Ist das wirklich ein Nachruf, ein Nachruf auf die Zoppoter Waldoper, wie es gleich zu Beginn heißt? Nach der Lektüre von Einhard Luthers Buch hatte ich eher den Eindruck, eines der spannendsten Kapitel deutscher Kulturgeschichte würde – um im Bilde zu bleiben – wachgerufen. Auch wenn im heutigen Polen wenig Interesse an diesem Stück unbequemer Vergangenheit besteht, was der Schriftsteller auch sehr deutlich zum Ausdruck bringt, ist mit dieser Spielstätte eine der kühnsten Theatervisionen verwirklicht worden – die Opern Richard Wagners unter freiem Himmel. Der Titel des Buches: Die Zoppoter Waldoper – Das Bayreuth des Nordens.
Kenner erinnern sich gut, dass mit gleichem Titel bereits vor Jahren bei Preiser (89406) ein ebenfalls von Luther herausgegebene CD-Sammlung erschienen ist, die auch noch zu haben sein dürfte. Darin sind an die hundert Sängerinnen und Sänger versammelt, die zwischen 1910 und 1944 auf der sagenumwobenen Freilichtbühne aufgetreten sind. In vielen Fällen wurde Aufnahmen mit Rollen gefunden, die sie dort gesungen haben. Es ist ein Jammer, dass es keine Mitschnitte aus Zoppot gibt. Lediglich ein kurzer Wochenschau-Bericht über den „Tannhäuser“ von 1939, der wenig rüberbringt, ist erhalten. Die erste Rundfunkübertragung des „Lohengrin“, in der 1926 Gertrud Bindernagel die Ortrud sang, ist nicht auf Band oder anderen Tonträgern überliefert. Technisch wäre das damals wohl auch noch nicht möglich gewesen.
Nun also das Buch. Es birst vor Fakten. Anekdotisch untermalte Beschreibungen, Zeitzeugenberichte, zeitgenössischen Kritiken und Fotos. Luther hat über Jahrzehnte hinweg alles zusammengetragen, was mit seinem Thema auch nur annähernd zu tun hat. Aus Erinnerungen von Sängern fischte er die entsprechenden Passagen heraus, etliche hat er noch selbst befragen können. Irrtümer werden richtiggestellt. Was ich mir bisher nicht vorstellen konnte, wie nämlich Wagner wirklich geklungen haben mag auf dieser Freilichtbühne – die inzwischen völlig umgebaut wurde – davon habe ich nun eine sehr lebhafte Vorstellung.
Es rauscht und singt aus diesem Buch heraus als käme es von Instrumenten und aus menschlichen Kehlen.
So zwingend und so genau ist der vom Autor vermittelte Eindruck von der legendären Akustik und dem malerischen Ambiente. Wenn erforderlich, wurden naturgetreue Felsen, Hütten, Höhlen oder Burgen auf die nach hinten ansteigende Waldlichtung gewuchtet. In Massenszenen waren wirklich Massen unterwegs, die nur nach Hunderten zu zählen sind. Wo auf dem Theater Dämmerung mit Scheinwerfern erzeugt werden muss, hat es sie dort wirklich gegeben. Keiner der Mitwirkenden und der Zuschauer – das wir immer wieder deutlich – konnte sich diesem Zauber entziehen.
Bilder tun in dem Buch das Übrige. Es gibt kaum eine Inszenierung, von der nicht mehrere Szenenfotos zu sehen sind, meist wie gestochen scharf. Sie haben oft die richtige Größe, um auch Details genau erkennen zu können. Rührend sind die so genannten Familienfotos, auf denen Mitwirkende vor oder nach Vorstellungen posieren. Bei Einhard Luther versteht es sich von selbst, dass alle Sänger der tragenden Rollen – und das sind nicht wenige im Laufe der insgesamt 34 Jahre – ihr eigenes Porträt haben
Am Ende des Buches sind alle Vorstellungen, auch die beliebten Waldopernkonzerte mit sämtlichen Besetzungen genau aufgelistet. So wird auf einen Blick offenbar, warum sich die Gralshüter in Bayreuth vor dieser Konkurrenz fürchteten (399 Seiten, zahlreiche Fotos, Verlag Pro Business, ISBN 878-3-86805-544-3).
Rüdiger Winter