In Wahrheit unvergleichlich

 

„Wir werden seinesgleichen nimmer hören und sehen“ – mit dieser starken Aussage schließt der deutsche Musik- und Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer in seinem kenntnisreichen Buch Große Stimmen (Metzler-Verlag 1993) sein Kapitel über George London. „Überlebensgroß, überragend“ – heißt es dort –, „London konnte keine kleinen Rollen, keine kleinen Menschen darstellen, ‚bigger than life‘, das war die ihm angemessene Konfektionsgröße, er war das Idealbild des Heldenbaritons…” Und Fischer resümiert nach differenzierter Schilderung von Leben und Karriere des Sängers: „Es ist, glaube ich, keine nachträgliche Verklärung, wenn ich behaupte, dass London unter den Sängern der Nachkriegszeit eine Ausnahmeerscheinung von einem Maß war, wie es heute verloren gegangen zu sein scheint. Ich sehe im Heldenbaritonfach beeindruckende Stimmen, aber ich sehe keinen Boris, Wotan, Holländer, Giovanni, Golaud von dieser geradezu antiken Größe…“ Jens Malte Fischers Urteil ist umso bemerkenswerter, als er den Sänger nur relativ spät und lediglich in drei seiner Partien – als Don Giovanni, Amonasro und Amfortas – selbst auf der Bühne erlebt hat und Londons andere bedeutende Leistungen nur von einigen Schallplatten kannte, die kurz nach Londons Tod greifbar waren.

In der Zwischenzeit ist eine Vielzahl von Ton-Dokumenten neu und wieder veröffentlicht worden, vor allem zahlreiche Livemitschnitte, die George Londons unverwechselbare Ausstrahlung als dramatischer Sänger festhalten – und wohl auch die Wirkung erklären, die von seinem Gesang, seiner Persönlichkeit bis heute bausgeht. Opernliebhaber in aller Welt, die London nicht mehr selbst auf der Bühne erlebt haben, sammeln nicht nur seine Aufnahmen, sie tauschen in Internet-Foren ihre Eindrücke, vergleichen und werten in einer Weise, die nicht selten von jener persönlichen Betroffenheit zeugt, zu der Jens Malte Fischer sich bekennt: „Ich geniere mich auch nicht zuzugeben, dass Londons Stimme auch heute noch, 30 Jahre nachdem ich sie zum letzten Mal gehört habe, die oft belächelte Gänsehaut erzeugen kann, eine Wirkung, die sich nur schwer begründen und beschreiben lässt.“

Die Stimme war aber sicherlich nur ein Teil der ungewöhnlichen Wirkung des Sängers, nach dessen Debüt an der Metropolitan Opera in Verdis Aida der legendäre New Yorker Kritiker Virgil Thomson schon den 31-jährigen London als einen der größten singenden Darsteller bezeichnet hatte, an den irgendjemand von uns sich erinnern kann. London war eine in jeder Weise ungewöhnliche Erscheinung. Groß und schlank, agil und zugleich sehr diszipliniert in seinen Bewegungen, besaß er eine enorme Ausstrahlung, die ihm Wirkung und Erfolg sicherten, wo immer er auftrat. Dabei steckten hinter der scheinbaren Leichtigkeit, der sieghaften Attitüde seines Auftretens nicht nur eiserne Disziplin und ein ausgeprägtes künstlerisches Bewusstsein, sondern auch Ernst und Verantwortungsgefühl.

Er, dem scheinbar alles so leicht fiel, nahm nichts leicht – weder seine Arbeit noch die Menschen

London als Boris Godunow (Arthaus/George-London-Foundation)

London als Boris Godunow (Arthaus/George-London-Foundation)

, mit denen er arbeitete und für die er arbeitete. Er war ein Perfektionist nicht nur, was das Singen betraf. Die Beherrschung der Sprachen, in denen er sang – englisch, französisch, italienisch, deutsch und russisch – war ihm selbstverständliche Grundlage der Artikulation, sportliches Training als Basis gestischen Ausdrucks gehörte ebenso zu seinem Arbeitsprogramm wie gründliches Wissen um den geistigen, kulturellen und stilistischen Hintergrund der Werke. Auch Leben und Karriere George Londons dürfen als ungewöhnlich bezeichnet werden. Als Sohn russisch-jüdischer Emigranten in Montreal geboren, wuchs George London in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf. Zwar hatte ihn Oper schon früh fasziniert, doch erst nachdem Stimmbruch entdeckte er seine Stimme und die Freude am Singen. In Los Angeles begann er Gesang zu studieren und wurde Mitglied des von dem aus Deutschland emigrierten Hugo Strelitzer gegründeten „Opera Workshop“. Ersten Auftritten im Opernchor von Los Angeles folgten kleine Rollen in San Francisco und im Rahmen eines Tourneeunternehmens.

