Mozart aus Covent Garden

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Eigentlich mag ich es nicht, wenn die Ouvertüre „bespielt“ wird; beim ersten Blick auf die Bühne des Royal Opera House war ich jedoch positiv überrascht. Zur vom fabelhaften Orchester unter Antonio Pappano passend flott servierten Nozze-Ouvertüre sieht man in einen großen Saal eines offensichtlich hochherrschaftlichen Schlosses, in dem zunächst eine ältere Frau vom Bedienungspersonal einsam den Boden feudelt. Sodann laufen jede Menge Bediensteter beiderlei Geschlechts geschäftig durch den Saal, albern herum und  ziehen sich zurück, wenn die reichlich murkelige Kammer für Figaro und Susanna auf die Bühne geschoben wird. Per Blu-ray Disc kann man die inzwischen bewährte und beliebte, schon 2006 erstmals gespielte Inszenierung von David McVicar in einem Mitschnitt vom Januar 2022 erleben, die erfreulicherweise auf jede zwanghafte Modernisierung verzichtet. Da kann man verschmerzen, dass sich alles, auch das sonst im Schlosspark verortete Versteck- und Verwechslungsspiel des letzten Aktes im großen Saal abspielt, in den dann herbstliche Blätter vom Bühnenhimmel segeln. Im Übrigen trägt zur durchgehend quirligen Inszenierung bei, dass auch die Rezitative ausgesprochen lebendig gestaltet werden und immer wieder Bedienstete auftauchen, die neugierige Blicke auf das Treiben der Hauptfiguren werfen. Die ansehnlichen, geschmackvollen Kostüme aus dem Anfang des 19. Jahrhundert passen zum Ambiente (Ausstattung: Tanya McCallin).

Musikalisch ist alles wie aus einem Guss, wofür der auch am Hammerklavier souveräne Antonio Pappano sorgt. Das überwiegend junge Ensemble singt und spielt in Hochform: Über einen typischen Basso cantabile mit markigem Timbre verfügt Riccardo Fassi, den er als munterer Figaro flexibel durch alle Lagen führt. Ebenso sehr beweglich in Gesang und Spiel ist als seine Susanna Giulia Semenzato, die mit blitzsauberem Sopran die Ensembles überstrahlt und die anrührend gestaltete  „Rosen-Arie“ in all ihrer Lyrik auskostet. Eine Contessa der Extraklasse ist Federica Lombardi, die wunderbar feines piano präsentiert und durch ruhige Stimmführung der Melodiebögen in allen Lagen, auch mit den überraschenden Echowirkungen in der großen Arie des 3. Aktes begeistert. Mit hellem Bariton tritt der Argentinier Germán E. Alcántara als leidenschaftlicher, aufbrausender Conte auf, der die Verzeihungsbitte am Schluss traumhaft schön aussingt. Die Polin Hanna Hipp ist mit hellem, geschmeidigem Mezzo ein gelenkiger Cherubino; mit gut durchgebildetem, kräftigem Bass gefällt Gianluca Buratto als Bartolo. In den kleineren Partien gefallen Monica Bacelli mit charaktervollem Mezzo als Marcellina, Alexandra Lowe als temperamentvolle Barbarina und Gregory Bonfatti klarstimmig als eitler Don Basilio. Bewährt ergänzen Jeremy White (Antonio) und Alasdair Elliott (Don Curzio); gut ausgewogen klingt der Chor in seinen wenigen Aufgaben (William Spaulding). Insgesamt macht die Aufnahme aus London einfach Spaß und ist musikalisch ein Genuss (OABD7304D). Gerhard Eckels

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Viele wechselnde Besetzungen haben die drei Da-Ponte-Mozart- Opern bereits seit ihrer jeweiligen Premiere in Londons Opernhaus Covent Garden erlebt, bei Opus-Arte sind sie in ihren Premierenbesetzungen miteinander vereint und liefern den Beweis dafür, dass man sich als Regisseur durchaus Gedanken über eine wie auch immer geartete „Modernisierung“ machen und diese auch umsetzen kann, ohne das Publikum zu vergrämen. Die Produktionen von Don Giovanni aus dem Jahr 2014 und von Così fan tutte aus dem Jahr 2016 sind Beispiele dafür, Le Nozze di Figaro von 2006 bringt zwar nicht Kostüme aus der vorrevolutionären Zeit auf die Bühne, aber immerhin doch solche, die niemanden im Publikum auf die Idee bringen würden, das ius primae noctis würde auch noch in unseren Zeiten praktiziert.

