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In der Absicht, bei seiner Ankunft in Paris – aus Neapel kommend – Aufsehen zu erregen, begann Donizetti bereits 1838 mit der Komposition der Oper Le Duc d’Albe. Es war die erste seiner vier großen Opern. Beiseite gelegt und nur zur Hälfte fertig gestellt, geriet sie in Vergessenheit. Der Komponist, der ursprünglich gekommen war, um die Stadt im Sturm zu erobern, fiel der Mächtigsten all ihrer Bewohner zum Opfer, der Diva en vogue, Rosine Stoltz, Herrscherin an der Opéra. Das Libretto zum Alba, das Donizetti auf dem Höhepunkt seiner Erfolge dem legendären Autoren-Duo Scribe und Duveyrier verdankte, ist wohl das überzeugendste aller von dem Komponisten vertonten Texte. Es handelt sich um eine höchst gelungene Dreiecksbeziehung, in der die drei Hauptpersonen Teil einer Balance zwischen Leidenschaft, Ängsten und Hoffnungslosigkeit sind und alle Opfer derselben Nemesis werden. Daher verwundert es nicht, dass dieses auf historischen Begebenheiten beruhende Werk, das eine hochplausible Handlung aufweist und gegenüber anderen Werken in nichts an Glaubhaftigkeit und Gefühl nachsteht, trotz Nichtvollendung der Oper überlebt hat, um durch eine jener unvorhersehbaren Fügungen als Libretto der Vêpres Siciliennes Verdis erneut aufzutauchen.
Der Vertrag mit der Pariser Oper wurde am 16. August 1838 unterzeichnet.Der Komponist arbeitete in den folgenden achtzehn Monaten mit Unterbrechungen an seiner Oper. Er war jedoch gleichzeitig mit der Inszenierung mindestens dreier anderer Opernstücke für die Pariser Bühne beschäftigt. Hinzu kam, dass der Direktor der Königlichen Musikakademie (Academie Royale de Musique) abgelöst wurde, was sich fatal auf den Duc d´Albe auswirkte. Der neue, impulsive Direktor Leon Pillet hatte eine Mätresse, die gefürchtete dramatische Mezzosopranistin Rosine Stoltz, die schnell allen zu verstehen gab, dass sie die prima donna assoluta sei. Donizetti hingegen hatte die weibliche Hauptrolle im Duc d´Albe für eine lyrische Sopranistin komponiert, nämlich für Julie Dorus-Gras, ihrer Todfeindin. Die Oper wurde infolgedessen aufgegeben, da es außer Frage stand, die Pariser Karriere der Rosine Stoltz mit einer brandneuen Oper beginnen zu lassen, die von ihrer Konkurrentin gesungen wurde. Statt dessen gab man nun für die Stoltz La Favorite, ein nicht ganz neues Stück, dafür aber eines der Favoriten der Pariser Bühne bis zur Jahrhundertwende. (Was man von Rosine Stoltz selbst allerdings nicht behaupten kann. Die übernahm später dann die Divenrolle der Zayda im Dom Sebastian 1843. Julie Dorus-Gras hingegen musste sich mit der Pauline in den Martyrs – Adaptation – zufrieden geben, wahrscheinlich eine zu „heilige“ Rolle für ihre Gegnerin, das monstre sacré der Pariser Opernszene.)
Die unvollendete Partitur des Duc verstaubte also in einer Schublade bis zum Tode ihres Komponisten. Im Jahre 1848 versuchte die Pariser Oper mit Nachdruck, den so wichtigen, kostspieligen und abgebrochenen Auftrag erneut anzugehen, gab die Bemühungen allerdings erneut auf, entmutigt durch den Zustand des Manuskripts. 1875 ernannte Donizettis Heimatstadt Bergamo einen Ausschuss mit dem Auftrag, die Musik zu begutachten. Der stellte fest, dass zwar der erste Akt orchestral und der zweite Akt nahezu fertig gestellt, der dritte und der vierte Akt hingegen bloße Entwürfe waren – bis auf die bis zum Ende geschriebenen Gesanglinien; für der Rest existierten nur Skizzen. Noch störender, bemerkte der Ausschuss mit Ironie, sei der Umstand, dass die Tenorarie „Ange du ciel“ entfernt und später in Donizettis Favorite unter dem Titel „Ange si pur“ wiederverwertet worden war. Und auch weitere Passagen waren offensichtlich recycelt worden. Der Herzog von Alba landete erneut in der Schublade.
