Immer öfter wird in Deutschland der Name des jungen italienischen Dirigenten Matteo Beltrami erwähnt, der Aufführungen des italienischen Repertoires in Darmstadt, Essen, Lübeck und Dresden dirigiert hat. .
Ein paar Worte zum Werdegang und zur Berufswahl? Ich bin in Genua geboren, und mein Vater war Orchestermusiker. Er spielte Posaune im Teatro Margherita, das damals als Ersatz für das im Krieg zerstörte Teatro Carlo Felice diente. Als ich mir als Fünfjähriger eine Geige wünschte, war er natürlich überglücklich und hat mir sofort eine besorgt. Um die Wahrheit zu sagen, liebte ich dieses Instrument dann nicht sehr, aber um meine Familie nicht zu enttäuschen, studierte ich das Geigenspiel weiter. Das Üben war nicht leicht, wenn meine Freunde spielten oder Sport betrieben! Am Konservatorium war ich dann Jahrgangsbester, und ich habe auch das Glück, ein absolutes Gehör zu besitzen. Während des Studiums wurde mir klar, dass mich mein Weg zur Orchesterleitung führen würde, auch weil ich eine angeborene natürliche Gestik habe. Die Technik des Dirigenten als solche ist ja viel weniger umfangreich als die eines Instrumentalisten. Es geht eher darum, dass man charakterlich dafür begabt ist. So führte mich die Hassliebe zu meinem Instrument zu dem Beruf, in welchem ich mich am besten ausdrücken kann.
Was braucht es heute, um Autorität beim Orchester zu erlangen?: Es gibt Dirigenten, die von Natur aus für ein gutes Verhältnis zum Orchester veranlagt sind, andere von Natur aus für ein schlechtes. Das ändert natürlich nichts am künstlerischen Wert des Dirigenten, doch kann dieser Punkt ein gutes Ergebnis der Arbeit mit dem Orchester gefährden, wenn sich die Musiker nicht wohlfühlen. Der Dirigent sollte jedenfalls nach seinen Einfällen beurteilt werden. Jeder kann, wie alle großen Dirigenten der Vergangenheit, Orchester haben, mit denen er besser arbeitet, mit mehr feeling, als mit einem anderen.
Wir entfernen uns also immer mehr von einem Vorbild à la Toscanini im Sinne eines allmächtigen Tyrannen…? Nun, heute kann ein solches Modell nicht mehr existieren, weil die Musiker die Macht haben, einen solchen Dirigenten abzulehnen. Der Mythos vom allseits akzeptierten Dirigenten ist aber meiner Meinung nach ohnehin Utopie. Es gibt, auch unter den Großen, keinen, der niemals Probleme hatte. Ist es richtig, wenn zum Orchester ein Spannungsverhältnis besteht? Wenn damit ein entsprechendes Ergebnis erzielt wird, ist es akzeptabel, aber persönlich halte ich nichts von dieser Art der Kommunikation und würde vermutlich als erster von einer solchen Form der Machtausübung zermürbt. Natürlich muss es eine gewisse Autorität geben, aber die kann auch auf Kooperation beruhen.
Welchen Unterschied haben Sie – auch in der Farbe – zwischen italienischen und deutschen Orchestern gespürt? Im allgemeinen ist der Klang italienischer Klangkörper heller, der deutscher Orchester dunkler und kompakter. Es gibt natürlich Besonderheiten. Ich versuche, den spezifischen Klang eines Orchesters für meine interpretatorischen Vorstellungen zu nutzen. Als Beispiel nenne ich Verdis Macbeth, den ich in Lübeck dirigiert habe: Hier gab es zum Beispiel den dunklen Klang des Blechs, den ich optimal für die dunkelste Seite des Werks nutzen konnte, wie die Hexenszenen oder die Geistererscheinungen.
