Der letzte Liederabend

 

Das Jahr, in dem Gundula Janowitz ihren 80. Geburtstag beging, ist noch nicht zu Ende, da schiebt FHR Remasters noch ein bemerkenswertes Geschenk nach. Es handelt sich um eine CD mit ihrem letzten Liederabend (FHR56). Er fand am 16. September 1999, dem Todestag von Maria Callas, im Herodes Atticus Odeon statt. In dem antiken Theater unterhalb der Akropolis in Athen war die Callas selbst aufgetreten. Das Konzert galt ihrem Gedenken. Mit den „Göttern Griechenlands“ von Franz Schubert war der Auftakt passend gewählt. Begleitet wurde die Janowitz von ihrem langjährigen Pianisten Charles Spencer. Mit neun Liedern und der „Forelle“ als Zugabe war der Schubert-Block ausgesprochen massiv. Von keinem anderen Komponisten hatte sie in Laufe ihrer Kariere so viele Lieder eingespielt. Schubert sollte also auch beim Abschied seine ihm gebührende Rolle spielen. Bei der Auswahl wich die Janowitz nicht etwa auf solche Lieder aus, die ihren damaligen stimmlichen Möglichkeiten besser entsprochen hätten. Sie sang, was sie auch früher gesungen hatte. Beim „Lied im Grünen“ wurden die Grenzen arg deutlich. Die Stimme konnte dem Fluss der Melodie nicht mehr so leicht und unbeschwert folgen wie einst. Ihr Timbre aber war unverwechselbar geblieben, auch in seiner Sprödigkeit und in seiner großen Ruhe. Schumanns „Nussbaum“ gelang wohl auch deshalb so gut, weil sie sich auf wenige Momente konzentrierte, die dann alles herausrissen und für alles entschädigten, was weniger schön klang. Diese Methode – wenn es denn überhaupt eine ist – ging auch bei Strauss auf, der mit solchen Herausforderungen wie „Allerseelen“, „Morgen“ oder „Befreit“ auf dem Programm stand. Ohne die neue CD abwerten zu wollen, für Einsteiger ist sie nicht geeignet. Wenn das Interesse aber dahin geht, herausfinden zu wollen, wie sich in der späten Phase einer Sängerkarriere Kunst mit Erfahrung und Technik hervorbringen lässt, dann ist diese CD genau die richtige Wahl. Ich habe sie sehr gern gehört. Für Fans der Sängerin ist sie ohnehin ein Muss. Eine kleine formale Irritation gibt es am Rande. Während im Booklet Titel und Text des Liedes „Lob des Leidens“ von Strauss abgedruckt sind, wird – als viel bessere Wahl – „Das Rosenband“ vorgetragen.

 

Kein Zweifel. Gundula Janowitz ist achtzig. Ob Bücher oder das Internet – alle Quellen geben als Geburtstag den 2. August 1937 an. Dennoch stell ich mir die Frage: Kann das wirklich sein? Ich habe sie doch eben noch hier in Berlin in einem Liederabend gehört. Manche Sänger behaupten in der persönlichen Erinnerung vorderste Plätze. Durch Leistung und Wirkung. Sie rutschen nicht in die Tiefen des Gedächtnisses hinab. Auf eine fast unheimliche Weise bleiben sie auch durch ihre Aufnahmen jung und zeitlos. Zumal dann, wenn sie keine Alterskarriere hatten, die auch den Altersprozess abbildet. Die komische Alte wäre keine Rolle für die Janowitz gewesen. Abschied von ihrem Stammhaus, der Wiener Staatsoper, wo sie von 1960 an in 680 Vorstellungen gesungen hatte, nahm sie 1990 mit der Marschallin. In dieser Rolle war sie dort dreiundvierzigmal aufgetreten, nur übertroffen von der Ariadne (48) und der Gräfin Almaviva – mit einundsiebzig Vorstellungen an der Spitze der Statistik. Programmzettel dieses Hauses, auf denen ihr Namen stand, sind das Abbild dieser erfolgreichen Karriere. Sie sang, was ihre Stimme hergab. Mit der Helena in Brittens Sommernachtstraum fällt lediglich ein zeitgenössisches Werk aus dem klassisch-traditionellen Rahmen ihres Repertoires mit Mozart und Strauss im Zentrum. Während die Marschallin als letzter Bühnenauftritt bei Sängerinnen eine gewisse Tradition hat und damit letztlich zur gehobenen Formsache wird, gelang ihr kurz vor Toresschluss 1987 in Wien mit der fulminanten Clytemnèstre in einer Neuinszenierung von Glucks Iphigénie en Aulide, die Charles Mackerras leitete, noch eine Sternstunde der Oper. Diese Mutter will den Opertod der eigenen Tochter, der schon beschlossene Sache ist, nicht hinnehmen. Ihr Unglück schreit aus tiefster Seele, sie rast in Verzweiflung. Ein Mitschnitt des ORF hat sich erhalten. Er verdiente es, endlich veröffentlicht zu werden.

