Fleiss allein reicht nicht

Sollten Sie wissen wollen, liebe Leser, in welcher Rolle Richard Tauber am 13. Januar 1914 auf der Bühne stand? Es war der Turiddu in Mascagnis Cavalleria Rusticana in der Königlichen Hofoper in Dresden. Und am 10. Februar 1938? An diesem Tag sang er Tamino in Mozarts Zauberflöte an der Wiener Staatsoper. Es gibt aber auch weniger harmlose Daten im Aufführungsverzeichnis des Tenors. Nachdem die deutsche Luftwaffe in der Nacht vom 29. auf dem 30. die schwersten Bombenangriffe auf London geflogen hatte, stand er tags darauf gut achtzig Kilometer entfernt im Hippodrom zu Brighton als Theaterprinz Sou Chong in Lehárs Land des Lächelns auf der Bühne. Wie kam das an? Hatten die Engländer nicht andere Sorgen? Oder war gerade solche Abwechslung willkommen in dieser Zeit? Antworten auf solche Fragen bleibt das Buch Musik war sein Leben – Richard Tauber – Weltstar des 20. Jahrhunderts von Martin Sollfrank schuldig. Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe sich Tauber fröhlich durch die zwei größten Katastrophen der Neuzeit, den Ersten und Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten und verheerenden Verwüstungen, gesungen.

Das ist mein Haupteinwand gegen dieses Buch, das sich einem hohen Anspruch stellt, den es letztlich aber nicht erfüllt. Es lege „Informationen über ein Künstlerleben offen, die man in dieser Fülle, Ausführlichkeit und Sachlichkeit bisher nirgends auf einen Blick erhalten konnte“, wird auf dem Buchdeckel geworben. Erstmals sei Tauber „nicht nur als Sänger, sondern als vielseitiger Musiker, der weltweit gewirkt hat, dargestellt“. Vermutungen und Interpretationen hätten keinen Platz. Was als Vorzug des Buches ausgegeben wird, halte ich für seine Schwäche. So verdienstvoll es ist, in jahrelanger Kleinarbeit alle nachweisbaren Auftritte Taubers zu dokumentieren, der Künstler und Mensch hinter diesen Fakten bleibt fremd.

Allzu Persönliches wird diskret gestreift oder anekdotisch verpackt. Richard Tauber, gefeiert wie kaum ein anderer Sänger vor und nach ihm, kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten von einem SA-Trupp in Berlin als „Judenlümmel“ zusammengeschlagen, schließlich außer Landes getrieben – dieser tragische Lebenslauf erfährt allein durch Fakten keine Entsprechung. Da müsste schon tiefer gebohrt werden. Tauber sei absolut unpolitisch gewesen, heißt es erst zum Ende des Buches hin. Das hinderte ihn übrigens nicht daran, sich den Nationalsozialisten im Mai in einem Brief an das Reichsinnenministerium anzudienen. Solche Widersprüche werden nicht weiter verfolgt. Ich bekenne freimütig, mich nur mit Mühe und der Disziplin des Rezensenten durch die endlosen Listen von Auftritten gequält zu haben, die sich zudem sprachlich auf dünnem Eis bewegen. Wer soll das lesen? Für eine Verwendung des Materials zu Forschungszwecke mangelt es zu oft an akribischen Referenzen. Und an einem seriösen Apparat. Keine Konkordanz, kein Personenverzeichnis. Das ist zu wenig.

