Musikalischer Glanz in verwirrender Optik

 

Weiter auf dem Vormarsch zum Counter-Gipfel ist der polnische Sänger Jakub-Józef Orlinski, der bei Erato/Warner Classics unter Vertrag steht und bei der Firma nach seinem Debütalbum (Anima sacra) nun eine zweite CD vorlegt (Facce d’Amore), zudem in der DVD-Veröffentlichung von Händels Rodelinda, Regina de’Langobardi als Unulfo mitwirkt (0190295420321, 2 DVD). Diese wurde am 11. Oktober 2018 in der Opéra de Lille aufgezeichnet und ist eine Koproduktion mit dem Teatro Municipal de Santiago und der Opéra National de Chili. Jean Bellorini verantwortete die Inszenierung, das Bühnenbild und das Lichtdesign, Macha Makeieff entwarf die Kostüme.

Der Regisseur schildert das Geschehen aus der Sicht von Rodelindas Sohn Flavio, der kurz zuvor seinen Vater verloren hat. Das Kind (Aminata Diouaré) geistert dann auch von Anfang bis Ende durch die Szene, sitzt oft an der Rampe mit einer Puppe, die seiner Mutter Rodelinda gleicht. Puppen sind überhaupt omnipräsent in dieser Produktion, die Sänger werden von solchen gedoubelt, in der Luft tanzen Marionetten und immer wieder werden die Protagonisten selbst zu solchen, wenn sie Strumpfmasken über den Kopf ziehen und sich in marionettenhaften Bewegungen ergehen müssen. Der künstliche Anstrich der Inszenierung ergibt sich auch durch Neonröhren, die von oben herabgesenkt werden und sich zu Rahmen verbinden, welche die Figuren als Gruppenfotos einschließen. Auf Fließbändern fahren Dekorationsteile herein, so ein Zimmer mit ornamentierter Tapete, in welchem Rodelinda ihre Auftrittsarie „Hò perduto“ singt und mit reizvoll sinnlichem Sopran von leicht negroidem Vibrato aufhorchen lässt. Mit Jeanine De Bique aus Trinidad in der von Francesca Cuzzoni 1725 in London kreierten Titelrolle stellt sich eine hierzulande unbekannte Händel-Interpretin vor. Ihre zweite Arie, „L’empio rigor“, ist von flammendem Furor, „Ombre, piante“ von tiefer Empfindsamkeit und „Morrai“  von energischem Zugriff mit imposanten Spitzentönen. „Spietati“ im 2. Akt zeugt von der grenzenlosen Liebe zu ihrem Sohn und wird im Da capo von bravourösen Trillern geschmückt. Im letzten Akt kann die Sängerin mit dem leidvoll verzweifelten „Se’l mio duol“ ihr reiches Empfindungsspektrum zeigen und in der finalen Arie „Mio caro bene!“ gebührend jubeln.

Rodelindas vermeintlich toter Ehemann Bertarido war die große Kastratenpartie des Werkes, kreiert von Senesino. Hier ist sie dem britischen Counter Tim Mead anvertraut, dessen Auftritt vom Orchester energisch akzentuiert wird. Seine Stimme hat sich beeindruckend entwickelt, so dass er im Rezitativ „Pompe vane di morte!“ starke Emotionen vermitteln kann. Die nachfolgende Arie „Dove sei“ beginnt mit einem schwebenden Ton und ist erfüllt von weichem, zärtlichem Klang. Das Da capo wird angemessen verziert, ohne manieriert zu wirken. Die Optik wechselt hier durch ein herab fahrendes Gitter zu einer grafisch-abstrakten. Bei „Confusa“, das den 1. Akt beendet, kann Mead eindrucksvoll auftrumpfen, während das „Con rauco“ im 2. Akt mit seinem sanft murmelnden Klang einen stimmungsvollen Kontrast markiert. Eines von Händels wunderbaren Duetten, „ Io t’abbraccio“, beschließt diesen Aufzug. In seinem klopfenden Rhythmus suggeriert es Herzschläge, und tief bewegend verschlingen sich hier die Stimmen von Rodelinda und Bertarido. Im 3. Akt beklagt der gefangene Bertarido hinter einer Gittertür mit  elegischen Tönen sein Los, bevor ihm die Bravour-Nummer des Werkes, „Vivi tiranno!“, zufällt. Man kann sie mit heftigerer Attacke singen, aber sein Vortrag hat schönen Fluss und die gelenkigen Koloraturen sowie das originell verzierte Da capo beeindrucken.

Mit ihm muss sich Orlinski als Bertaridos treuer Freund Unulfo messen. Seine Stimme lässt einen jugendlich-lebhaften Klang hören, die tänzelnden Rhythmen von „Fra tempeste funeste“ setzt er auch körperlich um. Das „Un zeffiro“ im 3. Akt tupft er lieblich und sanft, legt gar ein paar turnerische Kunststücke ein.

Von Grimoaldo wurde Bertarido einst von Thron gestürzt, Benjamin Hulett gibt der zwiespältigen Figur mit seinem Tenor markantes Profil. Die Stimme klingt zupackend und viril, meistert die Koloraturläufe souverän. Besonders „Tuo drudo“ im 2. Akt imponiert mit seinem vehementen Ausdruck und den energischen Koloraturen. Im aufgewühlten Rezitativ „Fatto inferno“ des letzten Aktes wächst er mit existentiellen Ausbrüchen, die Eifersucht und Zorn schildern, über sich hinaus, während die nachfolgende Arie „Pastorello“ in ihrem wiegenden Duktus und der schmeichelnden Stimmgebung dazu einen wirkungsvollen Kontrast darstellt.

Die zweite weibliche Rolle der Oper ist Eduige, Bertaridos Schwester, die am Ende von Grimoaldo zur Gattin genommen wird und sich mit ihrem Alt deutlich von der Titelheldin absetzt. Die Amerikanerin Avery Amereau trumpft schon im ersten Auftritt bei „Lo farò“ mit flammendem Ton und fulminanter Expression auf. Den 2. Akt eröffnet sie vehement mit „De’miei scherni“, das ihren Zorn und die Racheabsichten schildert. Beim tänzerisch beschwingten „ Quanto più fiera“ kann sie dagegen mit sanfteren Klängen aufwarten.

Die noch dunklere Farbe bringt der Bassist Andrea Mastroni als intriganter Garibaldo ein, der den König heuchlerisch berät, ihn aber ermorden will. Die resonante Stimme ist von autoritärer Wirkung, vermag vor allem in „Tirannia“ gehörig aufzutrumpfen. Der Sänger komplettiert die insgesamt exzellente Besetzung auf hohem Niveau. Alle Akteure lassen am Ende ihre Standpuppen hüpfen und vereinen die Stimmen jubelnd zum Schlusschor „Dopo la notte“, während im Hintergrund die Fensterreihe eines Neubaublockes einen eher tristen Eindruck abgibt.

Mit Le Concert d’Astrée spielt ein renommiertes Barock-Ensemble, das seinen ständigen Sitz an der Opéra de Lille hat. Nicht minder bedeutend ist dessen künstlerische Direktorin Emmanuelle Haim, die am Pult bzw. Cembalo ein Feuerwerk an Händelschen Zauberklängen entfacht und mit affektvollem Musizieren bis zum Schluss für Spannung sorgt. Unter den derzeit vorhandenen Aufnahmen nimmt diese Neuproduktion einen exponierten Rang ein. Bernd Hoppe