Am 21.2.2020 hatte Schrekers letzte Oper Der Schmied von Gent in Gent Premiere (Aufführungen in Antwerpen waren vorangegangen). Das Stück war neu für mich, nicht aber, wie ich in der Vorbereitung erstaunt feststellte, die Handlung. Die Geschichte (die Schreker den Flämischen Legenden Charles de Costers entnommen hat) vom pfiffigen Schmied, der einen Teufelspakt eingeht, aber zur Belohnung für gute Taten drei Wünsche frei hat, mit denen er die Höllenboten überlistet, hat man mir als Kind hoch in den Schweizer Alpen fast genauso erzählt – bis hin zu der Schürze, die der Schmied am misstrauischen Petrus vorbei in den Himmel wirft und sich flugs drauf setzt. Nur dass das bei Schreker noch nicht das Ende ist und der Schmied erst nach Abwägen seiner guten und schlechten Taten durch den heiligen Joseph ins Paradies eingelassen wird. Die Wanderlust von Sagen und Legenden ist eben nicht zu unterschätzen.
Auslöser für die Suche des Komponisten nach einem andersartigen, „volksnahen“ Opernsujet war ein Wanderkasperltheater in Norditalien 1929, das die klassischen Kasperl-Protoypen mit tagesaktuellen Anspielungen mischte. Schon bei de Coster besitzt die Erzählung eine genaue historische Verortung – Smee, der Schmied, hat im 80jährigen Krieg gegen die spanischen Besatzer gekämpft. In den Teufelspakt treibt ihn das Elend im spanisch gebliebenen heutigen Belgien – nach einer Intrige seines Konkurrenten Slimbroek bleiben die spanischen Kunden ganz weg. Als Höllenboten fungieren der Henker Jakob Hessels und der grausame ehemalige Gouverneur Herzog Alba. Dass für Schreker im Entstehungsjahr 1932 die spanischen Unterdrücker nicht nur historische Figuren ohne Gegenwartsbezug gewesen sein dürften, liegt auf der Hand.
Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag berücksichtigt diese mehrschichtige Anlage des Werks. Der Volkstheaterebene dienen die farbenfrohen, geschlechtertypische Elemente frei auf die Personen verteilenden Kostüme von Josa Marx, die klare, oft leicht überzeichnende Personenführung und die Bühne der ersten beiden Akte (Mitarbeit: Manuela Illera), die von einem drehbaren Gebilde mit Tunnel in der Mitte dominiert wird, das auf der einen Seite begehbare Häuserfronten – Gent, natürlich – und auf der anderen einen riesigen Teufel zeigt, der sich gerade anschickt, einen Säugling zu verschlingen.
Das funktioniert alles bestens, wenn man von ein paar seltsamen Details absieht (wie der Abwesenheit einer Schmiede und dem Moment, wo Smee auf Alba herunteruriniert). Im 3. Akt trägt Smee nun einen langen weißen Bart. Auf dem Weg ins Jenseits vertauscht er seinen weißen, mit roten Borten und Knöpfen verzierten Anzug mit einer schwarzgoldenen Paradeuniform (was den weißen Anzug definitiv auch als Uniform bestätigt) und ähnelt nun plötzlich Leopold II. Das Jenseits hat die Gestalt eines Kunstmuseums mit afrikanischen Gemälden. Hier schlägt Mondtag den Bogen von der Situation Flanderns unter Spanien zur Kolonialmacht Belgien, die mit den kongolesischen Untertanen nun (kurzes Gedächnis) auch nicht besser umspringt. Der Chor, teils in europäischer, teils in afrikanischer Gewandung, lauscht einer fünfminütigen (wohl originalen) kongolesischen Unabhängigkeitsrede, in der an die Leiden der Kolonialzeit erinnert wird. Das ist eine lange Unterbrechung der Musik – aber es soll wohl auch Unbehagen auslösen. Nun versteht man auch, warum das Jesuskind im 1. Akt dunkelhäutig gewesen ist. Im Saal herrscht Ruhe, der Umgang des Publikums mit dem Unruhmesblatt der eigenen Geschichte nötigt Respekt ab.
Die Produktion regt zum Nachdenken über Schuld und Umgang mit Schwächeren an, zeigt aber keine platte Dichotomie Gut-Böse. So beginnt und beendet den Abend Astarte, die dritte Höllenbotin, wie alle teuflischen Gestalten von feuerroter Hautfarbe, und wird durch diese Klammer zur Erzählerin der Geschichte. Vuvu Mpofu in getupftem Kleid und mit gedrehten Antilopenhörnern ist daher keine per se böse Gestalt – Gottheiten eroberter Kulturen wurden von den Siegern immer schon gern verteufelt. Sie verfügt über den frei aufschwingenden, strahlenden Sopran, den die hochliegende Partie, und die szenische Autorität, den die aufgewertete Anlage der Figur erfordert. Anders gesagt: Rundum fabelhaft, ein Glücksfall von Besetzung!