Im Jahre 1881 boten die Erben Donizettis das Manuskript Ricordi an, dem schon damals alles beherrschenden Verlagshaus. Dieses aber lehnte unter dem Vorwand ab, die Vollendung des Werkes durch eine fremde Hand „schade dem guten Ruf und der Kunst des berühmten Komponisten“. Aber dank Giovannina Luccas (1810-1894), Witwe des konkurrierenden Verlegers Francesco Lucca aus Mailand, stand der Duc d´Albe wieder auf. Sie war tatsächlich sowohl physisch wie geistig eine ungewöhnliche Frau, und ihr Einfluss auf die Entwicklung der italienischen Oper ihrer Epoche übertraf weitaus den der Rosine Stoltz. Sie kaufte schnellstens das Manuskript und ernannte als kluge Strategin ihrerseits einen Ausschuss, d.h. sie beauftragte das Mailänder Konservatorium, dies an ihrer Stelle zu tun, um die Untersuchung des Manuskripts drei prominenten Komponisten anzuvertrauen (so wenig „Verdi“ wie möglich – Ricordi war Verdianer). Das Konservatorium wählte Antonio Bazzini, Cesare Dominicenti und Amilcare Ponchielli. Diese untadeligen Berater schlussfolgerten erwartungsgemäß, dass die künstlerische Integrität der Oper unversehrt und genügend vollendete Nummern und Seiten der Partitur für eine Realisierung vorhanden seien. Man brauche nur minimale Zusätze und eine „geübte und sichere Hand“, damit der Duc d´Albe „dem Publikum als unumstrittenes Werk Donizettis vorgeführt werden könne“.
Der Zeitplan der musikalischen Umsetzung sowie die kurze Zeitspanne bis zur
Wiedergeburt unter dem Namen II Duca d‘Alba zeigen, dass die gerissene Signora Lucca mit ihrem fabelhaften Urteilsvermögen in weiser Voraussicht bereits einen weiteren kompetenten und prominenten Bewohner Bergamos verpflichtet hatte, nämlich Matteo Salvi (1816-1887), einen ehemaligen Schüler Donizettis, um die nötigen Recherchen durchzuführen und die Partitur aufzufrischen. Es ist erwiesen, dass die Überarbeitung des Duca d´Alba von Salvi unter den kritischen Augen von Bazzini, Dominicenti und Ponchielli instrumentiert wurde. Das Libretto von Scribe und Duveyrier wurde Angelo Zanardini zur Übertragung anvertraut, im Hinblick auf eine Übersetzung und Umwandlung in eine italienische Oper in vier Akten, unter Beibehaltung eines Höchstmaßes an die Qualität des Originals. Die Aufgabe war nicht leicht, da die italienischen Versionen großer
französischer Opern einen schlechten Ruf hatten; Guglielmo Tell, La Favorita, I Martiri, Gli Ugonotti oder Il Profeta zum Beispiel waren wirklich unbefriedigende Neufassungen mit echten Verlusten an Sinn und Inhalt. Die italienischen Transkriptionen dieser Art tendierten allgemein dazu, die Direktheit und die französische Eigenart auszusparen und die für die italienischen Libretti typische Unschärfe zu bevorzugen, um der allgegenwärtigen Zensur zu entgehen.
