Ruggiero Orofino

 

Das Leben, die Laufbahn und die künstlerischen Verdienste des italienischen Tenors Ruggiero Orofino (28.09.1922 – 20.05.2021) waren in vielerlei Hinsicht außerordentlich: als erstes Mitglied des Chors der Mailänder Scala kehrte er in Hauptrollen an das bedeutendste Haus Italiens zurück – und dies für nicht weniger als 10 aufeinander folgende Spielzeiten. Vom Automechaniker, Elektriker und Marinesoldaten aus dem apulischen Barletta wurde er zu einem der ersten Tenöre weltweit und zum Star im Ensemble der Berliner Staatsoper Unter den Linden. 1976 wurde er zum Kammersänger ernannt, und als einziger Tenor sang er an allen drei Berliner Opernhäusern, als die Stadt durch die Mauer geteilt war. Sein Radamès, sein Pinkerton und sein Rodolfo, die er in allen großen Häusern der Welt gesungen hat, sind unvergessen und halten jeden Vergleich mit wesentlich prominenteren Kollegen aus.

Ungewöhnlich breit war auch Orofinos stilistisches Spektrum: sowohl in Berlin und Hamburg, in München und an der Scala war er ein hervorragender falscher Zarewitsch Dimitri in Boris Godunov. Mussorgskys Meisterwerk sang er zunächst in deutscher und italienischer Sprach, schließlich 1979 unter der Leitung von Claudio Abbado auch im russischen Original. Im Belcanto der italienischen Frühromantik war er als Pollione der Norma der Caballé ein ebenbürtiger Partner an der Scala. Und nicht hoch genug kann seine Interpretation der heiklen Titelpartie von Verdis Ernani geschätzt werden, mit dem er 1970 als Protagonist an der Scala debütierte. Anders als viele Sänger aus dem romanischen Sprachraum bewies Orofino zudem, dass das deutsche Repertoire auch in Originalsprache wie Belcanto gesungen werden kann. Zum einen ist hier sein Lohengrin zu nennen – eine Partie, die er erstmals 1971 innerhalb von wenigen Tagen sowohl in Dublin auf Deutsch wie beim Maggio Musicale Fiorentino auf Italienisch sang, später dann auch an der Berliner Staatsoper und in Madrid. Sensationell ist allerdings, dass er keinerlei Berührungsängste gegenüber der zweiten Wiener Schule hatte. An der Scala sang er den Jungen Mann in Schönbergs Moses und Aron und – wiederum unter der Leitung von Abbado – den Tambourmajor in Bergs Wozzeck, ebenfalls in Mailand und beim Gastspiel der Scala in Paris.

Eine solche stilistische Bandbreite setzt natürlich nicht nur eine außergewöhnliche Stimme sondern auch eine ebenso hervorragende Technik voraus. Der erste Beleg dafür ist zunächst Orfinos außergewöhnliche stimmliche Langlebigkeit. Mit über sechzig Jahren sang er manch jüngeren Cavaradossi oder Radamès an die Wand, und meisterte die Tessitura der kurzen aber extrem hoch liegenden Partie des italienischen Sängers mit Bravour – viele Kollegen verabschieden sich in diesem Alter von der Bühne oder sind zu regelmäßigen Transpositionen gezwungen. Seine Technik erarbeitete sich Orofino im intensiven Studium mit den Repetitoren und Dirigenten der Scala und vor allem bei der großen Mercedes Llopart. Selbst eine bedeutende Sopranistin, ging sie vor allem als Lehrerin von Alfredo Kraus, Renata Scotto, Elena Souliotis, Fiorenza Cossotto und eben Ruggiero Orofino in die Geschichte des Belcanto ein.

