Bruckners „Linzertörtchen“

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Anton Bruckner (1824 – 1896) wollte zeit seines Lebens eine dramatische Oper schreiben. Stücke wie Helgoland (1873) oder Der Germanenzug (1836) sind beredte Zeugnisse für diese Sehnsucht, Offenbach und Beethoven gleich zu tun. Die 1848 (was für ein Jahr!) begonnene tragische Oper Linzertörtchen geht zurück auf eine Lektüre von A. G. Beisensteins Dichtung gleichen Namens, deren Autor ein bekannter niederösterreichischer Schriftsteller und Verherrlicher der alpinen Landschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Der junge Anton Bruckner/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Bruckner erkannte, erstmals 1846 mit dem Roman vertraut geworden, die potenziellen dramatischen Möglichkeiten und bat seinen engen Freund und Lehrer Simon Schechter um Hilfe, mit dessen Kooperation er das Libretto erstellte, dessen Schwächen nicht zu leugnen sind. Autobiographische (wenn auch peinliche und deshalb stets verdrängte) Erlebnisse haben zweifellos Einzug in die Vorlage gefunden, wurde doch Ähnliches aus Bruckners Kindheit selbst erst vor kurzem bekannt (vergl. Berichte der Brucknerforschung 111, Linz 2006). Das unerwartete Sujet bezieht deutlich Antithese zu der leichtlebigen Wiener Operette, der Bruckner stets abhold war und deren Frivolität er erheblich missbilligte. Statt „Saus´ und Braus´“ wollte er die Abseiten der Wiener Großstadt und deren Verrohung zeigen. Diese sozialkritischen Tendenzen jener Jahre schlagen sich auch in seinen verschiedenen Vertonungen aus der Zeit, so in seinem Vokalwerk Um Mitternacht von 1844 (a capella Männerchor) nieder, das durchaus als Vorstufe auch in musikalischer Sicht zu Linzertörtchen gewertet werden kann.

In eben dieser Oper ist bereits deutlich Bruckners frühe Auseinandersetzung mit Wagners Musiksprache zu erkennen, die auf eine von ihm besuchte Vorstellung des Fliegenden Holländer in Linz zurückging. Deutliche Leitmotivik etwa findet sich in der Verwendung des Cello-Solo für Wuff, auch im Gebrauch des Englischhorn für die idyllisierte Bergwelt des 3. Aktes (1. Teil). Männlich-martialische Themen etwa werden für Harald und Franz verwendet, gebrochene und quasi der Manneskraft beraubte für den alten Buchenau. Aber auch die weit ausschwingende, beinahe „endlose“ Melodie (etwa im Sinne des späten Wagnerschen Tristan) findet für die Schilderung der persönlichen Misere Mitzis Verwendung. Die versöhnlichere D-Dur-Tonart schließlich – so typisch für spätere Bruckner-Symphonik – begegnet uns in dem, trotz des von seiner Tragik überschatteten positiven Schluss eines „neuen Anfangs“.

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mitzi 2Linzertörtchen wurde vom Komponisten nicht zu Ende geschrieben – man mag über die Motive spekulieren: Waren es die für damalige Zeit anrüchigen Szenen, war es das von ihm nur konzipierte Finale, war es vielleicht auch die Verwendung eines Hundes in einer Oper?. Sein Freund Gustav Mahler übernahm, wie bereits im Falle von Webers Drei Pintos, die endgültige Orchestrierung (und fügte zweifellos einige eigene Wendungen mit ein – eine endgültige Überprüfung des originären Brucknerschen Anteils steht immer noch aus; vergl. dazu auch den Aufsatz von Irmtraud Sennemeyer, Bruckner – Mahler: eine intime Männerfreundschaft in: Festschrift zu Anton Bruckners 100. Geburtstag, Linz, 1924). Mahler dirigierte auch die einzige Aufführung, 1896 im Wiener Grabentheater zum Andenken an seinen Freund – eine Benefizvorstellung für die in Armut lebende Witwe des Komponisten. Danach fiel das Werk in Vergessenheit, begünstigt durch den Brand des Theaters und die daraus resultierende Vernichtung des originalen Notenmaterials im Büro des Wiener Musikverlages Rosenthal und Erben im selben Gebäude.