Kopfschütteln löst in David McVicars Inszenierung höchstens das trübe Kellerloch aus, das dem Brautpaar durch den Grafen zugewiesen und von diesem als der schönste Raum des Schlosses anerkannt, wenn auch aus anderen als ästhetischen Grünen zurückgewiesen wird. Ansonsten amüsieren bereits zur Sinfonia das putzige Treiben der Dienstboten samt Haushofmeister, viele einfallsreiche Details wie zum „Se vuol ballare“ das Stiefelballett, viel Poetisches trotz eines letzten Akts im Saal statt im Park, und am Schluss strahlen alle und das Publikum tobt vor Begeisterung.

Vielleicht ein bisschen zu wohl fühlt sich in der Produktion der Figaro von Erich Schrott, der seinem Affen reichlich Zucker gibt, was sich auch im freien Umgang mit den Rezitativen und nicht nachvollziehbarer Agogik ausdrückt, die letzte Arie allerdings wird sehr kultiviert gesungen, und das Material ist durchweg als ein besonders reiches zu erkennen. Ein blondes Püppchen und allzu brav wirkend ist die Susanna von Miah Persson, erst im Duett mit dem Conte kehrt sie die Kapriziöse heraus, die Rosenarie gelingt sehr empfindsam bei von der Decke herab fallenden Blumenblättern. Ein irrwitziges Tempo muss Rinat Shaham als Cherubino mit seiner ersten Arie bewältigen, mit „Voi che sapete“ wird der hübschen Mezzostimme mehr Raum eingeräumt und entsprechend schöne Farben kann sie ausstellen. Im letzten Akt bleibt ihr ein uncharmanter Auftritt als betrunkener Tölpel nicht erspart. Dorothea Röschmann ist natürlich die Contessa mit cremigem Sopran, die für wunderschöne Ruhepunkte im allgemeinen Trubel sorgt. Ein erfahrener Conte ist Gerald Finley, dessen „Già vinta la causa“ ein Lehrstück an generöser Phrasierung ist, dem maskulinen Figaro auch szenisch ebenbürtig und hörbar Publikumsliebling. In seiner Arie an Würde gewinnt der Basilio von Philip Langridge, dessen durchdringender Charaktertenor für eine tolle Studie eingesetzt wird. An vokaler Präsenz der Susanna im Duett der beiden überlegen ist die Marcellina von Graciela Araya, übercholerisch gibt sich der Bartolo von Jonathan Veira und vernuschelt dabei die Prestissimoteile seiner Rache-Arie. Ana James gibt eine niedliche Barberina. Antonio Pappano sorgt für einen zügigen Ablauf des musikalischen Geschehens, straff und schwungvoll, wie es sich gehört.

Zu viel Mut gehört offensichtlich heutzutage dazu, Donna Anna in Mozarts Don Giovanni Glauben zu schenken, wenn sie von einer versuchten Vergewaltigung durch den Titelhelden spricht. Dabei hat sie in Leporello, der seinen Herrn besser als jeder Regisseur und damit auch als Kasper Holten kennt, einen glaubwürdigen Zeugen, der eindeutig von „sforzare la figlia ed ammazzare il padre“ spricht.   Dem heutigen Klischee entspricht in der Produktion von 2014 auch der trübtassige Don Ottavio, und selbst der Titelheld macht nicht den Eindruck, an weiteren Eroberungen interessiert zu sein, obgleich er immerhin mit Donna Anna noch zu einem weiteren Quickie in einem der vielen Zimmer verschwindet in dem ruinenhaft wirkenden drehbaren Haus, das Es Devlin auf die Bühne gestellt hat und das in wechselnden Farben angestrahlt oder auch beschriftet wird. Angesiedelt ist das Drama in einer Zeit, in der die Herren Zylinder trugen, was für die Damen kostbare Roben ermöglicht (Anja Vang Kragh). Insgesamt herrscht eine düstere Atmosphäre, woran auch eine schöne Nackte, die umhergeistert, nichts ändern kann.

