Grandioser Testlauf

 

Nun also doch! Zunächst deutete nicht viel darauf hin, dass der Dresdner Lohengrin so schnell auf DVD erscheinen würde. Ein Verzicht auf die Veröffentlichung wäre schade, sehr schade gewesen. Nicht wegen der Inszenierung aus DDR-Beständen, nicht zwingend wegen Christan Thielemann am Pult – sondern einzig wegen Anna Netrebko als Elsa und Piotr Beczala als Lohengrin. Im Booklet der von Deutsche Grammophon / Unitel vorgelegten Neuerscheinung (00440 073 5319) ist denn auch von „Operntraum“ die Rede, der in Dresden in Erfüllung gegangen sei. Ein Wort, das es im deutschen Sprachgebrauch nicht gibt und das auch nicht im Duden steht. Es ist eine Erfindung der Presse, um der atemlosen Begeisterung, die auch anders zu beschreiben wäre, kompakten Ausdruck zu verleihen. In diesem Falle ist Begeisterung durchaus angebracht. Nach den Aufführungen in der Semperoper soll die „Opernwelt Kopf“ gestanden haben, weiß das Booklet. Zitiert werden Zeitungen, die sich mit Wortschöpfungen regelrecht überschlagen. Der „Münchner Merkur“ fiel dem „Schwahnsinn“ anheim, und die „Welt“ will gar einen „der besten Logengrins aller Zeiten“ gehört haben.

„Das süße Lied verhallt; wir sind allein.“ Elsa (Anna Netrebko) und Lohengrin (Piotr Beczala) im Brautgemach. Foto:Daniel Koch/ Booklet. zur DVD

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit der spektakulären Besetzung eine der belanglosesten Operninszenierungen der DDR, in der sich in Wohlgefallen aufzulösen scheint, was einst Felsenstein, die Berghaus, Kupfer oder Herz an Veränderungen anstießen, für die Zukunft bewahrt wird. Sie stammt von Christine Mielitz und erlebte bereits 1983 ihre Premiere – noch vor Eröffnung der Semperoper – im Schauspielhaus. Die Handlung wurde in das wilhelminische Deutschland verlegt. Solche Zeitverschiebungen waren seinerzeit angesagt. Für die Aufführungen im Mai 2016 wurde die Inszenierung von Angela Brandt („Director of Performance“) aufgefrischt. Sie wird nicht ihrer selbst wegen in die Operngeschichte eingehen, sondern einzig aufgrund der Tatsache, dass die Netrebko darin ihre erste Elsa sang. Sozusagen als Einstimmung auf Bayreuth 2018, wo sie kurzzeitig in der Rolle gemeinsam mit Roberto Alagna als Lohengrin gehandelt worden war. Davon ist keine Rede mehr. „Sechs Stunden deutsch singen! Nein, ich glaube wirklich nicht, dass ich den Wagner-Weg weitergehen will“, hatte sie wenige Wochen nach dem Dresdner Gastspiel in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ gesagt. So dürfte diese erste Elsa auch die letzte gewesen sein. Um Beczala, der in Dresden erstmals den Lohengrin sang, muss man sich nicht sorgen. Der wird in dieser Rolle gewiss an anderen Häusern wiederkehren. Und vielleicht nicht nur in dieser.