Ein Vertrag mit der New Yorker Agentur Columbia Artists brachte dem 27-jährigen erste Engagements im Konzertsaal – unter anderem sang London 1946 in New York die Uraufführung von Paul Hindemiths Requiem – und ab 1947 tourte er mit der Sopranistin Francis Yeend und demTenor Mario Lanza als „Bel Canto Trio“ quer durch Amerika. London aber wollte zur Bühne. Da es damals jedoch in den USA kaum Möglichkeiten gab, eine Opernkarriere zu beginnen, entschloss er sich, nach Europa zu gehen. In Brüssel, wo die Wiener Staatsoper ein vielbejubeltes Gastspiel gab, sang er im Juni 1949 Karl Böhm und dem Ensemble vor und wurde sogleich engagiert. Anfang September debütierte George London in Wien als Amonasro in Verdis Aida und avancierte schnell zum Liebling des Wiener Publikums. Obwohl er nie zuvor auf einer großen Bühne gestanden hatte, sang der 29-jährige innerhalb weniger Wochen zentrale Partien seines Faches in Carmen, Fürst Igor, Hoffmanns Erzählungen, den Mephisto in Gounods Faust, vor allem auch zum ersten Mal die Titelrolle in Mussorgskis Boris Godunow. Alle diese Partien sang Londo inmitten deutschsprachiger Aufführungen in der Originalsprache und auch das sicherte dem jungen Sänger eine Art Ausnahmestellung im Ensemble der Wiener Oper, das für etliche Jahre seine künstlerische Heimat werden sollte. Die Titelrollen in Eugen Onegin und Don Giovanni, Almaviva in Die Hochzeit des Figaro, Scarpia in Tosca und immer wieder Boris Godunow waren die herausragenden Leistungen Londons im Ensemble der Wiener Staatsoper.

Wie kein anderer Sänger seiner Generation verkörperte George London einen neuen Sängertyp und es ist kein Wunder, dass Wieland Wagner, auf der Suche nach neuen Sängern für den Wiederanfang in Bayreuth, auf den Amerikaner aufmerksam wurde. Im September 1950 sang London in Bayreuth vor – Wotans „Abschied“ unter anderem – und Wieland Wagner wollte ihn spontan für die Rolle des Göttervaters im ersten „Neu“-Bayreuther Ring. Allein London fühlte sich dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Dafür wurde sein Amfortas in der Bayreuther Eröffnungspremiere von 1951 für ein Dutzend Jahre zum Maß dieser Partie. Es folgten die Titelrolle im Fliegenden Holländer ab 1956, später auch der Wolfram in Tannhäuser und endlich – allerdings nicht in Bayreuth, sondern mit Wieland Wagner und Wolfgang Sawallisch in Köln – der Wotan. Die geplante Übernahme dieser Rollengestaltung in das Bayreuther Ring– Ensemble kam nicht mehr zustande. Etliche Studioaufnahmen unter Hans Knappertsbusch, Georg Solti oder Erich Leinsdorf sowie Livemitschnitte aus Köln und New York machen aber deutlich, was Wieland Wagner an Londons Wotan fasziniert haben mag: die dunkle, mächtig strömende Stimme, vor allem aber der Ernst und das völlig unsentimentale Pathos der Diktion stellen diesen Wotan den größten Wagner-Sängern an die Seite. George Londons internationale Karriere, zu der neben seiner Tätigkeit an der Wiener Staatsoper und in Bayreuth vor allem die New Yorker Metropolitan Opera, aber auch Gastspiele an allen großen Opernhäusern und umfangreiche Konzerttourneen gehörten, fand infolge einer Stimmbandlähmung in den Sechzigerjahren ein allzu frühes Ende. London begann als Regisseur, als Künstlerischer Leiter des Kennedy Center of Performing Arts, des neu gegründeten National Opera Institute und später der Oper in Washington sowie als Lehrer und Mentor junger Sänger ein zweites, nicht weniger erfülltes Leben. Auch diesem aber war keine lange Dauer vergönnt. Während einer Europa-Reise erlitt London 1977 in München einen Herzstillstand, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholt hat. Nach langjährigem, tragischem Siechtum ist der Sänger 1985 in New York gestorben.

Sein Wirken aber lebt im Gedächtnis zahlloser Opernfreunde und seiner Schüler, nicht zuletzt in der von ihm ins Leben gerufenen Stipendienstiftung weiter. Als Präsidentin der „George London Foundation for Singers“ setzt sich Nora London unermüdlich für die Förderung junger Sänger ein. Viele, die heute zu den führenden Sängern der Opernbühne gehören, haben als Preisträger und Stipendiaten der George London Foundation ihre Karriere begonnen.