Fakten werden nicht selten einfach nur hingeworfen. Ein Beispiel auf Seite 73: „Im Theater an der Wien wurde am Nachmittag des 21. Oktober 1922 eine Festvorstellung für Carl Streitmann gegeben (,Die Fledermaus‘ von Johann Strauß, allerdings ohne Tauber) und anschließend eine Große Festakademie mit verschiedenen Künstlern aus Wiener Theaters. Dabei dirigierte Kammersänger Richard Tauber die ,Zigeunerbaron‘-Ouvertüre und sang zudem unter dem Dirigat Franz Lehárs.“ Wer war doch gleich dieser Streitmann? Ach, ja, ein österreichischer Tenor, (1858-1937), der erste Barinkay. Wer das nicht auf Anhieb weiß, muss sich weiterführende Angaben selbst besorgen. Das Buch, dem Stefan Frey im Vorwort „wissenschaftlichen Standard“ bescheinigt, liefert sie nicht. Es hat kein Personenregister, keine Fußnoten und keine Querverweise. Wenigstens ein summarisches Quellenverzeichnis ist vorhanden, das ist schon mal was. Es lässt die Leser mit einer schier endlosen Flut von Namen und Ereignissen allein. Dafür gibt es sich auffällig titelhörig. Papst reicht da nicht. Pius XI. wird als Seine Heiligkeit bemüht. So viel Zeit muss sein. Der Autor war Soldat.

Sehr verdienstvoll ist die Auflistung der Schallplattenaufnahmen, die an der zeitlich passenden Stelle in die jeweiligen Lebensstationen eingeordnet sind. Eine eigentliche Diskographie wird daraus nicht entwickelt, was schade ist, dem Buch gut zu Gesicht gestanden und es doch noch wichtig gemacht hätte. Für eine Diskographie fehlen zu viele weiterführende Angaben und die Katalognummern. Das Schallplattenerbe Taubers ist so gewaltig wie unübersichtlich. Manche Titel gibt es mehrfach, worauf auch verwiesen wird. Sammler werden also weiterhin mit der Lupe über ihren eigenen Beständen brüten und versuchen, wenigstens eine Grundordnung herzustellen. Nicht alle Einspielungen zeigen Tauber auf der Höhe seines Könnens. Es ist viel Lässliches, Uninspiriertes dabei. Hatte er keine Lust, fühlte er sich nicht aufgelegt, so ist das auch zu herauszuhören. Das Buch ist keine Hilfe, Spreu vom Weizen zu trennen.

Im zweiten Teil lässt sich der Autor auf den Versuch ein, „das Besondere an Richard Tauber“ aufzuspüren – darunter „Stimme und Bühnenausdruck“. Dabei nimmt er auffallend häufig Zuflucht zu Aussagen und Meinungen anderer, zitiert sich durch Kritiken, Zeitungsartikel und Bücher. Es bleibt unklar, was Sollfrank selbst empfindet, wenn er die Stimme Taubers hört, wie er sie bewertet und einordnet, welchen Rang er ihr gibt. Symptomatisch für dieses Manko scheint mir eine Bemerkung an anderer Stelle, wo er auf die erste Begegnung Taubers mit seiner späteren Frau, der Sängerin Carlotta Vanconti, die ihn nach der Scheidung in schwere finanzielle Bedrängnis bringen sollte, zu sprechen kommt. Diese habe über „eine durchaus gepflegte Sopranstimme“ verfügt. Damit ist überhaupt nichts gesagt, es kann alles bedeuten und nichts. Positiv anzumerken sind das Rollenverzeichnis, die Liste der Filme mit Tauber, geordnet nach Premierendatum und eine Aufstellung seiner eigenen nachweisbaren Kompositionen, wobei nicht klar wird, was künstlerisch davon zu halten ist und welche Werke es auf Tonträger geschafft haben.