Der polnische Bariton Mariusz Kwiecien singt mit verführerischem Timbre die Titelpartie und lässt sie eher als einen Getriebenen als Selbstbestimmten wirken, was wohl die Absicht der Regie war, die ihm auch eine lange währende Agonie auferlegt. Ein windiger und wendiger Leporello ist Alex Esposito, in dieser Partie auf vielen Bühnen zu Hause und ein Meister des Rezitativsingens. Markant singt Alexander Tsymbalyuk den Commendatore, während Antonio Poli nicht nur darstellerisch zur Blässlichkeit verdammt ist, sondern auch stimmlich außer einem schönen Pianissimo nicht durch besondere vokale Meriten auf sich aufmerksam machen kann. Optisch wie akustisch steif ist der Masetto von David Kimberg, was wohl zumindest, was die Optik angeht, auch so gewollt ist. Rätsel gibt eines der Kostüme von Donna Anna auf: ein rosafarbenes Prachtgewand, über das Schokoladensoße gegossen wurde. Der Sopran von Malin Byström scheint zunächst wenig Durchschlagskraft zu haben, ehe sie mit zwei tadellosgesungenen Arien, in denen sie auch bei den dramatischen Ausbrüchen stets die vokale Facon wahrt, überzeugen kann. Auch eine Contessa zutrauen würde man der Zerlina von Elizabeth Watts, die größte Freude aber bereitet dem Hörer die Donna Elvira von Véronique Gens mit einem Sopran reich an Farben, schön gerundet und zu Ausbrüchen von tragischer Größe fähig. Nicola Luisotti führt sicher durch die durch einige Seltsamkeiten irritierende, insgesamt jedoch interessante und nachdenkenswerte Aufführung.

Wohl nicht ganz verzichten auf die attraktiven Kostüme, die Damen wie Herren zur Mozart-Zeit schmückten, wollte Regisseur Jan Philipp Gloger, und so ließ er seine Kostümbildnerin Karin Jud für ein Verbeugungsdefilee zur Ouvertüre von Così fan tutte im Jahr 2016 kostbare Gewandungen entwerfen und die Zuschauer im Glauben, so könne es dann auch bei geöffnetem Vorhang weitergehen. Dem ist aber nicht so, denn wenn das Spiel beginnen soll, stürmen die wahren Protagonisten aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, in moderner Kleidung, und anstelle von Frühstücksschokolade wird es Whisky, anstelle eines Schiffs eine Eisenbahn und anstelle von Briefen Smartphones geben. Aus Da Pontes Così fan tutte wird irgendwann ein Così fan tutti, und damit hat einmal mehr Gendergerechtigkeit Einzug auf die Opernbühne gehalten. Dabei verfällt jedoch Bühnenbildner Ben Baur nicht in die Sünden eines German Trash, sondern schafft viel den Augen Gefälliges wie eine Paradiesinsel mit schillernder Schlange. Auch die Personenregie erweist sich als intelligent und ausgewogen, weil weder das Werk noch den (guten) Publikumsgeschmack verletzend.

Wenn einem das Werk als mit Wagnerlänge geschlagen erscheint, dann liegt das am Dirigat von Semyon Bychkov, der sich allzu behäbig durch die kostbare Partitur bewegt. Die Sänger machen durch die Bank viel Freude, allen voran der deutsche Tenor Daniel Behle mit einer hochpoetischen Aura amorosa und einem bewegenden Tradito. Vor fünf Jahren war er, inzwischen bereits ein Lohengrin, ein idealer Mozarttenor mit atemberaubenden Pianissimi und einer berückenden Stilsicherheit. Farbig und geschmeidig ist der recht dunkler Bariton von Alessio Arduini, der den Guglielmo singt, auch mal ein Tänzchen wagt der agile Don Alfonso von Johannes Martin Kränzle. Einen warmen, runden Sopran kann Corinne Winters für die Fiordiligi einsetzen, die des Griffes zum Schnapsglas für die Bewältigung von Come scoglio eigentlich nicht bedarf. Recht hell und deshalb in den Duetten kein echter Kontrast zu ihr ist die Stimme der Dorabella von Angela Brower, beide spielen einfach hinreißend.  Sabina Puértolas ist als Despina eine Stütze eher an der Bar als im Haushalt, allerdings mit hohem Eigenbedarf und –verbrauch, vokal durchaus zufriedenstellend.

Alle drei Produktionen setzen neue Akzente, ohne die Werke zu entstellen oder den Zuschauer zu verstören, und bieten gute Unterhaltung auf hohem musikalischem Niveau (Opus arte 1275/ Foto https://www.da-ponte-stiftung.de/). Ingrid Wanja