Eine spezielle Unterscheidung liegt natürlich auch im Vergleich zwischen Repertoire- und Stagione-System. Spielten vor 40-50 Jahren die italienischen Musiker in verschiedenen Orchestern, kannten sie ständig an den diversen Häusern gespielte Werke wie Rigoletto, Traviata oder Bohème in- und auswendig und konnten sich dem jeweiligen Dirigat anpassen. Heute wird ein Werk, wenn es ein Jahr nach der Neuproduktion wieder in den Spielplan aufgenommen wird, von A bis Z neu geprobt, und die Interpretation bleibt damit unverändert. Im deutschen Repertoirebetrieb läuft das klarerweise anders. In Italien ist es das Teatro La Fenice in Venedig, das mit seiner Mischung aus einer Reihe von Neuproduktionen und regelmäßig jedes Jahr gespielten Titeln ein gutes Vorbild für die bekanntlich mit Schwierigkeiten kämpfenden anderen Häuser wäre.
Wie ist Ihre Haltung gegenüber Musikwissenschaft, Aufführungspraxis, Originalinstrumenten und Strichen? Was heute in einigen Fällen als Philologie ausgegeben wird, müsste gesetzlich verfolgt werden (lacht). Im Ernst: Opern des Belcantorepertoires sklavisch notengetreu zu spielen, wie sie geschrieben wurden, ist genau das Gegenteil von Philologie. Bevor man mich der Arroganz gegenüber dem Komponisten bezichtigt, ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit: Die italienische Oper wurde zunächst vom Komponisten am Klavier geschrieben, der dann aber bei den Proben dabei war, während derer er Änderungen vornahm. Bei Reprisen machte er neuerlich Änderungen, und nicht immer war Ricordi zur Stelle, um sie offiziell zu machen. Es heißt immer wieder, dass Verdi sich über Änderungen beklagte, aber wir ersehen aus seinem Briefwechsel, dass es um eine Verzerrung des Inhalts, des Titels usw. ging. Niemand kann mir einreden, dass Verdi dagegen war, wenn ein Sänger mit guter Höhe eine cabaletta mit einem Spitzenton abschloss, um dem Publikum zu gefallen.
A propos cabaletta. Warum wurde sie wiederholt? Um sie mit Variationen zu singen, sonst wäre die Wiederholung ja sinnlos gewesen. Und diese Variationen müssen geschmackvoll sein und der Entstehungszeit des Werks entsprechen. Dafür muss man dieses Repertoire sehr gut kennen, und es ist meiner Ansicht nach Aufgabe des Dirigenten – damals machte das der Komponist, der sein Werk sehr oft selbst leitete. Als Beispiel nenne ich Lucia di Lammermoor, wo mit der Titelrollensängerin eine neue Kadenz zu erarbeiten wäre. Es gibt ein Buch mit schon bestehenden Kadenzen, und aus Bequemlichkeit wird eine von ihnen ausgewählt. Aber früher war das nicht so: Die Vorstellung, eine Primadonna würde dieselbe Kadenz singen wie ihre Rivalin kurz zuvor, war völlig unmöglich. Es gilt auch zu bedenken, dass die Werke damals nicht als für die Ewigkeit geschrieben erachtet wurden. Denken Sie nur an Rossini und seine Eigenverwertung. Wenn eine Oper keinen Erfolg hatte, wurde sie abgesetzt und vergessen. Konnten die Sänger dazu beitragen, sie im Spielplan zu halten, so wurde ihnen das erlaubt. Verdi und Donizetti wussten sehr genau, worum es ging. Den Bedürfnissen der Bühne muss entsprochen werden. Das ist Musiktheater und das ist wahre Philologie!
Natürlich muss zugestanden werden, dass die Form der „sogenannten Philologie“ auch eine Reaktion darauf war, dass nicht nach den Bedürfnissen der Bühne und überhaupt übertrieben gestrichen wurde, sondern schlicht und einfach, weil man etwas „hässlich“ fand. Das ist natürlich kein guter Grund. Nur weil die Cabaletta des Germont nicht eine von Verdis besten Kompositionen ist, darf das natürlich nicht zu einem Strich berechtigen. (Im übrigen wiederhole ich, dass sich meine dezidierte Meinung zur Philologie auf die Belcanto-Opern des 19. Jahrhunderts bezieht. Mit Puccini und Co. hat das natürlich gar nichts zu tun).