Wenn nicht gestanden oder gesessen wird in Dresden, wird geschritten. Wände an drei Seiten machen die Bühne unnötig klein und eng. Vergleiche mit der Singschule der Meistersinger drängen sich auf. Für Elsa wird ein Tritt herbeigerückt. So etwas wie ein Zeugenstand. Kündigt sich endlich der Schwanenritter an, setzt ein geschäftiges Umräumen ein. Im letzten Moment wird auch der Tritt energisch wieder zur Seite geschafft. Türen im Hintergrund öffnen sich wackelnd und outen sich dabei ungewollt als Theaterpappe. Und weil der von der langen Reise etwas zerfledderte Schwan nicht durch die Öffnung passt, verlässt Lohengrin sein schwankendes gefiedertes Gefährt und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Der Chor stiebt auseinander, wie nur Chöre in der Oper auseinander stieben können. Plötzlich fällt auf, dass die Kostüme der Damen mit ihren Hauben dem Fundus für Zar und Zimmermann entliehen worden sein dürften. Frau Antje lässt grüßen. Nun gut, beide Opern spielen bekanntlich nicht weit voneinander entfernt. Wie von Geisterhand gelenkt, ist auch das Gestell mit der Trittfläche wieder aufgetaucht. Wunder sehen anders aus. Und weil die Musik in diesem Moment so zügig vorwärtsdrängt, muss der markige Georg Zeppenfeld als stimmgewaltiger König in den wenig männlichen Trippelschritt wechseln, damit er aus dem Hintergrund pünktlich an der Rampe ankommt, wo er gebraucht wird. Von der musikalischen Pracht, mit der dieser Aufzug schließt, ganz überwältigt, heben plötzlich kurz entschlossen die kräftigsten Chorsänger das Meistersinger-Podest samt Elsa und Lohengrin in die Höhe, damit das gefeierte Paar über der Menge schweben kann.

Spätestens mit dem Beginn des zweiten Aufzuges, regen sich Zweifel, ob tatsächlich einer der „besten Lohengrins aller Zeiten“ im Player liegt. Die Regisseurin Mielitz, die auch bei Kupfer gelernt hat, scheint – wie jener – besonderen Gefallen daran gefunden zu haben, die Akteure unvermittelt in die Waagerechte zu befördern. Sowohl Telramund und als auch seine stolze Gemahlin, Tochter eines Fürsten, liegen gern herum, wenn sie denn nicht dazu verurteilt sind, auf dem Boden zu sitzen oder zu knien. Ortrud wird von Evelyn Herlitzius dargestellt. Sie sieht sehr gut aus, weiß sich angemessen zu bewegen, wenn sie das denn darf. Im ersten Aufzug hat es diese Figur sehr schwer. Sie kommt nur im Ensemble musikalisch zum Einsatz und muss sich, weil ständig auf der Bühne, durch Präsenz behaupten. Ich kann mich an Aufführungen erinnern, in denen die stumme Ortrud die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog. Wagner hat sich das gut ausgedacht. Erst im Parsifal wiederholt er dieses Mittel im dritten Aufzug mit der stummen Kundry. Die Herlitzius macht etwas daraus und greift dabei wohl auch in den reichen Schatz ihrer eigenen Bühnenerfahrung. Von der Regie wirkt sie allein gelassen. Und man muss ihre Stimme mögen, die gelegentlich scharf wie ein Schwert niederfährt. Für die Ortrud ist das eine gestalterische Möglichkeit. Zwischentöne sind nicht die Stärke von Frau Herlitzius. Die „Entweihten Götter“ und der letzte hoch auffahrende Auftritt, wenn sie dem scheidenden Lohengrin ihre Verwünschungen hinterher giftet, machen jedoch großen Eindruck. So gehört sich das. Die Herlitzius hat viele Verehrer. Fans reisen ihr nach. In dieser Produktion kommen sie voll auf ihre Kosten. Ihr dröger Gatte Friedrich von Telramund, der gegen den Gottgesandten machtlos bleibt, bekommt durch Tomasz Konieczny eine Gefährlichkeit, die auf eisernem Stolz, nicht aber auf Intellekt beruht.

Und wieder wird geschritten, diesmal gegen das Münster. Ortrud, der Elsa beim nächtlichen Zusammentreffen unter dem Söller versprochen hat, sie mit „prächtigen Gewanden“ zu schmücken, blieb offenbar doch keine Zeit, sich umzuziehen. Auf einem undefinierbaren Kleinmöbel, wie es  meine alte Tante Helene für ihre Clivia in der Wohnstube benutzte, steht die Krone unter einem durchsichtigem Stück Stoff. Was dann folgt, hat sich die Regisseurin offenkundig bei den britischen Krönungsfeierlichkeiten abgeguckt, um es in die Optik eines Laienspiels zu verwandeln. Ein bisschen so, als spielten Kinder König und Prinzessin. Obwohl der Heerrufer – passabel Derek Welton – kurz vorher ausdrücklich verkündet hatte, so deutlich verkündet hatte, dass es auch gut zu verstehen war, dass nämlich der König „den fremden, gottgesandten Mann … mit Land und Krone von Brabant belehnt“ – wird die Krone Elsa aufs Haupt gesetzt. Die muss sich mit dem unbequemen majestätischen Kopfputz auch noch umschauen und sieht gar nicht glücklich dabei aus. Dass der Chor dabei wieder mal flach liegt, muss eigentlich nicht nochmals herausgestellt werden.

