Gre Brouwenstijn

 

Gre Brouwenstijn (geboren als Gerda Demphina: 26 August 1915 in Den Helder – 14 December 1999 in Amsterdam) hat mir mit ihrem Fidelio einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich sah sie in den späten frühen Siebzigern an der Deutschen Oper Berlin im Tandem mit Hans Beirer (neben der notorisch munteren Lisa Otto), beide nicht unstatiös und figürlich quasi ineinander passend, zumal keine dramatische Sängerin im kurzen Lederwams der Kuchta attraktive Figur machte. Aber die leuchtende, wirklich vor Emotionen vibrierende große Stimme der Brouwenstijn, ihr dramatischer Ausdruck, ihre völlige Verinnerlichung der Leonore wirkten im wahrsten Sinne mesmerisierend. Ich war völlig gebannt von ihrer Verkörperung und vergaß alles Drumherum. Ihre große Arie geriet zu einer Hymne an die Freiheit, ihr Duett mit dem wie stets tapferen Beirer zu einem Fanal der Gattenliebe.

Ihre Aufnahmen geben diese magische Wirkung nur in Teilen wieder, dann fand ich sie ein wenig zu oft recht „atmig“, manchmal auch zu bürgerlich im Ausdruck. Aber die gerühmte Don-Carlos-Aufführung aus London oder die Sieglinde auf der Leinsdorf-Einspielung sind wirklich unerreicht und wunderbar. Im Folgenden ein Porträt der großen holländische Sängerin von Paul Korenhoff von 1991, das wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier wiederholen. G. H.

 

Im Juli 1954, als die Proben für die vierten Bayreuther Festspiele nach dem Kriege in vollem Gange waren, sah man vor allem der Tannhäuser-­lnszenierung von Wieland Wagner mit Spannung entgegen. Zum einen war der „Tannhäuser“ in Bayreuth zuvor nur selten zu sehen gewesen, zum anderen wuchs die Überzeugung, dass Wielands Regiestil Neu-Bayreuth einen ganz eigenen Stempel aufdrücken würde. Im Verlauf der Proben begann sich die Neugier der bekannten Bayreuther Gerüchteküche auf die Solisten zu konzentrieren. Der Heldentenor Ramon Vinay aus Chile war in Bayreuth kein Unbekannter mehr, und dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau war sein Ruhm bereits vorausgeeilt. Besonders gespannt war man auf die neue Elisabeth, eine holländische Sopranistin, die den Gerüchten zufolge eine warme, strahlende lyrische Stimme mit dem Äußeren des Filmstars Ingrid Bergman vereinte Bis dahin war die Karriere der 1915 im holländischen Den Helder geborenen Sängerin ruhig  verlaufen.  Die Kriegsjahre hatten ihr einen frühen Start verwehrt, und während der ersten Jahre danach sang Gre Brouwenstijn hauptsächlich in den Niederlanden und in England (vor allem Verdi: Aida, Trovatore-Leonora, Ballo-­Amelia, Desdemona; aber auch Mozart und Beethoven ).

Ihr Bayreuther Debüt stellte den Beginn einer bedeutenden Wagner-Karriere dar. So wurde sie bei den Festspielen von 1956 als Freia, Sieglinde, Gutrune und Eva gefeiert. Ihre Senta und Elsa, Rollen, die sie anderswo mit großem Erfolg sang, sollte Bayreuth nie zu hören bekommen. Ihre Gelassenheit und der Verzicht auf eine Karriere um jeden Preis, eben Eigenschaften, die schon die vorangegangenen Jahre geprägt hatten, führten 1957 nämlich zu einem Bruch zwischen ihr und der Familie Wagner. In diesem Jahr hatte sie auch anderweitige Verpflichtungen, so zum Beispiel beim Holland-Festival, das traditionellerweise bis in die Mitte des Juli hineinreicht, und deshalb nahm sie die Einladung zu den Wagner-Festspielen nicht an. Ein solches Verhalten wurde in Bayreuth nicht gern gesehen. Die halbe Welt mochte der Holländerin Gre Brouwenstijn als einem der wenigen bedeutenden jugendlich-dramatischen Soprane zujubeln – wer es in dieser Zeit wagte, ein Engagement nach Bayreuth auszuschlagen, brauchte sich keine Hoffnung mehr auf eine erneute Einladung machen. Es hat Gre Brouwenstijn nicht geschadet, und über viele Jahre hin war sie an der Wiener Staatsoper einer der von Karajan am meisten geschätzten Wagner-Soprane. Die Brüder Wagner konnten ganz ohne sie auch nicht auskommen, denn obwohl sie in Bayreuth nie mehr sang, hat Wieland Wagner sie später doch für Produktionen verpflichtet, die er außerhalb Bayreuths inszenierte.

