Ungekürztes aus den USA

Cherubini: Médée mit Phyllis Treigle/Médee, Carl Halvorson/Jason, David Srnold/Créon u. a.; Brewer Chamber orchestra, Chorus Quotannis, Bart Folse/Dirigent; Newport Classc 2 CD NPD 85622/2

 

Médée bei Newport Classic

Médée bei Newport Classic

Cherubinis Médée ist in den vergangenen Jahren ab und zu und nur hier und da aufgeführt worden, die Deutsche Oper Berlin hatte eine kurze Serie vor ein paar Jahren (Denia Mazzola und Iano Tamar arbeiteten sich wenig erfolgreich durch die Titelpartie auf Koffern sitzend), in Brüssel versuchte sich kürzlich Nadja Michael mit mehr physischem Einsatz als stimmlicher Überzeugung daran, in Martina Franca (davon eine CD 2004 bei Nuova Era) und Montpellier nahmen sich mit einer der beiden erstgenannten Damen des Werke an – und immer wurde im Dialog geschnitten und bearbeitet, was sich rächt, denn wie stets bei diesen Werken geht das zu lasten der Balance und des Impakts. Es ist ja vor allem bei diesen empfindlichen französischen Stücken die Sprache das Entscheidende – Racine grüsst und die Comédie francaise, in deren Gefolge Francois-Benoît Hoffmann seine Alexandriner, achtfüßige Verse, schrieb. Diese werden fast immer gestrichen, bearbeitet („modernisiert“ wie in Brüssel), verkürzt und leiden natürlich an der mangelnden Diktion von Nichtfranzosen – einzig die unter den DVDs besprochene Videoaufnahme mit Michele Command/Francine Berger bietet ideale sprachliche Bedingungen, sind doch die Dialoge mit führenden Mitgliedern der Academie francaise besetzt, die ihre Alexandriner rollen und spucken und deklamieren wie ein Theaterstück des 17me siècle.

Luigi Cherubini

Luigi Cherubini

Und auch gesanglich hat die Oper ihre Tücken. Nicht nur dass der Wechsel von Sprache zu Gesang für die Sänger live schwierig ist, sondern mindesten die Titelpartie und der Tenor Jason haben unangenehme Tessituren in ihrer Partien, werden sehr extrem geführt und sind eben dem noch nicht so lange zurückliegenden Barock verpflichtet. Médée selbst geht im Laufe des Stücks ganz wörtlich die Sprache aus.Hat sie im ersten Akt fast nur Sprechpassagen, so verschieben sich diese zu Gunsten des Gesangs im letzten Akt gegen Null – Singen ist ihr Gefühl, Sprache ihre Verstellung – was für eine faszinierende Dramaturgie, und Cherubini hat mit dieser Oper von 1797 sein absolutes opus summum geschaffen, außerordentlich modern und packend, allein schon die Ouvertüre, die wie ein Sturmwind das Geschehen ankündigt.

Zu der bereits erwähnten Video-Ausgabe aus Compiegne bei DOM findet man keine wirklich überzeugende Alternative, zumal auch dort extrem gut gesungen wird, totalment francais. Aber bei der wagemutigen amerikanischen Firma Newport Classic gibt´s doch eine sehr empfehlenswerte CD-Aufnahme unter Bart Folse, der temperamentvoll originale Instrumente einsetzt, vielleicht weniger Impakt als in Compiegne entwickelt (dort aber waren´s ja auch moderne Instrumente) und der eine ganz fabelhafte und für Amerikaner sprachlich hervorragend geschulte Sängerequipe vorweisen kann, die sich mit Elan in eine absolut ungekürzte Médée stürzen (ungekürzt heisst hier auch alle Wiederholungen, notierten Appoggiaturen, Kadenzen und napoleonischen Märsche). Allen voran die interessante Phyllis Treigle mit charaktervollem, mutigem und weitreichendem Sopran, die junge Thais St. Julien als süsse Dircé und die wackere D´Anne Fortunato als besorgte Néris. Die Herren haben nicht ganz das Kaliber ihrer Partnerinnen, aber Newport-Patron John Ostendorf (stets einer meiner Lieblingssänger) gibt einen sonoren Coryphée, Vater Créon ist mit David Arnold gut und

Szene mit Médée, Néris und den Kindern auf der Flucht vom Frontespiece der Erstaugabe 1797/HeiB

Szene mit Médée, Néris und den Kindern auf der Flucht vom Frontespiece der Erstausgabe 1797/HeiB

Jason mit Carl Halvorson ebenfalls mehr als ausreichend besetzt. Das schmalere Klanbild (durch die Originalbesetzung) lässt Cherubinis Oper transparenter, weniger grand-opéra-mäßig und mehr im musikhistorischen Kontext erscheinen, was ein Verdienst ist, sind wir doch sonst die rumsigen  Orchester einer Callas-, Borkh- oder (brrrrrr) Jones-Aufnahme gewöhnt, die wegen ihrer Lachner-Verhunzungen als Werk indiskutabel, und nur als Vehikel für die Diven ihre Wirkung haben.

Ich selber würde als erste Empfehlung immer bei dem Video aus Compiegne blieben, aber als rein studio-akustisches und vor allem als ehrenrettendes musikhistorisches Dokument ist die Newport-CD doch von enormer Wichtigkeit. (Und Finger weg von der Aufnahme aus Brüssel mit Nadja Michael und Kollegen auf dem nicht nur optisch abscheulichen Video von BelAir, da stimmt einfach gar nichts! Aber auch der alte EMI-Querschnitt mit der grotesken Rita Gorr in der Titelpartie ist zu meiden – weil schlicht monströs und das Werk vernichtend, nur Andrée Esposito als bezaubernde Dircé bleibt in Erinnerung.)

Geerd Heinsen