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Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Blick auf das Wiener Grabentheater zur Zeit der konzertanten Premiere//Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Dabei ist vieles aus dieser Oper durchaus erinnerungswürdig, etwa das schicksalhafte Adagio (auf Motive, die später in Helgoland wieder auftauchen) im letzten Bild, wenn Wuff das Kind retten will. In jüngster Zeit ist eine Zensurkopie der Partitur, wenn auch mit voraussehbar erheblichen Strichen, aus den Archiven der Wiener Polizeipräfektur ans Tageslicht gekommen. Eine Neufassung wurde vom ehemaligen DDR-Verlag Schwäbischer, Leipzig vorbereitet, aber verworfen aus ideologischen Gründen (Margot Honegger sprach sich dagegen aus). Der chilenische Verlag Gomes, Carriba & Wagner hingegen versucht gerade die Rechte für eine Rekonstruktion zu erwerben – der bekannt-kontroverse  lateinamerikanische Regisseur Manuel de Osta plant in Rio de Janeiro eine erste szenische Fassung.

mitzi 1Die Linzer Klangwolke hatte Interesse angemeldet, aber wie das ZDF auch dieses wieder eingestellt – das Sujet, so hörte  man, schade dem Andenken des doch als sehr seriös bekannten Komponisten, zumal auch die Erben und Bruckners Hauptverlag, die Universal Edition, sich dagegen aussprachen. Es bleibt als Alternative nur der Blick über den Atlantik, wo das Caramoor-Festival wohl doch in zwei Jahren an die Realisierung einer kritischen Ausgabe gehen wird, Katja Czellnik ist als mögliche Regisseurin für diese Frauenoper im Gespräch

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Zum Inhalt auch einige musikdramaturgische  Anmerkungen: Prolog – Im Schloss Gräsenberg (Karpaten, K. u. K.) kommt Gräfin Edeltraud (Koloratursopran) gerade dazu, als ihr Mann, Graf Joachim (Tenor), ihren Liebhaber erwürgt, mit dem er, der Voyeur,  sie in der Nacht zuvor beobachtet hat (Melodram). Ihrer ansichtig, flieht er trotz ihrer verzweifelten Rufe in die Berge. Edleltraut beschließt, ihm zu folgen, auch wenn das Kind unter ihrem Herzen vom Studienfreund Gernoth ist, dem intimen Freund des Erwürgten, Harald. Vorhang.

Noch einmal Traude Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper "Draußen im Wiener Wald"/Foto Steckek Erben

Noch einmal Traudel Hubelocz-Greifshuber und Adolf Alois Steckeck, die Sänger der Uraufführung, in Damraus Oper „Draußen im Wiener Wald“/Foto Steckek Erben

Akt 1: In einer Wiener Spritzbäckerei stellt sich eine junge, völlig erschöpfte und heruntergekommene Frau als Aushilfe in der Verkaufsstube vor, sie nennt sich Mitzi. Der Bäckergeselle, Franz (Tenor), wird ihrer ansichtig und verschwindet bleich in der Backstube. Der Inhaber der Bäckerei, Herr Gablonz (Bass), macht Mitzi schöne Augen – auch wenn seine Frau Hedi (Alt) den Braten riecht und sich bereits wappnet, kennt man doch die losen Sitten ihres Mannes und seines Freundeszirkels (heiteres Quartett, allgemeines Ensemble und Schluss).