Mit Originalinstrumenten haben Sie bislang noch keine Erfahrung? Nein, aber es kann schon sehr interessant sein. Dennoch ist auch zu bedenken, dass auch das Studium sich verändert hat, dass man sich im Konservatorium heute eine andere Technik aneignet als früher, dass wir nie sagen werden können „So war das damals“. Bei bestimmten Autoren ist es interessant, möglichst ähnliche historische Bedingungen zu schaffen. Aber es ist falsch, wenn behauptet wird, nur auf diese Weise könne man beispielsweise Mozart gerecht werden.
Wie nähern Sie sich einem neuen, Ihnen unbekannten Stück? Ich bin keiner, der die Partitur sogleich verschlingt, obgleich ich natürlich eine Oper bei kurzfristigen Anfragen auch in einer Woche studieren kann. Im Unterschied zu Kollegen, die das nicht lieben, höre ich mir zunächst so viele Aufnahmen als möglich anderer Dirigenten an. Ich möchte erfahren, was andere, die viel berühmter sind als ich, die schon Geschichte geschrieben haben, zu einem bestimmten Werk zu sagen hatten. Denn wenn man eine Oper zwar kennt, aber noch nicht wirklich studiert hat, ist der Kopf auch freier für von den Aufnahmen ausgehende Botschaften. Ab dem Moment, wo ich mir eine eigene Vorstellung mache, höre ich keine Aufnahmen von anderen mehr, weil ich dann meinen Weg alleine gehen will. Ich beginne dann langsam mit 1-2 Seiten pro Tag. Ich bin ja kein Pianist und spiele sehr schlecht Klavier, also singe ich und stelle mir die Musik einfach vor. Langsam kommt dann, ohne Nötigung, der Punkt, an welchem ich meine eigene Vorstellung zu konstruieren beginne von dem, was ich ausdrücken will, und bündele meine Konzentration darauf hin.
Gibt es Titel, die Sie aus reiner Lust für sich selbst studiert haben oder nur solche, die man Ihnen angeboten hat? Oft läuft das parallel oder wie voriges Jahr bei Falstaff, klarerweise ein Titel, mit dem sich für mich ein Traum erfüllt hat. Ich fühlte mich reif genug für eine erste Interpretation, und die Ergebnisse haben mich sehr befriedigt. In der Vergangenheit habe ich ein paarmal etwas abgelehnt, weil ich mich dafür noch nicht bereit fühlte. Natürlich kann man mit dem Studium eines Titels einfach so zuhause beginnen, aber bestimmte Probleme und Schwierigkeiten sieht man erst, sobald man am Pult steht. Am grünen Tisch verbergen sie sich und überraschen einen erst in der Praxis. Überhaupt unterscheidet sich die erstmalige Übernahme eines Werks sehr von solchen, die ich schon sehr gut kenne, weil ich sie geleitet hatte. Da habe ich schon die Streu vom Weizen getrennt, und der Teig ist richtig, um eine gute Pizza zu machen. Das gilt speziell für das Opernrepertoire, denn bei symphonischen Stücken ist es leichter, a priori eine Idee zu haben und diese auch durchzuziehen. In der Oper bestehen Faktoren wie die Bühne, die Entfernung, nicht zuletzt die Sänger (lacht). Jedenfalls gibt es je nach Stück tragische oder komische Tempi oder Stellen, wo die Spannung erhöht werden muss. Lauter Dinge, die man in der Theorie nicht vorhersehen konnte: Bei dem erwähnten Falstaff hatte ich das Glück von fast einem Monat Probenzeit, und ich habe an dem, was ich mir vorgenommen hatte, sehr viel geändert. Das war keine Niederlage für mich, sondern im Gegenteil ein großer Gewinn.