Und auf musikalischer Ebene? Eine identische Wiederverwendung von beinahe
intakten, ursprünglichen Segmenten wurde wohl aus Angst vermieden, weil sie nach vierzig Jahren altmodisch wirken könnten. Dies erklärt auch, warum praktisch keine einzige Seite der Partitur identisch aufgegriffen wurde, als II Duca d’Alba 1882 endlich aufgeführt wurde. Letztendlich war Salvi (wie auch Bazzini, Dominiceti und Ponchielli) auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den vorsichtigen Gallizismen Donizettis und dem superben Instinkt der Signora Lucca – Orchestrierung, Nuancen, Handlungsablauf und Tempi, alles wurde in der vervollständigten Partitur retuschiert und weiterentwickelt, was Salvi dann auch vorgeworfen wurde. Die musikalische Klangfarbe verrät ihre Zugehörigkeit zum ausgehenden 19.Jahrhundert, und wenn dieser Aspekt der Partitur damals auch niemanden störte, so stört er doch zweifellos seitdem. Daraus darf jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass Salvi und seine Mitstreiter die Partitur Donizettis nicht respektiert hätten; es ist offensichtlich, dass sie ihr Bestes gaben, diese Oper fertig zu stellen, und viele ihrer Abänderungen und Zusätze sind nicht nur überzeugend, sondern auch inspiriert. (…)
Im Ganzen passte sich Il Duca d‘Alba mühelos den Anforderungen eines Ausstattungsstücks gemäß den historischen Pariser Opern der Epoche an, es fehlt lediglich das seinerzeit obligatorische Ballett, das nach der Einführung des ersten Aktes seinen Platz gehabt hätte. Die entsprechenden Seiten im handschriftlichen Manuskript sind leer (was darauf hinweist, dass die Ballettmusik nie komponiert und daher nicht an anderer Stelle wiederwendet wurde). Eine Detailanalyse bringt allerdings Überraschungen mit sich: Große Teile des Librettos von Scribe sind nie vertont worden und es scheint, als hätte sich der Komponist von Anfang an wenig Gedanken um die literarische Integrität des Textbuches gemacht, da er vermutlich kurz nach Beginn der kompositorischen Arbeit eine absehbare Reihe romantischer italienischer Nummern mit ausgearbeiteten Reprisen einfügen wollte. Die Wandlung der Komposition Donizettis zu einem Pariser Modell ist also weniger offensichtlich als erwartet. Es ist jedoch ersichtlich, dass die wichtigsten Arien sehr viel einfacher als üblich sind, nur wenige Fiorituren beinhalten und dass selbst in der italienischen Version die Rezitative zur Deklamation tendieren (Donizetti komponierte allerdings nur wenige von ihnen!). Die Vokal-Ornamentik stammt in diesem Fall offensichtlich von Salvi und seinem Expertentrio, wohingegen Donizetti offenbar versucht hat, die gefälligen Cabaletten italienischer Art zu begrenzen, um den französischen Geschmack nicht zu brüskieren. Salvi aber hat sie schlicht und einfach – mit einer nahezu unschicklichen Begeisterung – wieder in die Partitur des Duca d‘Alba eingefügt, was zur bedauernswerten Folge die Streichung der von Donizetti selbst geschriebenen Cabaletten und Stretten durch heutige, ein wenig zu gewissenhafte Revisoren hatte. Mit seinem Duca d‘Alba präsentierte Salvi eine Partitur ungewöhnlicher Länge. Das Teatro Apollo in Rom war anlässlich der Premiere am 12.März 1882 ausverkauft, der Eintrittspreis doppelt so hoch wie üblich, und die Königin von Italien thronte in der Mittelloge. (…) Die gesamte Inszenierung begeisterte das Publikum. In kürzester Zeit stand die Oper in Neapel, Bergamo, Turin sowie in Barcelona und Malta auf dem Programm. Doch dann, von heute auf morgen, verschwand das Werk völlig von den Spielplänen, bis zu dem Tage, an dem Fernando Previtali in den fünfziger Jahren des 20.Jahrhunderts auf einem Markt (so heißt es) in Rom die Partitur entdeckte, die der RAI-Aufführung 1951 als Grundlage diente.
