Eigentlich ist es ja schön, Leserbriefe zu bekommen, und eigentlich freut sich jeder Zeitungsmacher (oder Blog-Betreiber in diesem Fall), wenn die „abgedruckten“ Artikel gelesen werden und auch widersprüchliche Reaktionen hervorrufen. Schön, die eigene Eitelkeit freut sich auch, stimmt. Leserbriefe/mails sind ja oft erfrischend, zeigen eine andere Meinung, tragen zur Diskussion bei, bereichern auch. Niemand ist im Besitz der Wahrheit, jeder hört anders, und viele Augen sehen mehr. Aber weniger erfreulich ist es, wenn jemand seine partisanenhaften Vor- oder Unlieben öffentlich und dabei wenig liebenswürdig austragen will und auch noch anonym bleibt. Und mit herben Worten Berichterstatter oder Künstler verunglimpft. So eine rabiate Stimme aus dem Nirgendwo, bei der nicht einmal immer die angegebene Absenderadresse funktioniert.
Warum wird bei vor allem Opern- und Stimmenfans die Sprache so schnell unfreundlich? Konzertbesucher reagieren gelassener und höflicher, sie konzentrieren sich mehr auf die Sache selbst, bringen sich nicht so in den Vordergrund wie viele Opernbesucher. Ich hab noch nie im Konzert einen Buhsturm erlebt. Missfallen wird da leise, diskreter geäußert. Bei Opernaufführungen, aber besonders in vielen Vokal-Chat- und -Sammler-Gruppen habe ich oft beobachtet, dass Teilnehmer – die nicht derselben Meinung sind wie der Schreibende – sich im Ton vergreifen, sehr schnell persönlich werden. Und das durchaus beleidigend. Ist es die Anonymität des Netzes, die das hervorbringt? Ich habe das Gefühl, dass das Internet als Therapieinstrument funktioniert, dass manche Menschen dort sich anders verhalten als im normalen Leben. Vieles spricht da für eine große Einsamkeit, für unausgetragene Konflikte, für Geltungsbedürfnis. Allein schon die Beschäftigung mit Oper und Gesang scheidet „uns“ ja von vielen anderen, die manchmal verständnislos oder verächtlich reagieren – ob es nun Partner, Kollegen oder Bekannte sind. „Du mit deiner Oper!“ war lange Jahre doch ein Spruch, den ich selber hören musste. Da braucht man Selbstbewusstsein und Standvermögen. Und das wunderbare Gefühl, dass wir eben mit unserer Liebe zur Oper nicht allein sind, dass es andere gibt, die diese Liebe teilen, mit denen man sich austauschen, schwärmen, sich in seinen Urteilen bestätigen oder korrigieren lassen kann.
Das Internet als Therapiemaßnahme? Manchmal hat es den Anschein, wenn in einzelnen Foren Mitglieder fast gemobbt werden, die nicht dem Mainstream folgen: Diesem korrekten Denken der Stunde: Die ist toll, die nicht, der kann nicht singen, der hat doch schon seine Stimme verloren, aber der ist selbst nach 50 Jahren auf der Bühne immer noch ein Wallfahrtsobjekt. Ich denke, meine message hier ist, eine eigene Meinung zu haben, diese auch mit eigenem Namen mehr oder weniger überzeugend/persönlich darzulegen, auch witzig oder ironisch, aber den anderen gelten zu lassen, tolerant zu sein. Und mit eigenem Namen und der erkennbaren Persönlichkeit für seine Meinung einstehen. Anderer Meinung zu sein ist doch erfrischend. Nur eben unter der Gürtellinie zu mäkeln, andere nieder zu machen („Die hat ja keine Ahnung!“ oder „Der sollte nicht schreiben…!“) geht gar nicht.
Ich denke, man/ich sollte meinem Instinkt vertrauen, dass ich eben merke was mir gefällt. Eigenständig denken, nicht wie ein Schaf der Herde folgen, sondern selber für sich entscheiden, Eigenes entdecken. Und neugierig bleiben auf manches, was ich nicht kenne. Sich auch öffnen, Neues annehmen, nicht immer gleich abblocken. Anregungen folgen. Das ist wichtig. Wir, die wir die Oper lieben, sind eine so kleine (und privilegierte, weil besonders sensible) Gruppe – wir sollten uns miteinander freuen, dass es diese wunderbare Kunstform gibt. Und gute Umgangsformen ergeben sich daraus, denke ich. Oder sollten sie jedenfalls. „Horch´ die Lerche singt im Hain“, und nicht nur die. Geerd Heinsen