Opernbühne oder Broadway?

 

Von außen sieht die Blu-ray von Kurt Weills Street Scene komplett harmlos und ganz nach amerikanischem Musical aus: Das Cover zeigt die Lichter Manhattans und davor tanzende Paare, die Rückseite ein offensichtlich einander zugetanes Paar. Aber die von aus dem Teatro Real in Madrid stammende Aufführung, die auch in Köln gezeigt wurde und in Monte-Carlo (hier mit  weitgehend identischer Besetzung) gezeigt werden wird, ist kompromissloses naturalistisches Musiktheater, wie es der Komponist für ein „realistisches Publikum“, was das auch immer sein mag, anstrebte. Es handelt sich um einen Tag im Leben einer New Yorker Hausgemeinschaft, an dem ein Kind geboren,  ein Doppelmord begangen, eine Mutter mit Kindern aus der Wohnung geworfen und die Liebesbeziehung zweier junger Leute zumindest erst einmal auf Eis gelegt wird.  Eis, aber zum genussvollen Verzehr bestimmtes, stellt eine der wenigen Freuden im Leben der durchweg armen Leute dar, die „American Opera“  beginnt allerdings mit einem Klagelied über die herrschende Hitze und endet mit eben diesem.

Regisseur John Fulljames hat sich von Bühnenbildner Dick Bird ein durchsichtiges Hausgerüst bauen lassen, so dass durch wechselnde Beleuchtung (James Farncombe) zwar immer eine Wohnung in den Fokus rückt, aber auch die anderen Familien unterschiedlicher Herkunft, Rasse und Religion stets beobachtet werden können. Für die große Tanzszene, die die Oper in die Nähe des Musicals rückt, schieben sich die beiden Haushälften auseinander und geben den Blick auf das leuchtende Manhattan frei. Im Mittelpunkt des Interesses steht das Ehepaar Mourrant mit Vater, Mutter, Tochter und Sohn, eine weitere Hauptrolle ist die des in Rose Mourrant verliebten Sam, Sohn der jüdischen Familie Kaplan. Aber nicht nur von Liebe ist die Rede, sondern auch von Politik, wenn Vater Kaplan sich extrem revolutionär, Vater Mourrant sich als ebenso reaktionär gebärdet.

Die Partien erfordern gestandene Opernsänger, tänzerische Einlagen werden von ihnen nicht verlangt, so dass es nicht verwundert, dass man auf dem Besetzungszettel dem Opernfreund vertraute Namen findet. Lediglich der Sänger des Frank, Paulo Szot, verfügt auch über Erfahrung im Operettensektor. Er erfüllt die tragische Figur des Mörders mit prallem Bühnenleben, steuert außerdem einen strapazierfähigen Bassbariton bei. Die unselige untreue Gattin Anna hat in Patricia Racette eine adäquate Interpretin, die dem Zuschauer ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebesglück nicht zuletzt durch den Einsatz eines vibratoreichen, reifen Soprans verdeutlichen kann. Die Karriere der Sängerin neigt sich wohl zugunsten eines Wirkens als Regisseurin ihrem Ende zu. Frische, lyrische Sopranklänge steuert Mary Bevan als Tochter Rose zum Gelingen der Aufführung bei, ist dazu eine vorzügliche Schauspielerin, die das Hin- und Hergerissensein zwischen der Liebe zu Sam und dem Streben nach Reichtum eindrucksvoll  gestaltet. Der Tenor Joel Prieto singt einen berührenden Song über die Einsamkeit. Unverwechselbar und mit ihren aus unterschiedlichem Herkommen resultierenden Charakteristika versehen, sind auch die vielen anderen Partien besetzt. Besonders bleiben die beiden zynischen Kindermädchen Sarah-Marie Maxwell und Laurel Dougall im Gedächtnis des Zuschauers. Das Orchester brilliert unter Tim Murray ganz besonders in den rhythmisch markanten Teilen der Partitur. Das Werk verdient es, einen dauerhaften Platz im Repertoire nicht nur amerikanischer, sondern europäischer Häuser zu erringen (BelAir BAC 562). Ingrid Wanja