Leigh Melrose als Smee und wenig einsichtiger, aber auch nie ganz unsympathischer Hallodri-Leopold bewahrt den 3. Akt davor, ein reines Lehrstück zu werden. Mit seiner quecksilbrigen Komik, seiner sprungbereiten Eleganz ist er klar das Zentrum des Geschehens, ein Filou mit Courage. Ein Schmied, ein Mann aus dem Volke ist er allerdings keinen Moment – das bleibt ein kleiner Vorbehalt. Seine Großzügigkeit der incognito vorbeikommenden heiligen Familie gegenüber kommt als Kehrseite seiner Großspurigkeit etwas unerwartet, aber überzeugt dann. Einzig der Beginn des 3. Aktes funktionierte für mich nicht recht – da wirkte er weder echt ernsthaft noch reichte es für eine Ironisierung einer Heldensterbeszene, die Komik blieb in meinen Augen etwas aufgesetzt. Sei’s drum, da ist so viel anderes gut und richtig. Sein frisch klingender Kavaliersbariton, sicher geführt und intoniert, passt genau zum temperamentvollen Smee; nach den ersten paar Minuten wurde dann auch die Diktion richtig gut. Ein, zwei Passagen liegen ihm unangenehm tief, dafür fühlt die Stimme sich in den dramatischen und den ausgelassenen Ausflügen in die Höhe wohl. Kai Rüütel gibt seiner (auch eher großbürgerlichen) Frau Profil, vielgeplagt mit Smee, aber nicht unterzukriegen. Auch wenn sie (köstlich) zickt und schimpft, wird ihr großzügiger Mezzo nicht spitz; ihre beiden Gebete singt sie schlicht und mit Empfindung. Besonders in Erinnerung bleibt das Ende des ersten, von tiefem Blech begleiteten Gebets, wo fromme Wünsche nahtlos in «lass den Slimbroek am Misthaufen enden» übergehen – Schreker behält ganz bewusst den religiösen Tonfall bei, und Rüütel hält sich mit großem Effekt daran. Daniel Arnaldos als Smees rechte Hand Flipke im spanisch-ovalen Reifrock wird von Akt zu Akt schwuler, bis er sich vor dem Himmel mit dem versöhnten Konkurrenten Slimbroek zusammentut, und bringt generell Schwung ins Geschehen. Mit geschmeidig-lyrischem Tenor führt das Junges-Ensemble-Mitglied elegant das Geusenlied des 2. und das Trinklied des 3. Aktes an. Slimbroek, im 1. Akt bösartiger Konkurrent, verschwindet bis Ende des 3. Aktes – wo Smee vor den für ihn verschlossenen Himmelstoren eine Kneipe führt und sich schnell mit dem einstigen Feind versöhnt. Michael J. Scott bringt eine Linie in die Figur, singt sie eher aggressiv – wollen wir hoffen, dass das der Charakterisierung geschuldet ist, die unter Druck gesungenen Höhen klangen kehliger als gewohnt. Seine Diktion ist wie üblich (und wie bei der großen Mehrheit der Besetzung) sehr solide. Etwas mehr Akzent hat Nabil Suliman als zynischer Hessels, führt dafür seinen Bariton souverän bis in tenorale Höhen; Leon Košavić stattet den brutalen Alba mit potentem Bassbariton aus. Ivan Thirion verleiht dem heiligen Joseph stimmlich wie szenisch Autorität, die er mit erfrischend trockenem Humor würzt, sowohl beim Incognito-Besuch wie bei Smees Beurteilung am Schluss – umwerfend! Für einmal bleibt die Jungfrau Maria daneben unauffälliger, immerhin singt Chia-Fen Wu sie mit warmem Sopran ohne falsche Empfindsamkeit. Große Klasse ist schließlich Justin Hopkins als steinalter griesgrämiger afrikanischer (!) Petrus mit ehernem Prachtsbass, der bei aller Komik nie klischiert wirkt. Auch dem Knappen (Erik Dello), dem Tenorsolo (Stephan Adriaens) und den drei Adligen (besonders dem sonoren Bass von Onno Pels, aber auch Thierry Vallier und Simon Schmidt) hört man gern zu und versteht sie leidlich, dem Chor (Jan Schweiger) und dem Kinderchor (Hendrik Derolez) gibt Schreker ordentlich zu tun, und sie danken es mit Klangfülle, anständiger Diktion und szenischem Einsatz.

Schrekers „Schmied von Gent“ an der Opera Vlaanderen/ Szene/ Foto wie auch oben Augustijns
Am Pult steht der neue GMD der Opera Vlaanderen, der schrekererprobte Alejo Pérez, und breitet den Reichtum dieses Werks, in dem der Komponist neue Wege beschreitet, mitreißend aus. Die Bläser dominieren das Klangbild über weite Strecken, die Orchestrierung ist kammermusikalischer als im Fernen Klang oder den Gezeichneten, polyphone Strukturen wie Fuge und Passacaglia erinnern teilweise verblüffend an Hindemith oder Schostakowitschs gleichzeitig entstandene Lady Macbeth. Auch Janáček scheint mir nicht weit. Den „gewohnten“ schwebend-sinnlichen Schreker-Stil verwendet er (so viel zum Thema einfache Einteilung in Gut und Böse) für den Auftritt der Astarte und fürs Paradies. Auch setzt er witzige Zitate ein – für die Spanier und Slimbroek klingt der Flohwalzer an, in Smees Sterbeszene meine ich den Beginn der Lenskij-Arie gehört zu haben. Die heilige Familie kommt nicht zu religiösen Klängen, sondern einer orientalisierenden Pastorale auf die Bühne.
Die Produktion wird in Zukunft auch noch in Mannheim zu sehen sein. Das Regiekonzept und die Gleichung Smee-König mögen nicht ganz aufgehen, aber das Stück nicht einfach als harmloses Kasperltheater zu zeigen, ist zweifellos Schrekers Intentionen treu. Samuel Zinsly