„Fahr heim! Fahr heim, du stolzer Helde!“ Evelyn Herlitzius (hier auf einem Screenshot aus der DVD) fährt als Ortrud stimmlich gewaltig auf/ Screenshot

Ich habe schon in manchen Aufführungen gesessen und mich vor dem endlosen Brautgemach gefürchtet, weil die Sänger im bisherigen Verlauf der Oper nicht viel hermachten. Diesmal habe ich mich darauf gefreut. So soll es ja auch sein. Nach allem, was Anna Netrebko und Piotr Beczala, bisher hatten hören lassen, musste die kommende halbe Stunde zum sängerischen Höhepunkt geraten – und wurde es auch, mit dem berühmten glanzvollen Vorspiel durch Thielemann schmissig eingeleitet. Nachdem der Brautchor ausgeschritten hatte, endlich die Szene, in der Sänger ihr Können und Vermögen ausbreiten können. Beide machten davon verschwenderisch Gebrauch. Obwohl die Netrebko auch alle lyrischen Spielregeln beherrscht, behält sie den dramatischen Ansatz bei und steigerte ihn sogar noch. Von Anfang an ist klar, worauf es hinaus läuft – auf die Frage nach Lohengrins Herkunft. Ihre Elsa ist eine betont selbstbewusste Frau. Eigentlich ist Lohengrin ihr nicht gewachsen. Er hat keine Chance. Beczala ist im Vergleich mit seinem Gegenüber viel sanfter. Er hat Angst, nicht sie. Ich scheue mich nicht vor der Feststellung, dass er schöner singt. Damit sollen die Qualitäten von Anna Netrebko nicht geschmälert werden. Ganz im Gegenteil. Während sie als Sängerin einen fast schon hochdramatischen Weg beschreitet, bleibt er bei seinem Leisten als jugendlicher lyrischer Tenor mit einem deutlichen italienischen Einschlag, der besonders in der betörenden Gralserzählung an einem seiner bedeutendsten Vorgänger als Lohengrin, Sandor Konya erinnert. Er ist ein Glücksfall, weil er den Lohengrin vermenschlicht. Indem die Figur glaubhafter und natürlicher wird, büßt sie aber an überirdischem Flair ein. Beides geht wohl nicht. Das Werk, auch durch Thielemann am Pult befördert, ist den blauen Sphären entrückt und auf der Erde angekommen.

Über weite Strecken sind alle Sänger sehr gut zu verstehen. Das deutet auf intensive Probenarbeit hin und gehört zu den Stärken der Produktion. Am Ende erweist sich diese altbackene Inszenierung als nicht die schlechteste Wahl, weil sie die Mitwirkenden als das herausstellt, was sie sind – Sänger. Insofern wäre es auch eine Überlegung wert gewesen, die Aufführung nur als Tonspur auf CD zu veröffentlichen. Oder zusätzlich. Die Solisten, der gut studierte Chor und die glänzend aufgelegte Staatskapelle kommen zu ihrem Recht. Sie werden nicht verwickelt in verwirrende oder komplizierte szenische Aktionen. Ihnen wird nichts zugemutet, sieht man von den gelegentlichen Beförderungen in die stabile Seitenlage einmal ab. Sie müssen nicht herumrennen, Purzelbäume schlagen oder auf Gerüsten herumturnen. Sie müssen sich auch nicht ausziehen bis auf die Unterwäsche. Es geht anständig zu in Dresden bei Christine Mielitz. Regietheater? Was war denn das mal schnell? Rüdiger Winter

Das große Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Cover der DVD. Es zeigt die Solisten der Lohengrin-Produktion aus Dresden. Von links: Evelyn Herlitzius (Ortrud), Georg Zeppenfeld (König Heinrich), Piotr Beczala (Lohengrin), Anna Netrebko (Elsa) und Tomasz Konieczny (Telramund).