„Der Mensch Richard Tauber“: Auf Seite 445 endlich dann doch noch das Bemühen, dem Sänger unter dieser wie aus Holz geschnitzten Überschrift etwas näher zu kommen. Mit gemischten Ergebnissen, stilistisch mager. Immer wieder entsteht der Eindruck – wie schon auf einer der ersten Seiten des Buches – als sei der Autor bei bestimmten Ereignissen dabei gewesen, wenn nämlich Vater Tauber mit dem Sohn „ein ernstes Wort“ sprach, das offenbar lediglich auf einer Annahme beruht, nicht aber auf verbürgten Quellen. Anhänge mit vielen Fotos und Faksimiles vermitteln dann doch noch so etwas wie Sinnlichkeit, die für Tauber angebracht erscheint. Auf diesen Seiten habe ich sehr gern verweilt. Trotz aller Einwände, es ist ein Buch der Verehrung des Autors für seinen Helden. So viel Fleiß, so viel Ausdauer – das kann nur Liebe sein. Deshalb möchte ich es auch all jenem empfehlen, die sich mit Richard Tauber beschäftigen und sich bereits gut auskennen in seiner Lebensgeschichte. Wenn auch dieser und jener ungenaue Punkt in dieser Biographie nun korrigiert wurde, für eine erste Begegnung mit diesem Tenor, also zum Kennenlernen, genügt es nicht.

Rüdiger Winter

Martin Sollfrank: Musik war sein Leben – Richard Tauber – Weltstar des 20. Jahrhunderts Ausführliche biografische Dokumentation mit einem Nachwort von Stefan Frey, 527 Seiten mit Anhang und zahlreichen Fotos, Weltbuch Verlag, ISBN 978-3-906212-05-0

 

  1. MARTIN SOLLFRANK

    Sehr geehrter Herr Winter,
    vielen Dank für Ihre Bemühungen, eine Kritik zu dieser Dokumentation über Richard Tauber zu schreiben. Jeder Autor wünscht sich letztlich nichts anderes, als dass sein Werk einer o b j e k t i v e n Kritik unterworfen wird – Ihre Kritik hat mich allerdings sehr irritiert, gestatten Sie mir deshalb eine kurze Stellungnahme.

    Das Buch beschäftigt sich mit dem Tenor Richard Tauber, der auch Dirigent, Komponist und Pianist war. Es ist also k e i n e Dokumentation über die „Luftschlacht um England“ (in England „The Blitz“ genannt) und die Folgen für die britische Bevölkerung. Ihr Eindruck, Tauber hätte sich „fröhlich durch zwei Weltkriege“ gesungen ist fast richtig, denn er hat während der beiden Kriege weiterhin seinen Beruf ausgeübt – warum auch nicht? Eben wie tausende andere Künstler auch. Ob er dabei fröhlich war hat er leider nirgendwo niedergeschrieben.
    Demnach ist Ihr Haupteinwand gegen die Tauber-Dokumentation der, dass diese sich hauptsächlich mit Tauber beschäftigt ????

    Sie schreiben, eine Diskographie der Tauber-Aufnahmen hätte dem Buch gut zu Gesicht gestanden. Diese gibt es bereits seit 1987 – Hansfried Sieben (siehe Quellenverzeichnis) hat in akribischer Arbeit die bereits vorhandene Diskographie des Engländers James Dennis von 1969 erweitert. Jeder Schallplattensammler (Schellackplatten mit Tauberaufnahmen) hat diese mit Sicherheit in seinem Besitz. Dieses Verzeichnis würde im Format meines Buches ca. 120 Seiten beanspruchen – welche Mühe für Sie, sich durch derartige Listen durchquälen zu müssen! Wer also, ausser den wenigen Sammlern, soll d a s lesen? Da ist es doch eher ein Vorteil (auch für den Buchpreis) wenn diese nicht enthalten ist, oder?

    Das „Besondere“ an Richard Tauber, was Bühnenausdruck und Stimme anbelangt, kann man heute nur erfassen, wenn man die zeitgenössischen Kritiken betrachtet – und zur Stimme Taubers haben renommierte Stimmkritiker ihre Aussagen bereits erschöpfend getroffen (alles im Buch enthalten). Ferner bin ich überzeugt, dass jeder Leser mit deren fach- und sachkundiger Meinung besser bedient ist als mit meinen Empfindungen, Bewertungen und Einordnungen, denn ich bin kein Musikkritiker! Der letzte Satz auf dem von Ihnen zitierten Buchdeckel sagt bereits ebenso wie meine Einführung auf Seite 11, welchen „Rang“ ich Taubers Stimme gebe.

