Das ist wirklich eine „fantasioistische“ Geschichte: rund 140 Jahre nach ihrer Uraufführung wurde im Dezember 2013 Jacques Offenbachs opéra-comique Fantasio in der Londoner Henry-Wood-Hall erstmals wieder in authentischer Form geboten (konzertant), nachdem in den Jahren zuvor verlässliches Notenmaterial aus teilweise obskuren Quellen und Adressen zusammengetragen werden konnte. Spiritus Rector bei diesem Unternehmen ist der Offenbach-Forscher Jean-Christophe Keck, dem einige Offenbach-Nachkommen ihre Archive öffneten, andere sich aber auch verweigerten. Kecks Recherchen gleichen einer Dedektivgeschichte, die sich fraglos noch einige Geheimnisse aufbewahrt. Wie soll aber auch ein Werk rekonstruiert werden, dessen Notenblätter nicht nur in alle Winde zerstreut wurden, sondern sogar als „in memoriam“-Schnipsel von Freundeshand zu Freundeshand gingen? Man mag es kaum glauben.
Keck ist nicht nur Offenbach-Dedektiv, sondern vor allem Offenbach-Enthusiast, der seine Arbeit mit Herzblut betreibt. Welch eine Befriedigung muss es für ihn bedeuten, dass nun die Londoner Aufführung auf CD zugänglich ist, bei einem der bestmöglichen Label für solche Spezialitäten, nämlich Opera Rara. Offenbach tauchte im Firmenkatalog immer wieder mal auf, so 1977 mit Christopher Columbus und 2008 mit Entre nous. Celebrating Offenbach, einem Querschnitt durch unbekannte Werke. So ist das Engagement für Fantasio nur logisch. Als Marc Minkowski vor zwei Jahren mit seinen Musiciens du Louvre-Grenoble eine Offenbach-Tournee absolvierte, berücksichtigte er aus der Oper die wunderhübsche Ballade à la lune. Diese Nummer, bei Opera Rara auch in einer Alternativ-Version vorhanden, könnte als Schlüssel für Offenbachs individuelle Handschrift bei diesem Werk herhalten, weitab von den vielen (für sich genommen köstlichen) Bouffe-Spektakeln. Die Nummer beginnt mit einem filigranen Holzbläser-Satz, später geben ihr die Fagotte eine besondere, leicht melancholische Farbe. Der 1. Akt enthält ein Duett, bei der sich Prinzessin Elsbeth und Fantasio ansingen, ohne sich zu sehen. Ihre gemeinsame Szene im 3. Akt tendiert mit wagemutigen Harmonien und sensibler Orchestrierung noch stärker in Richtung Oper, so dass man geneigt sein könnte, die Gattungsbezeichnung opéra–comique in opéra–lyrique zu ändern.
Das Sujet (nach Alfred de Musset) ist fraglos etwas kompliziert. Der König von Bayern will seine Tochter Elsbeth mit dem Prinzen von Mantua vermählen, eine politische Transaktion Als der Student Fantasio die junge Frau sieht, verliebt er sich sofort in sie. Im Kostüm des gerade verstorbenen Hofnarren gelingt es ihm, sich ihr zu nähern, wobei sich auch ihrerseits zarte Band knüpfen. Fantasio vereitelt Elsbeths Hochzeit, deren Vorbereitungen ohnehin als Verkleidungsfarce ablaufen (der Prinz von Mantua und sein Diener Marinoni tauschen ihre Gewänder). Für seine Frechheit wandert Fantasio ins Gefängnis. Doch er wird begnadigt, als er – der mutige Träumer – einen Krieg zwischen den Staaten zu verhindern weiß. Elsbeth steckt ihm den Schlüssel zu ihren Garten zu. Heimliche Aufforderung …
Als die Oper 1994 in am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen zur Aufführung kam (Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk, Dirigent: Shuya Okatsu, Regie: Christof Loy), wurde der Schluss anders interpretiert, wenn einem Zeitungsbericht von damals zu glauben ist. Kein Happy End, weil Elsbeth ihren Märchenprinz haben möchte, keinen wenn auch noch so netten jungen Mann aus niederem Stand. Doch auch diese Handlungsvariante ist keineswegs übel, wie auch die Gelsenkirchener Fantasio-Besetzung mit einem Tenor (Thomas Piffka) nicht nur eine mögliche, sondern eine weiterhin überlegenswerte ist. Sie entspricht Offenbachs erster (für den Sänger Capoul konzipierter), dann freilich verworfener Fassung. Bei der Pariser Uraufführung 1872 wurde die Partie dann für Célestine Galli-Marie umgearbeitet, drei Jahre später Bizets Carmen. So wunderbar in der Opera Rara-Aufnahme die Stimmen von Sarah Connolly (Fantasio) und Brenda Rae (Elsbeth) auch verschmelzen: Der Theaterinstinkt plädiert für einen Tenor. Aber wir wollen nun wirklich nicht schlauer sein als Monsieur Offenbach.
Die jüngste Aufnahme im heimischen Frankreich war 2000 in Rennes unter Claude Schnitzler (mit Martial Defontaine, Jane Roulleau u. a.). Bei Opera Rara sorgt nun Mark Elder mit dem Opera Rara Chorus (Renato Balsadonna) und dem Orchestra of Enlightenment für angemessenen Offenbach-Zunder, aber auch für Delikatesse, welche gerade bei diesem oft doch sehr zarten Werk für die richtige Atmosphäre sorgt. Sarah Connolly verkörpert die Titelparte untadelig, ohne freilich mit einem wirklich individuellen Timbre aufwarten zu können. Der kapriziösen Elsabeth gibt Brenda Rae viel Empfindsamkeit mit und meistert selbst vertrackteste Koloraturen. Sehr gut auch das Gespann Russell Braun/Robert Murray (Prinz von Mantua/Marinoni). Die anderen Mitwirkenden (Victoria Simmonds, Brindley Sharrat, Neal Davies, Gavan Ring, Aled Hall) gehen meist in den Ensembles unter (.2 CD Opera Rara ORC 51).
PS.: Zur Gelsenkirchener Aufführung (bei welcher übrigens auch der heute als Wagner-Tenor geschätzte Torsten Kerl mitwirkte) wäre nachzutragen, dass sie erfolgreich verlief, auch wenn ihr ein Hang zu grellen Wirkungen angekreidet wurde. Ansonsten gehört zur bescheidenen Rezeptionsgeschichte des Werkes noch eine Hamburger Rundfunkeinspielung von 1959 (Keck) oder 1957 (Notiz zu einer historischen HörZu-Programmseite). Sie wurde von Wilhelm Stephan geleitet, beim NDR damals zuständig für Operette. Die Sänger waren Sigmund Roth, Valerie Bak, Helmut Krebs, Karl Hoppe, Willy Hofmann (an welchem Sender sang der eigentlich keine Operette?), Gisela Litz, Horst Günter, Rupert Glawitsch und Karl Otto.
Am 13. und 18. Dezember 2014 wird das Badische Theater Karlsruhe den „neuen“ Fantasio szenisch zur Aufführung bringen. Von einem Erfolg dürfte der weitere Weg der Oper nicht wenig abhängen. Aber es stehen immerhin Andreas Schüller von der Dresdner Staatsoperette als Dirigent und der einschlägig versierte Regisseur Bernd Mottl zur Verfügung
Christoph Zimmermann