Sie haben sehr jung begonnen, sodass Sie vermutlich nichts von den vielen Zwischenfällen, zu denen es im Opernhaus kommen kann, mehr erschüttern kann…?… Ich glaube, ich habe eine Entwicklung wie viele frühere Dirigenten zurückgelegt, also wirklich von der Pike auf gelernt. Wenn man bedenkt, dass meist über 150 Personen mit einem Opernabend zu tun haben, müssen unerwartete Situationen mit eisernen Nerven beherrscht werden. Ich habe das ja oft gesehen, wie es ist, wenn in Augenblicken der Panik der Dirigent für alles verantwortlich ist. Da gibt es keinen Regisseur oder anderes mehr. Wenn etwas schiefgeht, sieht der Sänger ausschließlich auf den musikalischen Leiter, auch das Orchester erhebt sofort die Augen. Nur vom Dirigenten und seinem kalten Blut hängt es ab, ob weitergespielt wird oder nicht. Das ist keine Frage von Genie oder Musikalität, sondern ausschließlich eine solche der Erfahrung. Mit Kunst hat das nichts zu tun. Diese Erfahrungen kann man nur machen, wenn man sich von ganz unten hinaufdient. Ein Debüt als Zwanzigjähriger war in Italien vor einigen Jahren etwas sehr Seltenes. Ich habe das als Privileg betrachtet.
Und wo sehen Sie sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren? Ich liebe meine Arbeit sehr, das Dirigieren ist für mich zuallererst ein Quell des Vergnügens. Das bedeutet nicht, dass ich mich für vollkommen halte und nichts mehr zu lernen brauche. Ich möchte weiterlernen, auch experimentieren, aber weiter mit Vergnügen musizieren. Ich möchte auch bei Opern, die ich schon geleitet habe, gegensätzliche Ideen umsetzen, denn es nähert sich zwar der Vierziger, aber ich verspüre immer noch einen jugendlichen Überschwang, der mir nicht immer verziehen wurde. Von Dirigenten meiner Generation wird ständig ein Ergebnis erwartet, das es nicht erlaubt, auch Experimente anzustellen. Das ist ein Problem und kastriert die Kreativität. Ich denke, dass es möglich sein muss, auch Wagnisse einzugehen. Ich beziehe mich hier im besonderen auf Italien, denn in Deutschland ist man gegenüber neuen interpretatorischen Ansätzen toleranter.
Und gibt es einen Ausgleich zum Beruf? Was mich betrifft, halte ich es für richtig, dass das Studium nicht über meinen ganzen Tag geht. Ich bin der Meinung, dass man für eine Interpretation auch Anregungen aus einer ganzen Reihe von Situationen empfangen kann, die gar nichts mit Musik zu tun haben. Es ist nicht unbedingt die Menge der dem Studium gewidmeten Stunden, die zu einer Vertiefung der Interpretation führt. Es braucht eine Tätigkeit, bei der man abschalten kann. In meinem Fall sind das – oft auch ziellose – Spaziergänge mit meinem Hund. Danach finde ich zu gesteigerter Konzentration. Wenn eine Produktion läuft, ist natürlich alles anders. Da kann es schon zu 10-12 Stunden ununterbrochener Arbeit kommen, zum Beispiel sechs Stunden Leseprobe mit dem Orchester, dann weitere drei Stunden Musikproben und noch drei Regieproben. Nachher müssen vielleicht noch weitere Probleme besprochen werden. Nach solch konzentrierten Tagen schalte ich ein oder zwei Tage ganz ohne Musik ein, ohne eine Note oder CD zu hören, also gänzlich ohne Musik. Mein Hund Goloso ist übrigens schon berühmt, denn überall stieß er auf ungeteilte Sympathie. Er liebt weibliche Stimmen, und wenn eine Sopranistin singt, hört er ihr richtig verzückt zu (Foto oben/Barbara Bellandi/Beltrami).
Adam Felix