Auch für Riskanteres war sich Traude Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade - hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette "Frivole Spiele"/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Auch für Riskanteres war sich Traudel Hubelocz-Greifshuber im Dienst der Kunst nicht zu schade – hier mit Erwin Stächer als Angelika in Schmerbachs damals sehr erfolgreicher Operette „Frivole Spiele“/Foto Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 2: Mitzi allein in ihrer kalten, spartanischen Kammer (großes Solo). Sie beklagt ihr Los in der Großstadt auf der Suche nach Harald, dem Vater ihres Kindes (Saxophonsolo – dies weit vor Massenets Verwendung des Instruments im Wiener Werther!). Um ihren Lebensunterhalt einigermaßen aufzubessern, weil sie ihr bei einer alten Frau verstecktes Kind ernähren muss,  hat sie sich ein paar leichten Dingern angeschlossen, die sie in Wiens lockere Gesellschaft eingeführt haben. Mitzi ist – als Kind vom Land – sofort ein Erfolg, und weil sie in ihrer Unschuld und in prekären Situationen stets ein paar Linzertörtchen bei sich hat und daran knabbert, um ihre Schüchternheit zu verbergen, heißt sie bald nur „Linzertörtchen“. Dabei hat sie es einem reichen alten Grafen, Fürst Buchenau (Bass), besonders angetan, der seinen Bernadiner Wuff mit einem Körbchen voller Linzertörtchen zu ihr schickt, wenn er Verlangen nach ihr hat. So auch nun: Wuff (Tanzpantomime/Schellen und Schlagzeug) kratzt an der Tür, und Mitzi seufzt: Es ist mal wieder soweit. Sie verhüllt ihr Gesicht mit dem neuen Schleier um und will aus der Tür gehen, da stellt sich ihr ein Mann in den Weg – Harald (Tenor). „Wo ist mein Kind?“ schreit er und greift sie an. Der Bäckergeselle Franz mit der langen Narbe auf der Wange springt hinzu. Die Männer raufen, und Mitzi rennt davon, zum Fürsten, weil sie an ihr Kind und das Geld denkt.

Trude Hubelocz-Greifshuber: Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Traudel Hubelocz-Greifshuber: Amerikanisches Publicity-Foto/Sammlung Ernie Bruckner, Nevada

Akt 3: Auf einer Wiese bei Schönbrunn. Mitzi stillt ihr Kind, da stürzt die alte Ziehmutter (Alt) herzu: Polizei (Bariton, Bass/großes Orchester – auch hier starke Ähnlichkeiten zum Vorspiel des Ring von Wagner später – es bleibt interessant zu untersuchen, wer wen befruchtet hat). Mitzi erbleicht, hat sie doch – wie sie meint – den alten Fürsten Buchenau umgebracht, als sie sich nicht anders zu helfen wusste. Sie wird abgeführt. Szenenwechsel.

Im Salon des Palais Buchenau an der Donau. Fürst Buchenau sitzt mit einem Halsverband und einem gewickelten Fuß (Gicht/Solo mit Oboe) am Fenster. Neben ihm Franz, nun nicht mehr Bäckergeselle, sondern sein Neffe, Graf Joachim von Gaisenberg. Herein wird Mitzi geführt, das Kind auf dem Arm. Sie erkennen sich und fallen sich in die Arme. Als er jedoch das Kind anfassen will, schreit sie: „Er ist nicht von Dir!“ Joachim, rasend vor Wut, packt den kleinen Jungen und schleudert ihn aus dem Fenster in die nahe Donau. Wulff jedoch springt hinter dem Säugling her. Man hört Geheul. „Edeltraut, lass uns einen neuen Anfang machen, im April!. April, ja Joachim!“ Evi Rehgert

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Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts helma Huppert/ASO

Arbeitskreis Sexualität in der Oper: rechts die Autorin Evi Rehgert/ASO/Sammlung CSO Bogota

Die austro-amerikanische Autorin Evi (Evelyne) Rehgert ist renommierte Feministin mit Schwerpunkt LGBT und Frauen-Literatur (bekannt sind ihre Biographien berühmter  Persönlichkeiten wie Walpurga Leider und Isolde Chamberlain), aber auch über Tagelöhner-Frauen in der österreichischen Wachau, wo sie im dortigen Kloster im Rahmen des Symposiums über Prostitution auf dem Lande im frühen 19. Jahrhundert eine der Entdeckerinnen des verschollen geglaubten Bruckner-Palimpzests war, das unter abenteuerlichen Umständen dorthin gelangt ist – vergl. den Bericht im Wachauer Morgen, Oktober 2011.

Weiters ist Evi Rehgert bekannt für ihre Kurse und Untersuchungen zu Geschlechtskrankheiten infolge zu hoher Zuckerwerte bei lesbischen Sängerinnen des K.u.K-Kaiserreichs, hat auf diesem Feld promoviert und eine Professur an der Universität Bogotà inne. (Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)

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Dem Andenken meines unvergessenen Freundes Jörg Graepel gewidmet!/G. H.