Diese technische Souveränität und ein Vortragsstil, der keinerlei veristische Exzesse kennt, machen Orofino zu einem herausragenden Sänger, selbst für das goldene Zeitalter, in dem er seine Karriere begann. Denn trotz seiner dunklen, genuinen lirico-spinto Stimme und seines feurigen Bühnentemperaments war er ein Klassizist unter den dramatischen Tenören seiner Generation. Auf seinen Aufnahmen hören wir eine substanzreiche und vibrante Stimme, die jederzeit perfekt fokussiert sitzt und sich souverän im Passaggio bewegt. Dies zeigen exemplarisch die – in dieser Hinsicht äußerst anspruchsvollen – Arien aus Mascagnis Cavalleria und Iris. Darüber entfaltet sich eine brillante, vollkommen mühelose Höhe bis zum C bzw. Des’’ (im Duett des Herzogs mit Gilda aus Rigoletto). Dramatische Attacken singt Orofino mit Verve, doch niemals wird die Gesangslinie deklamatorischen Akzenten oder veristischen Schluchzern geopfert. Immer bleibt sie klar, liegt die Stimme konsequent auf dem Atem, so dass jederzeit Diminuendi und Smorzandi in die Mezza voce möglich sind. All diese Qualitäten – zusammen mit einer glasklaren Diktion, die den Sinn jeder Phrase und des einzelnen Wortes herausarbeitet – sind auch in den Aufnahmen in deutscher Sprache zu bewundern.

Eine „voce parallela“ (Lauri-Volpi), die dem Gesang und der Stimme Orofinos vergleichbar wäre, wird man unter seinen Zeitgenossen schwer finden. Am ehesten kommt einer der größten Tenöre der Vorkriegszeit dafür in Frage: Giovanni Martinelli, der nach Carusos Tod an der Metropolitan Opera dessen dramatisches Repertoire übernahm. Denn wie Martinelli exzellierte Orofino in Partien wie Radamès, Manrico, Don Carlos, Cavaradossi, Chénier und Calaf. Anders als Martinelli aber erhielt er sich bis in die letzten Jahre seiner Karriere die Fähigkeit, zwischen seinem Spinto-Repertoire und lyrischen Partien wie Duca, Rodolfo oder Pinkerton zu alternieren.

Ganz offensichtlich sind die Parallelen zu Martinelli in den Arien des Calaf, die Orofino mit großzügiger Tongebung und Leidenschaft, dabei mit souveräner Linienbildung singt. Noch enger schließt er mit Verdis Ernani an seinen großen Vorgänger an. Sein Erfolg in der Partie beim Debüt an der Scala in der Eröffnungsserie der Spielzeit 1969/70 reichte an den von Domingo mühelos heran, von dem er die Partie im zweiten Teil der Vorstellungsserie übernahm. Nach Martinelli gehört Orofino zu den ganz wenigen Tenören, die souverän die hohe Tessitura der Auftrittsarie bewältigen, die gruppetti der Cavatina wirklich con eleganza phrasieren und in der Cabaletta Dramatik und Agilität vereinen. Zudem krönt Orofino nicht nur diese mit einem langen hohen B sondern interpoliert in der Kadenz der Cavatina ein stupendes hohes H, das das Publikum der Scala zu  Recht mit einem Beifallssturm beantwortet.

Zwei Jahrzehnte lang war Orofino der unumstrittene Star im italienischen Repertoire an der Berliner Staatsoper, und zahllose Fans in Europa und Übersee (wo er u.a. an der Met und am Teatro Colon mit seinem äußerst anspruchsvollen Publikum sang) erinnern sich noch heute mit Begeisterung an seinen Gesang und seine Interpretationen (wie auf vielen seiner Dokumente bei youtube nachzuerleben ist)/ Foto oben Archivio storico del Teatro alla Scala)Angelo Raciti

    1. Karl-Heinz Schön

      Ein wunderbarer Sänger,habe ihn mehrmals an der Staatsoper in Ostberlin erlebt .Habe noch
      ein Theaterprogramm von Madame Butterfly von der Staatsoper gefunden vom 18.Mai1974.
      Leider gibt es keie Aufnahmen mit ihm soweit ich weiss .

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  1. Henning Beil

    Orofino wten wnderbarer Tenor, den ich glücklicherweise sehr oft an der Berliner Staatsoper erleben durfte. Es ist traurig, dass die Schallplattenindustrie ihn so stiefmütterlich behandelt hat. Ich glaube, es gab eine ETERNA-Platte mit ihm. Es wäre schön, wenn diese mal wieder veröffentlicht werden würde.

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