Die Deutsche Grammophon feiert das Jubiläum ihres einstigen Stars mit einer Box, die äußerlich viel hermacht. The Gundula Janowitz Edition, der Name in Gold unterlegt. Das Foto aus einem Plattenstudio, vorn das Mikrophon, im Hintergrund Pfeifen einer Orgel (00289 47 7348). Die Künstlerin ganz Konzentration. Sie war bekannt für ihre Ernsthaftigkeit und ihren eisernen Willen. Vor Aufführungen sprach sie nicht, um sich zu schonen. Als sollten die Töne für die jeweilige Vorstellung gespeichert werden. Das war sie dem Publikum und der Kunst schuldig. „Ich habe vielleicht eine gute Stimme mitbekommen“, sagten sie 1974 in einem Interview der Zeitung „Die Welt“. Alles andere sei Arbeit gewesen. Das ist bei ihr auch zu hören. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, nirgends eine Spur von Improvisation. Mir kommt es manchmal so vor, als sei ihre Stimme in Marmor gemeißelt. Nicht mal im Ansatz mogelt sie sich durch eine komplizierte musikalische Situation. Sie gibt Natürlichkeit und Leichtigkeit für Genauigkeit. Nur selten ist sie an ihre eigenen Grenzen gestoßen. Wollte sie ihre Möglichkeiten austesten? Die Fidelio-Leonore war so ein Wagnis. Ich erinnere mich ganz genau an die Übertragung aus der Wiener Staatsoper Ende der siebziger Jahre. Die von Leonard Bernstein dirigierte schlichte Produktion in der Regie von Otto Schenk hat mir lange den Blick für andere Interpretationen verstellt. Nur so wollte ich es hören. Die Janowitz konnte die Frau, die mutig um das Leben des Gatten kämpft, deshalb so glaubhaft machen, weil sie sie sich als Sängerin selbst nicht schonte, alles auf eine Karte setzte und in den dramatischen Szenen stimmlich fast zu Bruch ging. In den lyrischen Passagen der großen Arie ließ ihr Bernstein viel Zeit. Er stellte sich ganz auf sie ein, folgte ihr und gab kein Tempo vor, dem sie nicht hätte folgen können. Insofern ist diese Übertragung auch ein ganz fabelhaftes Dokument des Zusammenspiels zwischen Solistin und Dirigent gewesen. Auf CD gelangte aber nicht die Live-Aufnahme, sondern eine Produktion unter Studiobedingungen aus dem Wiener Musikvereinssaal von 1978.

„Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen!“ Gundula Janowitz als Fidelio-Leonore in der Wiener Staatsoper. Die Oper findet sich auszugweise in der Edition. Das Bild entstammt der Rückseite des betreffenden Albums. Foto ORF