Vier Jahre nach ihrem sensationellen Bayreuther Debüt bot sich Gre Brouwenstijn eine neue große Aufgabe: 1958 sang sie am Londoner Opernhaus von Covent Garden eine Reihe von Vorstellungen von Verdis Don Carlo unter der Leitung von Carlo Maria Giulini in der legendären Inszenierung von Luchino Visconti. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon lange keine Unbekannte mehr. Sie besaß internationale Anerkennung als Verdi­-Sopran, nicht nur aufgrund ihrer stimmlichen Mittel, sondern auch weil sie über ein bemerkenswertes Stilgefühl und eine große Schauspieler-Persönlichkeit verfügte. Ihr Auftreten wirkte gelegentlich statuarisch, aber von dem Moment an, da sie mit ihrer eleganten Erscheinung die Bühne betrat, strahlte sie Persönlichkeit und Wärme aus und wurde – wenn es die Szene erforderte – zum Mittelpunkt der Handlung. Deshalb war sie besonders als Aida und Amelia erfolgreich. Noch deutlicher zeigte sich ihre Stärke jedoch in Rollen, die grundsätzlich einen passiven Charakter besitzen, so zum Beispiel bei Verdis beiden Leonoren und Desdemona. Als Zeitgenossin einer Callas, Olivero, Rysanek, Varnay und Mödl und unter dem Einfluss vieler großer Dirigenten und Regisseure der fünfziger Jahre begriff sie, dass schönes Singen allein keine Oper macht, dass vielmehr der Gesang aus der darzustellenden Persönlichkeit hervorgehen muss. So konnte sie sogenannte Passivität in eine begreifbare und nachvollziehbare Charaktereigenschaft umwandeln und der Tragik dieser von ihr gespielten Persönlichkeiten eine tiefere Dimension verleihen. In dieser Beziehung erreichte sie ihren Höhepunkt mit der Darstellung der Elisabetta im Londoner Don Carlo neben solchen Größen der damaligen Zeit wie Fedora Barbieri, Jon Vickers, Tito Gobbi und Boris Christoff. Die großartigen Kostüme Viscontis passten perfekt zu ihrer Bühnenerscheinung, und der Charakter einer Königin, die ihre unglückliche Ehe als Gefängnis erlebt, aber dennoch gegen die Liebe zu einem anderen Mann ankämpft, war wie für sie geschaffen. In dieser Rolle fand sie die für sie ideale Verbindung von innerem Adel, Herzenswärme und Opferbereitschaft.

Die Rolle, in der diese Elemente am idealsten verkörpert sind und die deshalb auch ihre großartigste war, ist die Leonore im Fidelio. Zum ersten Mal sang sie die Titelpartie in dieser Oper am 15. November 1949 – im Februar 1971 nahm sie mit ihr Abschied von der Bühne. Während all dieser Jahre hat sie die Musik Beethovens immer wieder gesungen, und nach Ablauf einiger Zeit galt sie von Berlin bis Buenos Aires als die ideale Fidelio-Interpretin. Vier Jahre nach dem Londoner Don Carlo eröffnete sich ihr mit der Plattenaufnahme ein neuer Horizont. Nach einer Vorstellung des Ballo in San Francisco fand sie in ihrem Hotelzimmer ein Telegramm des bejahrten Bruno Walter vor, mit der Bitte, ihn am folgenden Morgen in Beverly Hills aufzusuchen. Der Grund wurde bald deutlich: Walter wollte eine Aufnahme des Fidelio machen und suchte dafür eine Leonore. Zusammen gingen sie die gesamte Partie durch, und danach war die Unterzeichnung des Vertrages nur noch eine Formalität. Einen Monat später traf jedoch die Mitteilung ein, dass Bruno Walter gestorben sei, und Gre Brouwenstijn kam nie dazu, ihre Glanzrolle im Schallplattenstudio einzuspielen (Aber zahllose „graue“ Aufnahmen mit ihr in dieser Partie ebenso wie Verdis Elisabetta aus London und viele mehr belegen ihren Rang/ G. H.).

Es hat wenig Sinn zu bedauern, dass ihr Fidelio nie offiziell auf Schallplatte festgehalten wurde, so wie es auch keinen Zweck hat darüber nachzugrübeln, wie ihre Karriere wohl verlaufen wäre, wenn sie 1957 in Bayreuth nicht abgesagt hätte oder wenn sie zu dieser Zeit Rollenangebote von der Met oder der Scala angenommen hätte. Für die, die sie noch im Theater oder Konzertsaal erlebt haben, bleiben Erinnerungen im Übermaß; an ihre Rollen in Opern von Wagner, Verdi und Beethoven, aber Gre Brouwenstijnauch an ihre Verkörperung der Jenufa, Tosca, Marta (Tiefland), Agathe, Tatjana oder Chrysothemis und sicher nicht zuletzt an die vielen Male, da sie die Sopranpartie im Verdi-Requiem oder in der Neunten Symphonie von Beethoven (namentlich letztere unter Furtwängler anlässlich der Bayreuther Festspiele im Jahre 1954) gesungen hat. Das größte Kompliment, das man Gre Brouwenstijn zurückblickend machen kann, ist vielleicht, dass sie nicht nur als Sängerin, sondern vor allem als beeindruckende Charakterdarstellerin in Erinnerung bleibt. Paul Korenhof/Übersetzung. Barbara Geßler/Textred. G. H.)

 

Paul Korenhof war der Chefredakteur des holländischen Opernmagazins Opera Scala und der Schallplattenzeitschrift Luister, er hat zudem ein Recital von Gre Brouwenstijn bei Philips mit Arien von Beethoven, Weber, Verdi und Wagner herausgeben, dem der vorliegende Artikel entnommen ist; gleichzeitig ist bei DECCA die Leinsdorf-Walküre wieder erschienen. In einer Sonderedition hat zudem Covent Garden bei opus arte ihren Don Carlos als CD herausgebracht.  Berliner Opernbesuchern wird ihr Fidelio in Erinnerung bleiben! Foto oben: Gre Brouwenstijn als Sieglinde in San Francisco/ Künstlerpostkarte/ Korenhof