    Carl Streitmann wird von Ihnen als Beispiel angeführt, dass ich in meinem Buch Personen nicht näher betrachte, dabei verschweigen Sie, dass Personen, welche mit Tauber in einer Beziehung standen sehr wohl, teilweise sehr ausführlich betrachtet werden – aber mit Streitmann hatte Tauber (ausser das er bei der Festakademie zu dessen Ehren teilnahm) absolut nichts zu tun. Wie schon gesagt, es ist eben eine Dokumentation über Richard Tauber und nicht über alle Sängerinnen und Sänger der damaligen Zeit.

    Sätze aus dem Zusammenhang zu reissen und damit dann endlich ein selbstkonstruiertes „Haar in der Suppe“ zu finden, dies scheint bei einigen Kritikern üblich zu sein – aber gehören Sie auch dazu? Der Satz mit dem „ernsten Wort“, das Vater Tauber zu Sohn Tauber sprach, steht zwischen zwei Briefen. Den ersten erhielt Vater Tauber von Graf Seebach, welcher den Vater aufforderte, ein ernstes Wort mit seinem Sohn zu sprechen, den zweiten Brief schrieb Vater Tauber als Antwort. Hätten Sie den zweiten Brief gelesen, wüssten Sie, dass zwischen den Briefen ein ernstes Gespräch zwischen Vater und Sohn stattgefunden hat (die Quelle hierfür sind eben die beiden Briefe).

    Wird das Buch dem Anspruch, dass noch nie eine derartige Fülle von Daten und Fakten über Richard Tauber erhältlich war, nicht gerecht?
    Wegen nicht existierender Fußnoten und Querverweise kann ich nur sagen, das Buch ist keine Dissertation, es wurde nicht für Wissenschaftler geschrieben, sondern nach wissenschaftlichen Grundsätzen erarbeitet.

    Abschließend noch eine Grundsatzanmerkung:
    Um eine bereits verstorbene Sängerin / einen Sänger kennenzulernen, hört man sich im Allgemeinen erst einmal eine CD / oder Schallplatte an, liest die dort beigefügten Informationen und entscheidet dann, ob man mehr wissen will – wenn ja, so kauft man oder leiht sich eine Biografie, oder wie der Tenor Leo Slezak es treffend nannte, ein „Lebensmärchen“. Und wenn (wie bei den Tauber-Biografien) diese fast keine Daten und Fakten, sondern nur Einschätzungen und Vermutungen des Verfassers beinhaltet, dann greift man zu einer Dokumentation (sofern es für die jeweilige Künstlerin / den jeweiligen Künstler eine gibt) – und wenn darin der Papst als „Seine Heiligkeit“ bezeichnet wird, so ist das nicht „titelhörig“, sondern einfach nur korrekt und schadet meines Erachtens der Qualität eines Buches nicht. Der Autor

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  2. Geerd Heinsen

    naja – wenn musikbücher zur rezension an musikkritiker verschickt werden, dann bleibt eine kritische stellungnahme eben nicht aus – das mag dem verleger nicht gefallen, aber nun gleich eine schnell herbeigeredete kollegen-ranküne zu wittern klingt eher nach pro-domo-abschotten gegenüber schwächen des besprochenen objektes. es ist eben leichter, von übler kollegenschelte zu sprechen als anzuerkennen, was an einer kritik dran ist……

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  3. Dirk Kohl

    Halleluja, das ist mal ne Kritik. Als Dresdner, aus der Stadt der Hochkultur, bin ich solche Texte gewöhnt, wenn andere über andere sich auslassen und im Prinzip alles erst einmal schlecht reden. Aber: Bad news are Good news! Sportlich nehmen! Der Verleger

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