 

Bilddokumente und ein Portrait

London als Don Giovanni (Arthaus/George-London-Foundation)

London als Don Giovanni (Arthaus/George-London-Foundation)

Nora London hat 1987 und 2005 in New York zwei Bücher veröffentlicht, in denen sie in berührender Weise Leben, Erfolg und tragisches Schicksal George Londons darstellt. Im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Ausgabe ihres zweiten Buches („Von Göttern und Dämonen“, Löcker-Verlag Wien 2009) ist der Plan entstanden, neben den vielen Tonaufnahmen auch die erhaltenen audiovisuellen Dokumente George Londons einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Arthaus Musik hat diesen Vorschlag aufgegriffen und gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk und der George London Foundation die vorliegende Dokumentation produziert. Das von der George London Foundation gesammelte Filmmaterial stammt überwiegend aus den Pionierzeiten des Fernsehens, In denen Musikprogramme noch nicht den Stellenwert hatten, an den wir uns inzwischen gewöhnt haben. Von großen amerikanischen Firmen gesponserte Showprogramme mit Stars der Metropolitan Opera enthielten vor allem Populäres – neben Nummern aus Musicals auch die eine oder andere Opernszene; Aufzeichnungen kompletter Opern gab es vor 1960 auch in Europa so gut wie nicht. Immerhin verdanken wir einer solchen TV-Show vom 26. November 1956 ein unvergleichliches Filmdokument: Maria Callas als Tosca und George London als Scarpia in einem Ausschnitt aus dem zweiten Akt der Puccini-Oper, die an der Met kein Geringerer als Dimitri Mitropoulos dirigiert hat. Londons Gestaltung des Scarpia ist übrigens die einzige Rolle, die in einer kompletten Aufzeichnung erhalten geblieben ist: mit Renata Tebaldi in einer Aufführung der Staatsoper Stuttgart vom Juni 1961, die vom Süddeutschen Rundfunk aufgezeichnet und in den USA schon vor einigen Jahren auf DVD veröffentlicht worden ist. Aus deutschen Fernseharchiv enstammen auch Aufnahmen aus den Sechzigerjahren: Das Bayerische Fernsehen lud George London 1964 zu einem Konzerttermin ein – auf dem Programm standen Lieder von Jacques Ibert und Modest Mussorgski; im Auftrag des WDR entstand im Jahr darauf ein Filmportrait mit Ausschnitten aus Opern und Musicals sowie zwei Spirituals.

Diese Filmdokumente, von denen die meisten auf der vorliegenden DVD erstmals veröffentlicht werden, ergänzen trotz ihrer zum Teil historischen Bildqualität auf besondere Weise den Eindruck der charismatischen Persönlichkeit George Londons. Sie bilden auch die Basis für das von Marita Stocker mit großer Einfühlung gestaltete Filmportrait, das viel aussagt über die Wirkung des Sängers auch auf eine Generation, die den Sänger nicht mehr erlebt hat. Doch natürlich kommen in dem Portrait auch Zeitzeugen zu Wort. Neben Nora London die Sopranistin Hilde Zadek, die Londons Anfänge in Wien mit erlebt hat und als Aida, Donna Anna oder Tosca häufig mit ihm auf der Bühne stand; der Wiener Tenor Waldemar Kmentt, dem vor allem Londons Gestaltung des Boris Godunow im Gedächtnis blieb; oder der Doyen des Wiener Burgtheaters Michael Heitau, für den Londons Don Giovanni zum prägenden Opernerlebnis geworden ist, die „Erfüllung einer zentralen Partie“, die sich nie wiederholt hat. Auch prominente Sänger der nachfolgenden Generation – die Sopranistinnen Catherine Malfitano und Deborah Polaski oder der Tenor Neil Shicoff – geben Zeugnis von der Bedeutung, die ihre Begegnung mit George London für ihre künstlerische Entwicklung gehabt hat: Begegnung mit einem Künstler, der wie der Schauspieler Heltau es formuliert hat, „in Wahrheit unvergleichlich war“.

 

Gottfried Kraus

 

(Liebenswürdigerweise hat uns Professor Gottfried Kraus den vorstehenden Text aus der Beilage zur Arthaus DVD/101 473 zum Nachdruck überlassen – er ist übrigens auch als Zeitzeuge auf der DVD zu erleben und macht aus seiner Verehrung des großen Bass-Baritons keinen Hehl.)

  1. Eberhard Wernecke geb.20.6.36

    Die Aufführung des „Boris Godunow“ mit George London habe ich als Student in Stuttgart erlebt.
    Wenn ich die DVD bekommen könnte,das wäre ein Geschenk des Himmels!
    Mit Sangaesgrüß Eberhard Wernecke
    p.s.:Ich singe immernoch mit großer Freude im Jungen Chor Voices in Esslingen am Neckar

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