Ob eine Renaissance der Operette auf deutschen Bühnen bevorsteht oder möglicherweise schon im Gange ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Einzelne Signale sprechen dafür, denkt man an die Aktivitäten der Dresdner Staatsoperette, der Komischen Oper Berlin oder des Schallplatten-Labels cpo; ganz unzweifelhaft aber ist das wissenschaftliche Interesse, das seit einiger Zeit der so lange verschmähten Gattung entgegen gebracht wird. Operettenkongresse und Operettenbücher beschwören den hohen kulturgeschichtlichen und ästhetischen Stellenwert dieser Ausprägung der leichten Muse.
Albert Giers nun von der Bamberg University Press vorgelegter Versuch einer Phänomenologie des Genres kann sich also bereits auf eine – wenn auch junge – Tradition stützen: Das Standardwerk von Volker Klotz, auf das er sich häufig, wenn auch gelegentlich kontrovers beruft, aber auch Publikationen von Stefan Frey und Kevin Clarke. Sein eigener Beitrag zum Thema überrumpelt durch eine gewaltige Materialfülle auf engem Raum und die umfassende Belesenheit des Autors, der immer wieder, gleichsam aus dem Handgelenk, Querverbindungen zu anderen Künsten und Geisteswissenschaften herstellt und auch in der Philosophie heimisch zu sein scheint.
Im einleitenden Essay über die Gattung als solche ruft Gier gewichtige Kronzeugen auf: Schopenhauer, Nietzsche, Bloch, Adorno, Proust. Und Karl Kraus, dessen Definition, die Operette nehme „eine Welt als gegeben, in der sich der Unsinn von selbst versteht und in der er nie die Reaktion der Vernunft herausfordert“, besonders triftig erscheint. Die Musik hat dabei nach Kraus die Funktion, „den Krampf des Lebens zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen und die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder anzuregen“. Die Operette bewegt sich in einem „Paralleluniversum“ (Gier), in dem die Gesetzmäßigkeiten der realen Welt weitgehend außer Kraft gesetzt sind.
Giers Ausgangsthese: „Der uneigentlichen sprachlichen steht die Aussage der Musik als eigentliche gegenüber“. Das bedeutet: „die Musik drückt klar und eindeutig erotisches Begehren aus, das unverstellt zu benennen Konventionen verbieten“. Nach Adorno ist die Musik für den Hörer „Mittel zu Zwecken seiner eigenen Triebökonomie“. In der Operette tritt die „rückhaltlose Bejahung triebhaften Begehrens“ (Gier) an die Stelle der romantischen Liebe, die in der Oper im Zentrum steht. In Offenbachs Operetten und in denen seiner besten Nachfolger sind nach Gier „sinnliche Eigentlichkeit und die Uneigentlichkeit des antiillusionistischen Spiels untrennbar miteinander verbunden“.
Was das konkret bedeutet, wird in zwei langen Kapiteln zu den Themen „Uneigentlichkeit“ und – daraus resultierend – „Intertextualität“ an zahlreichen Beispielen festgemacht. Das „(postmodern anmutende) intertextuelle Spiel der Entlehnungen, der kreativen Anverwandlung, polemischen Abgrenzung, parodistischen Korrektur bis hin zum Plagiat“ sei ein Hauptmerkmal der „komischen Operette“, die Gier deutlich vom „musikalischen Tränentheater“ abhebt, das in den Tauber-Operetten Lehárs seine Vollendung fand. Intertextualität meint Rückbezüge auf Opern, Schauspiele, erzählende Literatur, aber auch andere Operetten, die gleichsam recycelt oder neu weiter erzählt werden.
In Reynaldo Hahns Ciboulette (1923) sieht Gier den Prototyp einer komischen Operette, es handelt sich gleichsam um eine „Operette über die Operette“ und zugleich um eine Hommage an Jacques Offenbach, auf dessen Stücke nicht nur die Schauplätze der Handlung verweisen. Eine zentrale Rolle fällt darin Duparquet zu, dem Rechnungsprüfer der Markthallen, der sich überraschend als Rodolphe aus Murgers Vie de Bohème zu erkennen gibt und auf Anfrage mitteilt, dass auch seine drei Künstlerfreunde mittlerweile Staatsbeamte geworden sind. Im deutschen Sprachraum haben Egon Friedell und Alfred Polgar etwas Ähnliches versucht wie Hahns Librettisten Robert de Flers und Francis de Croisset: die als solche bezeichnete „Muster“operette Der Petroleumkönig oder Donauzauber (1908).
Weitere Kapitel des Buches widmen sich der Affinität der Operette zum Märchen und zur Kolportage, untersuchen die zahlreichen Spielarten von Erotik und Humor in diesem Genre und verfolgen Spuren zeitgenössischer Realität in verschiedenen Libretti. Ein relativ knapp gehaltener Ausklang verbindet eine Hommage an Fritzi Massary, der kreativen Interpretin, mit Aspekten der Aufführungsgeschichte der folgenden Jahrzehnte. Interessant ist der Hinweis auf das Pasticcio Frou-Frou-les Bains von Patrick Haudecoeur (2001), von dem es auch eine deutsche Version gibt: Eine Meta-Operette mit Versatzstücken aus französischen und deutschen Werken.
Für den Romanisten Gier bieten sich vor allem die französischen Beispiele der Gattung für genauere Analysen an – neben den Werken Offenbachs und Ciboulette sind das Victor Rogers Joséphine vendue par ses soeurs und Maurice Yvains „Pas sur la bouche“ (1925). Das letztgenannte Stück, an dem die Erotik in der Operette exemplifiziert wird, ist bei uns allerdings unbekannt geblieben und auch seine prominent besetzte Verfilmung durch den großen Cinéasten Alain Resnais (2003) kam nie ins deutsche Kino; es gibt davon eine bei Pathé veröffentliche DVD, die allerdings keine deutschen Untertitel enthält.
Die Dramaturgie gerät in diesem zitaten- und fußnotenprallen Werk gegenüber der Poetik ein wenig ins Hintertreffen. Aspekte der Bühnenwirklichkeit werden nur angerissen. Wie die Stücke aufgebaut sind, wie sich Text und Musik, Gesang und Tanz zueinander verhalten, mit welchen Mitteln komische und sinnliche Wirkungen erzielt werden, mit einem Wort: wie diese Stücke „funktionieren“ – dem geht Gier nur am Rande nach. Dafür bietet er ein riesiges Kompendium der in den Libretti verwendeten Topoi; dabei werden einige hundert Titel angetippt, von denen auch der fortgeschrittene Operettenfreund noch nie gehört hat und die er höchstwahrscheinlich auch niemals zu hören geschweige denn zu sehen bekommen wird.
Ekkehard Pluta
„Wär’ es auch nichts als ein Augenblick“ : Poetik und Dramaturgie der komischen Operette / Albert Gier, Bamberg: Univ. of Bamberg Press, 2014, (Romanische Literaturen und Kulturen ; 9), ISBN 978-3-86309-258-0