Und noch ein Counter-Duell

Die letzte CD-Einspielung von Händels Dramma per musica Tamerlano liegt Jahre zurück – höchste Zeit also für eine Neuaufnahme, die naïve in einer exquisiten Besetzung vorlegt und dabei die spätere Fassung (von 1731) vorstellt (V 53739). Die Titelrolle singt Xavier Sabata, der seit einigen Jahren zur internationalen Elite in diesem Fach zählt, die des Andronico Max Emanuel Cencic. Die beiden Countertenöre liefern sich ein imposantes Duell, wie das schon bei der Uraufführung des Werkes 1724 in London geschah, als sich die beiden Altkastraten Andrea Pacini als Tamerlano und Senesino als Andronico dem unmittelbaren Vergleich stellen mussten.

Die Stimme von Sabata klingt weich und schmeichelnd, was sogleich seine Auftrittsarie, „Vuò dar pace“,  die das Orchester mit gewichtigen Akkorden einleitet, hören lässt. Sie zeigt zudem seine eloquente Stimmführung, die mühelos fließenden und schmiegsamen Koloraturen. Auch das erste Solo im 2. Akt, „Bella gara“, ist erfüllt von reinem Wohlklang. Im 2. Akt gewinnt der Sänger an Vehemenz in der Formulierung der Rezitative und im Terzett mit Asteria und Bajazet, das aus der Fassung der Uraufführung übernommen wurde. Prüfstein jeder Interpretation  des Titelhelden ist die Arie „A dispetto“ im 3. Akt, mit der Derek Lee Ragin in der Erato-Einspielung von 1985 unter Gardiner Maßstäbe gesetzt hat. Dessen hysterischen Furor hört man bei Sabata zwar nicht, doch schildert er mit den aufgewühlten Koloraturen die Situation Tamerlanos eindringlich.

Auch die Stimme von Cencic wird immer runder und sanfter, was die beiden Counter freilich nicht sehr unterscheidet. Andronicos erste Arie, „Bella Asteria“, vermittelt in ihrem empfindsamen Duktus eindrücklich seine Liebe zur Tochter des türkischen Sultans Bajazet, die aber auch von Tamerlano begehrt wird. Seine Arie am Ende des 1. Aktes, „Benchè mi sprezzi“, der ein ausdrucksstarkes Rezitativ vorangeht, ist erfüllt von purem Wohllaut und geschmeidigem Fluss der Koloraturen. Rasend dagegen das „Più d’una tigre“ im 2. Akt, dessen Dramatik das Orchester mit aufgewühlten Streicherfiguren untermalt. Souverän bewältigt Cencic die Koloraturläufe und färbt die Stimme gemäß der Situation strenger und erregter. Davon profitiert auch seine Arie im 3. Akt „Se non mi rendi“. Karina Gauvin gibt die Asteria mit ihrem fraulich-noblen wie expressiven Sopran, der leuchtet und alle Stimmungen der Figur im Gesang bezwingend umsetzt. Die Innigkeit ihrer ersten Arie „S’ ei non mi vuol amar“ ist ergreifend, ebenso das „Deh, lasaciatemi il nemico“, das mit schwebenden Tönen den seelischen Zwiespalt Asterias plastisch verdeutlicht. Ihr „Non è più tempo no“ im 2. Akt ist ein bewegtes, an erregten Koloraturen reiches Stück, das die Virtuosität der Sängerin herausstellt. Mit lastend schweren, düsteren Akkorden eingeleitet wird ihre Arie im 3. Akt, „Cor di padre“, mit der Gauvin noch einmal ihre Stärke in der anschaulichen Zeichnung eines seelischen Konfliktes beweist. Eines von Händels bewegenden Duetten ist das zwischen Asteria und Andronico „Vivo in te“, indem sich die Stimmen von Gauvin und Cencic umschmeicheln und für einen der magischen Momente dieser Einspielung sorgen.

Die Rolle Bajazet, der von Tamerlano gefangen gehalten wird, schrieb Händel für den italienischen Tenor Francesco Borosini. Hier hört man John Mark Ainsley, der insgesamt eine sehr ausgewogene und kultivierte Interpretation bietet. Furios gestaltet er das erregte „Ciel e terra“, das aber stets maßvoll bleibt und nie in ein veristisches Fahrwasser gerät. Grandios ist seine Szene gegen Ende der Oper, „Empio, per farti guerra”, welche in rasenden Koloraturketten die existentielle Situation vor seinem Selbstmord beschreibt. Das folgende Arioso „Figlia mia“ ist ein bewegender Abschiedsgesang an seine Tochter, bevor das dramatische Recitativo accompagnato „Tu spietato“ eindrücklich und in lautmalerischen Effekten plastisch ausgemalt das Sterben des Fürsten schildert.

Tamerlanos Verlobte, die Fürstin Irene, ist eine Mezzorolle und mit Ruxandra Donose kompetent besetzt. Ihre erste Arie, „Del crudel che m’ha tradita“, singt sie mit dunklem Timbre energisch und drohend, da sie sich von Tamerlano verraten glaubt. Das wiegend-tröstliche „Par che mi nasca in seno“ im 2. Akt ist in seinem Ebenmaß und der hoffnungsvollen Stimmung dazu ein schöner Kontrast. „Crudel più non son io“ im 3. Akt schließlich zeigt im bewegten Fluss der Koloraturgirlanden die Virtuosität der Sängerin. Der Bass Pavel Kudinov bringt als Leone eine dunkle Farbe ein und trumpft in „Amor dà guerra“ mit sonorer Stimme gebührend auf, beweist mit den getippten Koloraturen seine Eignung für das barocke Idiom. Bei der Wiederaufnahme des Werkes 1731 sang statt Giuseppe Maria Boschi der hoffnungsvolle Bassist Antonio Montagnana diese Rolle und bekam vom Komponisten die (ursprünglich für Riccardo Primo geschriebene) Arie „Nel mondo e nell’abisso“ zugeteilt. Kudinov singt sie eloquent und souverän im Durchmessen der Tessitura. Riccardo Minasi leitet das Ensemble Il Pomo d’oro mit viel Gespür für Farben, Stimmungen und Rhythmus. In die nicht sehr große Zahl der Aufnahmen dieser Oper reiht sich die Neuveröffentlichung bei naïve prominent ein.

Bernd Hoppe

Georg Friedrich Händel: Tamerlano (Sabata, Cencic, Ainsley, Gauvin, Donose, Kudinov, Il Pomo d’oro, Riccardo Minasi) naïve V 5373, 3 CD