Wenngleich alle wesentlichen Szenen der Leonore, in der Edition berücksichtigt sind, bleibt der rasante Gesamteindruck versperrt. Das ist bitter und ein Schwachpunkt der Neuerscheinung. Es kommt noch schlimmer. Ihre Mitwirkung als Sieglinde und Gutrune im Ring des Nibelungen unter Herbert von Karajan ist auf drei verschiedene CDs verzettelt. Als in sich geschlossener Teil ist wenigstens der erste Aufzug komplett übernommen worden mit Jon Vickers als Siegmund und Martti Talvela als Hunding. Wieder bewegt sie sich zwischen den Polen ihrer Möglichkeiten. Der Bogen ist weit gespannt. Mehr geht nicht. Für die hochdramatischen Ausbrüche muss sie alle Reserven lockermachen. Wie im Fidelio wird diese Grenzwertigkeit zum Ausdrucksmittel. Auch die Singlinde hat Gundula Janowitz live gesungen. Nicht nur zum Auftakt der Salzburger Osterfestspiele 1967 auf der Breitwandbühne – die Plattenproduktion war die Vorbereitung darauf –, sondern auch an der Met. Karajan ging im selben Jahr mit der Walküre nach New York und debütierte dort als Dirigent und Regisseur. Die Janowitz nahm er mit. Auch für sie war die Sieglinde ein Debüt an diesem Haus. Sie sang fünf Vorstellungen. Eine weitergehende Zusammenarbeit ergab sich nicht, nachdem sich ihre geplante Mitwirkung im Freischütz zerschlagen hatte. Sie wurde durch Pilar Lorengar ersetzt, wie aus den Archivunterlagen hervorgeht. Die Met blieb in ihrer Karriere eine Episode. Die maßgeblichen Auftritte der Sieglinde im zweiten und im dritten Aufzug sind gekoppelt. Zwei durch sie ungemein aufgewertete Szenen der gewöhnlich blassen Gutrune aus der Götterdämmerung„War das sein Horn“ und „Schweigt eures Jammers jauchzenden Schwall“ finden sich eingeklemmt zwischen Ausschnitten aus Bachs h-Moll-Messe, der Matthäuspassion und den Vier letzten Liedern von Strauss wieder. Es scheint, als seien die CD-Kapazitäten für die Zusammenstellung gelegentlich wichtiger gewesen als inhaltliche Ausrichtung.

Für die einzelnen CD-Alben der Edition wurden die originalen Schallplattencover reproduziert.

Im Nachhinein stellt sich ihr Wagner als einer der besten Posten ihrer reichhaltigen Diskographie heraus. In dem schon erwähnten „Welt“-Interview mit der Überschrift „Die Isolde sing‘ ich nie …“ ging sie aber auf Distanz zu diesem Komponisten. Sie werde überhaupt keinen Wagner mehr singen, weil ihr die Stimme dafür zu schade sei. Sie zitiert Frida Leider, die sie gut gekannt hat, mit den Worten. „Er habe eigentlich für Übermenschen geschrieben, und keiner ist es.“ Überliefert sind neben Sieglinde, Gutrune und dem ebenfalls in der Box berücksichtigten Blumenmädchen aus dem Parsifal, das in Bayreuther Mitschnitt von 1964 unter Hans Knappertsbusch betörend-sinnlich über dem Ensemble schwebt, Elisabeth, Elsa, Eva und – auch nicht zu verachten – der junge Hirt aus Tannhäuser in der Wiener Produktion von 1963. In der Edition finden sich Elsa-Szenen, einschließlich Brautgemach mit James King, aus der von Rafael Kubelik dirigierten Lohengrin-Gesamteinspielung des Bayerischen Rundfunks. Elsa Traum wird zum Vergleich zusätzlich aus einer Wagner/Weber-LP mit Ferdinand Leitner und dem Orchesters der Deutschen Oper Berlin herangezogen. Aus dieser Schallplatte stammen auch die Hallenarie und das Gebet der Elisabeth aus Tannhäuser sowie die Arie „Gerechter Gott“ aus Rienzi.

Noch einiges mehr ist doppelt im Angebot. Das macht sich gut in so einer Sammlung. Im Durcheinander der unorthodoxen Zusammenstellungen braucht es allerdings Zeit, um diesen vorteilhaften Aspekt herauszufinden. Neben der Karajan-Einspielung wurden die Vier letzten Lieder aus einem Konzert in Amsterdam mit dem Concertgebouw-Orchester unter Bernard Haitink von 1968 herangezogen. Obwohl es keine nennenswerten Unterschiede gibt, ist der Vergleich gerade deshalb bemerkenswert. Subtil, feinsinnig und konzentriert wie vor den Studiomikrophonen tritt sie auch vor das Publikum. Beim Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms sind wiederum Karajan (1964) und Haitink (1980) die Dirigenten beider Studioeinspielungen. Der Reiz besteht diesmal darin, das zwischen den Aufnahmen sechzehn Jahre liegen. Die ältere unterscheidet sich von der jüngeren dadurch, dass die Stimme nun an einigen Stellen etwas belegt ist. Sie hat nicht mehr die Klarheit des lupenreinen Diamanten aus der frühen Glanzzeit. Spätestens hier stellt sich die Frage, welcher Kundenkreis mit so einer Edition, die in ihrer Mischung einem Kessel Buntes gleicht, angesprochen werden soll?

