Absoluter Gewinn

 

Kurz bevor das Berufsbild des Postkutschers dem technischen Fortschritt weichen musste, erwies ihm Adolphe Adam 1836 seine Referenz mit einer komischen Oper, die sechzig Jahre lang bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, als schon längst die ersten Luxuszüge Europa durchquerte, über die Bretter der Opéra Comique ging. Knapp 600-mal. Dann stellte Le Postillon de Lonjumeau seinen Pariser Betrieb ein. In Deutschland erfreute sich der Postillon von Lonjumeau, seit er ein Jahr nach der Uraufführung an der Berliner Hofoper gegeben wurde, besonderer und langer Beliebtheit, die, wie im Fall von Aubers Fra Diavolo und im gewissem Sinn auch Boieldieus La dame blanche, zwei Weltkriege überdauerte. Kaum zu glauben, dass sich die Opéra Comique in Zusammenarbeit mit der Opéra de Rouen erst 2019 auf eines der Schlüsselwerke ihres Repertoires besann. 120 Jahre nach seiner letzten Aufführung bekam der Postillon eine zweite Chance. Dafür hatten der Schauspieler und Regisseur Michel Fau, sein Ausstatter Emmanuel Charles und der seit Aufgabe seines Modeimperiums immer häufiger als Kostümbildner tätige Christian Lacroix an nichts gespart, und sich Fau zusätzlich die Sprechrolle der Kammerzofe Rose gekrallt. Der König selbst, Louis XV., enttäuscht über die Absage von „Castor und Pollux“, gibt sich in einem kurzen Prolog die Ehre und beauftragt seinen Intendanten „Cherchez les voix“, was doppelt Sinn macht, da die die Autoren die Handlung in die Zeit seiner Regentschaft verlegten und Louis XV. der Opéra Comique den Status einer royalen Truppe verlieh und zu dem Stück Land verhalf, auf dem sich die heutige Salle Favart befindet. Man wird das Gefühl nicht los, dass die opulente Aufführung (DVD Naxos 2.110662) mögliche Zweifel an der Tauglichkeit des Werkes durch überbordende Dekors und Kostüme, ziselierte Korsagen und Bordüren, aufgetürmte Rokokoperücken und zeichenstarke Maquillage zu zerschlagen versucht. Dabei hat der Postillon übereifrige Nachsicht nicht nötig. Es handelt sich um perfektes Stück musikalischen Unterhaltungstheater, in dem die Rädchen einer Geschichte um den zum Tenorstar der Opéra aufgestiegenen Postillon Chapelou originell ineinandergreifen und die auf drei Akte verteilten 13 Nummern neben charmierenden Arien und Ensembles, wie die an Rossini erinnernde Bassarie von Chapelous ebenfalls Opernsänger gewordenen Freunds Biju alias Alcindor und das Angst-Terzett „Pendu! pendu!“, vor allem mit dem Tenorschlager „Mes amis, écoutez l’ histoire“ auftrumpft, eine Art Remake von Fra Diavolos berühmter Romanze; beide Werke wurde von Monsieur Chollet kreiert.

Während eines Halts in Lonjumeau entdeckt der königliche Intendant Marquis de Corcy den Postillon mit dem sicheren hohen D und verspricht ihm eine Karriere in Paris. Chapelou verlässt seine ihm soeben angetraute Gattin Madeleine. Zehn Jahre später: Chapelou ist zum Tenorstar Saint-Phar avanciert, Madeleine wurde dank des Erbes ihrer Tante zur reichen Madame Latour. Chapelou erkennt Madeleine nicht, verliebt sich neuerlich in sie und lässt sich sogar zu einer Heirat mit ihr breitschlagen – statt einer Scheinehe wird die Trauung tatsächlich vollzogen. Chapelou, der sich der Bigamie schuldig fühlt, steht größte Ängste aus, bis Madeleine die zweimalige Heirat aufklärt und der Chor nochmals die Weise vom schönen Postillon anstimmt.

Fau hat die schmale Bühne der Opéra Comique in die Auslage einer Patisserie mit rosa und blau beleuchteten Gateaux verwandelt, in der sich der Postillon Chapelou und die Wirtin Madeleine anlässlich ihrer Hochzeit zu Beginn auf einer gigantischen Torte feiern lassen. Das ist allerliebst, pittoresk, und wenn sich Michael Spyres im adretten Postillions-Kostüme adrett dreht und wendet und kokett dessen selbstverliebtes „Il etait beau“ ausstellt, wirkt er, nicht mehr jung, was die aufdringliche Schminke unterstreicht, nicht ganz schlank, ganz so wie Chollet beschrieben wurde, der zwanzig Jahre nach der Uraufführung bei seiner Rückkehr nach Paris neuerlich den Chapelou verkörperte: Formidable Diktion, gezierte Gestik, Eleganz und Stilgefühl im geschmeidig kolorierten (fast schon zu heroischen) Gesang, ein süßes Timbre und eine geschmeidige, nie auftrumpfende Höhe. Ein Gesamtkunstwerk. Die niedliche Kutsche, die himmelwärts stürmenden Pferde, die feinst dekorierten Chöre, ein Bilderbuch ist nichts dagegen. Klar, das ist ein vordergründiges Ausstattungstheater, dessen Feinschliff in den gedrechselten Bewegungen liegt, die aus älteren Molière-Aufführungen der Comédie Française zu stammen scheinen, viele Rampen-Aktionen und ausgedehnte Sprechszenen. Doch was soll‘s. Mit seiner musikalischen Delikatesse und dem reichen Kulissenzauber ist dieser Mitschnitt ein absoluter Gewinn.

Übertroffen werden diese Bilder durch das Fortuny-Rokoko, das sich Emmanuel Charles ausgedacht hat, wo die mit einem Perückenturm belastete Madeleine, jetzt Madame de Latour, in ihrem Salon der Liebe zu Chapelou hinterher trauert. Die etwas spitz herbe Florie Valiquette gewinnt in ihrer Arie dem leichten Sopran einige dramatische Akzente ab, während Michel Fau als Rose, wie die Herrin ein Traum in Pink, prätenziöse Sentenzen beisteuert. Franck Leguérnel ist als Marquis de Corcy, wie stets, von darstellerischer Präsenz, während sein Bariton kaum noch nennenswerte Substanz besitzt. Eine weitere Steigerung und oftmals groteske Überzeichnung erfährt das Dekorationstheater durch das „Theater auf dem Theater“ im zweiten Teil des zweiten Aktes, auf dessen übertriebene barocke Pracht jede historisierend Händel-Aufführung neidig sein könnte, und in der Saint-Phar, ausstaffiert wie einst die teuersten Kastraten, mit seiner kleinen Romance „Assis au pied d’un hétre“ und dem goldenen Kostümgefieder glänzt. Der Belgier Laurent Kubla erweist sich mit robustem Bassbariton in Alcindors witziger Zéphire-Arie über die Chorsänger der Oper („Qui, des choristes du théatre“) als fescher Nebenrollensänger. Im dritten Akt, wo man des Ausstattungsplunders langsam überdrüssig wird und – leider – auch der von Spyres grell ausgestoßenen Höhen in Saint-Phars Grand Air „A la noblese, je m’aille“ kommt als Stütze für das erwähnte Trio noch der unauffällige Bass Julien Clément als Bourdon dazu. Sébastien Rouland und das Orchestre der Opéra de Rouen und der dortige accentus Chor musizieren mit wohltuender Selbstverständlichkeit und lyrischer Feinheit. Das ist französische Oper in Idealbesetzung. Rolf Fath

 

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