Alex Weatherson
In der Folgezeit gab es nach Previtali eine knappe Handvoll von Aufführungen der italienischen Fassung, alle nach Salvi, im Falle von Spoleto durch Thomas Schippers 1959 und 1992 allerdings ganz rabiat: 1981 in Florenz unter Donato Renzetti , 1982 in New York unter Eve Queler und schließlich 2007 in Montpellier unter Enrique Mazzola (bei Accord herausgekommen – eigentlich im Original geplant und wegen der Partitur-Schwierigkeiten dann doch wieder in der Salvi-Version). Für die Neugeburt der Oper in Antwerpenim Mai letzten Jahres nun betraute man den italienischen Komponisten Giorgio Battistelli (in entscheidender Zusammenarbeit mit dem britischen Musikwissenschaftler Roger Parker) mit der Rekonstruktion, der neben einer liebevoll- werkgetreuen Aufarbeitung zu einem modern-eigenen Schluss kam. Wie Roger Parker in seinem erhellenden Text im Programmheft zur Aufführung schreibt, gab es viele Wege zu einer Neukonstruktion des Duc d´Albe, und er betont, dass es keine definite Fassung geben kann, weil die Unklarheiten/Fragmente/Alternativen zu groß sind. Die vorliegende Version Battistellis sieht nun so aus: Sie restauriert den originalen französischen Text. Wie bereits erwähnt, liegen ca 85% der Gesangslinie in Französisch durch Donizettis Hand vor, und Scribes Libretto steht für Fehlendes zur Verfügung. Die Orchestrierung von Salvi wurde weitgehend beibehalten, auch seine gelegentlichen, sonst fehlenden Rezitativpassagen. Dabei wurden genau die Anweisungen/Details beachtet, die Donizetti hinterlassen hatte, zumal Salvi ja auch ein Schüler Donzeittis gewesen war und dessen Idiom kannte. Rekonstruiert wurde die Eröffnung des 4.Aktes (Tenorarie) auf der Basis der Skizzen Donizettis und seiner Orchestrierung in der Favorite. Und obwohl Salvis „Angelo casto e bel“ ganz wunderbar ist, gibt es keine Zweifel, was Donizetti hier an dieser Stelle wollte. Und sehr wichtig – ganze Passagen mussten für die Lücken neu erstellt werden, vor allem für die Eröffnung des 3.Aktes und das Finale der Oper selbst. Salvis Lösungen waren in mancher Hinsicht einfallsreich und einfühlend, aber sie sind nicht defintiv. Battistelli/Parker glaubten, dass andere Alternativen möglich und eine moderne, eben den Bruch (sowohl den zeitlichen wie auch den musikalischen) deutlich machende vorzuziehen seien. Battistelli hat hier, sehr diskret, eine eigene Musik geschrieben, eine fast gläsern-flagiolette, unwirkliche Atmosphäre erzeugend, eben einen Einschnitt deutlich gemacht. Das mag man mögen oder nicht (ich nicht, ich hätte mir eine Salvi-nahe Lösung gewünscht und finde diese Battistelli-Musik eher das Werk gewaltsam in die Moderne reißend), aber auf der Bühne war das mehr als überzeugend, gespenstisch, stummmachend.
Geerd Heinsen
(Der vorliegende Aufsatz von Alex Weatherson, Donizetti-Spezialist par excellence, sowie die Inhaltsangabe stammen, mit Kürzungen und Änderungen aus dem Programmheft zur Aufführung beim Radio-Festival von Montpellier 2007 – übernommen/deutsche Übersetzung Inkas Maas
im Booklet zum CD-Mitschnitt bei Accord 480 0845. Auch der renommierte Musikwissenschaftler Roger Parker überließ uns die Verwendung seines Textes aus dem Programmheft zur Aufführung in Antwerpen 2012 – beiden Autoren gilt mein besonderer Dank! Textredaktion/Übersetzung: G. H.)
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.