Gundula Janowitz als Sieglinde an der Metropolitan Opera. Mit dieser Rolle debütierte sie 1967 an diesem Haus. Sie sang fünf Vorstellungen. Eine weitere Zusammenarbeit ergab sich nicht. Foto Mélancon/MetOpera Archive

Es gibt ein Wiederhören mit guten alten Bekannten. Faktisch sind alle noch im Handel, wenigstens aber gebraucht auf Internetplattformen zu finden. Ausgrabungen, die diesen Namen verdienen, sind nicht dabei. Die Grammophon hat sich aus den eigenen Vorräten bedient. Bereits 2005 ist die Box „Gundula Janowitz – The golden voice“ erschienen, die jetzt eine Erweiterung erfuhr. Die meiste Arbeit wurde in die Präsentation gesteckt, die vorzüglich ausgefallen ist. Alle Hüllen wurden mit originalen Plattencovern versehen, wenngleich sich im Innern nicht immer nur das findet, was vorne darauf steht. Beim Schubert-Album mit Irwin Gage am Klavier sind Inhalt und Form noch am ehesten im Einklang. Beide Künstler haben unter dem Gelblabel allerdings doppelt so viele Lieder eingespielt, als die hier (nur) sechsundzwanzig berücksichtigten. „Der König in Thule“, mein Favorit, ist dabei. Die Sängerin beginnt aus dem Stand, das Klavier setzt erst später ein. Ohne jedes Tremolo trägt sie die Ballade vor, wie einen Botenbericht, dem sie zunächst die innere Teilnahme verweigert. Erst zum Schluss hin, wenn der sterbende König seinen goldenen Becher im Meer versinken sieht, scheint sie selbst ergriffen, gibt sie ihre kühle Zurückhaltung auf und wechselt in den Modus der Rührung. Das ist wunderbar gemacht, das hat durch Perfektion klassischen Zuschnitt. Allein schon wegen ihres Umfangs und ihrer Stringenz wird die Schubert-Sammlung zum Zentrum der Geburtstagsedition. Sie beläuft sich auf zwei CDs, während die übrigen Alben nur mit einer Scheibe knausrig bestückt sind. Die Fächer für das Doppel sind zugeklebt.

Was gibt es noch? Telemanns strenge Ino in der strengen Hülle der erlesenen Archiv-Produktion, Konzert-Arien und Szenen aus Idomeneo, Figaro und Cosi fan tutte von Mozart, die komplette C-Dur-Messe, ein Häppchen aus der Missa solemnis und die Clärchen-Szenen aus der Egmont-Musik von Beethoven, Auszüge aus Haydns Jahreszeiten und Schöpfung sowie die Schlussszene aus Capriccio von Strauss. Mit lediglich viereinhalb Minuten wurde am Paulus von Mendelssohn Bartholdy, der 1987 – und damit sehr spät – in Leipzig unter Kurt Masur bei Philips eingespielt wurde, besonders drastisch gespart. Solche absurden Reduzierungen machen keinen Sinn, weil das Werk selbst auf der Strecke bleibt. Mildernde Umstände können nur deshalb gewährt werden, weil die Nummer „Jerusalem! Du tötest die Propheten“ Gnade vor dem Schnippelwahn fand. Für mich gehört diese Solo-Szene mit zu den großen ergreifenden Momenten ihrer Diskographie. Sie klingt wie eine Anrufung. Als ich vor Jahren vom Tempelberg die Altstadt von Jerusalem leuchten sah, ging mir sofort Gundula Janowitz und eben dieses Solo durch den Kopf. Nichts zuletzt deshalb bin ich dieser Künstlerin so dankbar. Rüdiger Winter