, in deinen Augen liegt ein Zauber“ hat sie sich im Konzert mit Rudolf Schock und dem Münchner Rundfunkorchester unter Leitung von Kurt Eichhorn gegönnt.
Solche Live-Einsprengsel machen sich gut in dieser Sammlung, die weitgehend aus offiziellen Produktionen besteht. Sie sind ganz im Sinne der Sängerin, die in dem bereits zitierten Interview vom „Fluch der Schallplatte“ sprach. Das Publikum wolle es immer genau so perfekt haben wie untern den idealen Bedingungen des Aufnahmestudios, wo ein verunglückter Ton auch wiederholt werden könne. Dabei kann es die Bühnen-Köth noch mit jedem Studio aufnehmen. Missglückt ist da nie etwas. Es ist nur anders. Im Gegensatz zu anderen Kolleginnen ist sie mir vor dem Mikrophon letztlich lieber, weil sie da vielleicht noch mehr wagte als sie es sich auf der Bühne zutraute. Sie war auch eine Gezeichnete. Geschlagen durch die frühe Kinderlähmung, die ihre Spuren hinterlassen hatte, wogegen sie tapfer ankämpfte. Allein vier CDs gehören der Operette. Da bleiben kaum Wünsche offen. Fledermaus, Wiener Blut, Zigeunerbaron (Johann Strauß) Banditenstreiche (Franz von Suppé), Gasparone (Carl Millöcker), Csárdásfürstin, Veilchen von Montmartre (Emmerich Kálmán), Vetter aus Dingsda (Eduard Künneke), Schwarzwaldmädel (Leon Jessel) und jede Menge Franz Lehár mit Graf von Luxemburg, Zarewitsch, Friederike, Land des Lächelns. Bis auf ein Duett aus dem Veilchen von Montmartre mit Schock stammt alles aus dem Studio. Meist sind es Rundfunkproduktionen, die auch den Weg auf Platte fanden, später auf CD. Sie erreichten große Auflagen, haben zeitweise sogar die bedeutende Operngestalterin in den Schatten gestellt, was ihr nicht Recht sein konnte, woran sie aber nicht unschuldig war.
Wer sich mit Erika Köth beschäftigt, kommt zwangsläufig auf Hermann Prey, dem Intense Media ebenfalls eine neue Box widmet (600205). Beide sind sich im Plattenstudio und auf der Bühne begegnet. Ein Traumpaar waren sie nicht. Rollen gaben das nicht her. Prey ging auch sehr eigene Wege. Ich erinnere mich gern an den Barbier von Sevilla aus dem Münchner Cuvilliés-Theater, der Anfang der 1960er Jahren in Schwarz/Weiß zu bester Sendezeit auf dem Fernsehschirm erschien. Da lebten Wunderlich (Almaviva) und Keilberth noch. Hotter als Basilio im Priestergewand mit spanischer Mütze, so groß wie ein Paddelboot. Prey als Barbier und die Köth als Rosina. Alle, Mitwirkende und Zuschauer, hatten einen Heidenspaß. Ein sehr deutscher Rossini, so deutsch wie die Münchener Lucia. Soweit, so gut. Der in der Erinnerung konservierte Glanz der Inszenierung hat sich in der Veröffentlichung auf DVD ins Mausgraue verflüchtigt. Die Rossini-Renaissance ließ nicht viel davon übrig. Selten fand ich mich in meiner Erinnerung so getäuscht. Und dennoch hat sich diese Produktion, die 1959 entstand (noch zwei Jahre jünger ist ein Querschnitt bei der EMI), tief ins Gedächtnis eingegraben. Szenen finden sich wie in der Köth-Box nun auch bei Prey.
Gerade mal dreißig, stellt er einen eloquenten Barbier vor, mit allen Wassern gewaschen ist, doch stets der Kavalier, dem man seine Börse anvertrauen würde. Er badet in der Partie, ist mir bei aller Zuneigung für die anderen der liebste Akteur, weil er mit seiner Darstellung auch heute noch punkten kann. Prey ist in einem gewissen Sinne zeitlos. Obwohl er wie seine Kollegin Erika auch diese Neigung zur Unterhaltung mit eigener TV-Show in sich trug, bleibt seine Box bis auf eine Operetten-CD, deutlicher der Kunst verpflichtet. Es sind andere Prioritäten gesetzt. In die Breite geht das Angebot bei Liedern: Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Mendelssohn, Grieg – und jede Menge Loewe, den er nicht gestelzt vorträgt sondern ganz natürlich, als würde er ihn befreien. Er holt Loewe in die Gegenwart. Die zwölf Balladen von 1976 mit Karl Engel am Flügel – beide nahmen bereits 1972 bei Philips eine Loewe-Platte auf – adeln die Sammlung. Ich scheue mich nicht, dies auch vom Liederzyklus Der Kleine Rosengarten nach Versen des viel gescholtenen und umstrittenen Hermann Löns zu sagen: „Über die Heide geht mein Gedenken!“ Ist das je schöner, inniger gesungen worden? Solche Lieder haben auch heute eine Chance, wenn sie mit der gleichen Hingabe wie Schumann vorgetragen werden.
Prey überzeugt, weil er sich ungebremst zu Gefühlen bekennt. So überrumpelt, kommt beim Zuhörer der Gedanke an Kitsch gar nicht erst auf. Nicht weit weg sind die Szenen aus deutschen Opern. Seine besten Aufnahmen sind dabei – die frühen Szenen aus Das Nachtlager von Granada (Konradin Kreutzer), Der Trompeter von Säkkingen (Victor Nessler), Korngolds Die tote Stadt und Humperdincks Königskinder, zwischen 1956 und 1958 produziert unter Wilhelm Schüchter. Obwohl sich Prey seine jugendliche Stimme bis ins Alter erhalten hat, ist der Anfang echter als der geliftete Ausdruck am Ende der Karriere. Mir haben die in der Edition versammelten Aufnahmen, einschließlich der gemischten Kost wie Carl Orffs Orpheus nach Monteverdi (Bayerischer Rundfunk 1974 unter Kurt Eichhorn), Prey in seiner breit angelegten Begabung wieder sehr nahe gebracht. Diese Vielseitigkeit ist es, die schließlich am stärksten fasziniert. Bei ihm wie bei der Köth.
Rüdiger Winter