Doppelrolle

 

Sie kann alles: Spitzentanz, singen, dirigieren. Ihre Brüsseler Lulu hält eine DVD fest (2 DVD Belair BAC 109), eine zweite dokumentiert ihr Debüt als Operndirigentin mit The Rake‘s Progress in Göteborg (2 DVD Accentus Musicus ACC 20420). Die kanadische Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan, die vor Tom Randles Maler im fast durchsichtigen, schwarzen Dessous-Zweiteiler auf Spitze tänzelt, was ihr formidabel gelingt, ist mit gestochenen Spitzentönen, hinreichender Mittellage und nicht ganz so präsenter Sprechstimme, lockenden Girlanden in ihrem Lied („Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben“) und sehrender Hingabe (O, Freiheit! Herr Gott im Himmel“) eine darstellerisch fesselnde, sich ständig wandelnde, blonde, rote Lulu von großer Präsenz und Ausstrahlung. Klar, sie ist eine Projektionsfläche. Und sie ist eine Tänzerin. Bereits im Prolog, dem Krzysztof Warlikowski eine weitere Erzählung – über Lilith – vorangestellt hat, präsentiert der Tierbändiger (nicht ganz akzentfrei Iwan Ludlow, der als Athlet Rodrigo von faszinierender Ausstrahlung ist), selbst ein Reptil im glitzernden Batman-Schuppen-Kostüm, statt der Schlange eine kleine Ballerina und somit dem tanzenden Knaben (Auguste: Jesse Callaert) eine Partnerin (Petite Lulu: Sarah Rawart). Ein Thema, Kindesmissbrauch, ist gleich angeschlagen. Blitzschnell der Wechsel vom Showvorspiel mit einer dem Publikum frontal gegenübersitzenden Abendgesellschaft auf der Bühne und der von Warlikowskis treuer Ausstatterin Malgorzata Szczęśniak bestückten Glasvitrine, später das Atelier des Malers, in das menschliche Bestiarium, in dem Lulu verführt und verführt wird. Dazu ein glitzernder Vorhang, dahinter Teile einer Rolltreppe und die Videos von Denis Guéguin, deren Bilderflut und Voyeurismus im Théatre de la Monnaie besser zu erfassen war als auf der DVD. Dietrich Henschel, mit unattraktiver Perücke, ist ein sanfter, nahezu als einziger ganz und gar idiomatisch singender Dr. Schön, Alwa, der korrekte, blasse Charles Workman, ebenfalls im braven Anzug mit Krawatte, eher sein Bruder als Sohn. Warlikowski gibt den Szenen die fahrige Betriebsamkeit und Beliebigkeit eines Fernseh-Krimis, verliert aber sein Thema, die Unschuld der Kinder, nie aus dem Blick: die kleinen Tänzerinnen und Tänzer stehen vor dem Kasten mit der Leiche des Malers, derweil Rosalba Torres zur Verwandlungsmusik zwischen der zweiten und dritten Szene des 1. Aktes als schwarzer Schwan ein intensives Solo gestaltet und die gleichfalls in Ballerinenkostüm geschlüpfte Lulu als schwarze Odile Alwa verführt, woraus Warlikowski mit den Eleven und Elevinnen der Koniglijke Balletschool Antwerpen, Alwa und Lulu eine seiner dekorativ aparten, verlegenen Szenen formt, in denen der fin-de-siècle Geist von Frank Wedekinds 1895/1904 erdachter Provokation und Kunstfigur in die Gegenwart drängt. Woraufhin am Ende des ersten Aktes (Dr. Schön: „Jetzt kommt die Hinrichtung“) Torres in einer großen stummen Szene (Choreographie: Claude Bardouil) den sterben Schwan gibt. Paul Daniel und das Orchestre symphonique de la Monnaie spielen die Cerha-Fassung als aufbäumende, spätromantisch zupackende, mir manchmal etwas zu lautstark überwältigende Theatermusik, um sich gegen die Bilderflut zu behaupten. Nicht alles entschlüsselt sich, nicht jede der sich im Hintergrund quälenden Gestalten wird klar, mache Figuren bleiben papieren. Die Situationen im zweiten Akt pendeln vor den Ballettstangen zwischen Klischee, Verlegenheit und Regieroutine, die Tanzboden-Attitüden des dritten Akts mit den im Schaukasten balancierenden Kindsfrauen wirken leicht kunstgewerblich, doch in der zweiten Szene mit den kleinen Ballerinen in ihren Metallbetten, der als weißer Schwan durch Londons rieselnden Schnee tänzelnden und von Jack the Ripper in der Vitrine abgestellten Lulu und den gemeuchelten Schwänen, des schwarzen und des weißen, erreicht Warlikowski, dessen Regiezutaten 2012 noch nicht so vorhersehbar waren, neuerlich eine Intensität, die sich auf der DVD vermutlich nur teilweise vermittelt. Natascha Petrinsky als Geschwitz, Pavlo Hunka als Schigolch, Frances Bourne u.a. als Punk-Gymnasiast und der interessante Albrecht Kludszuweit als Marquis wirken seltsam unerheblich.

Sechs Jahre später, im Dezember 2018, keine rätselhaften Zeichen, Symbole, verschlungenen Nebenhandlungen und irritierenden Bilder. Eine schlichte Black Box auf der Bühne des Göteborger Konserthuset ist die Kiste allen Übels mittels derer Linus Fellbom Igor Strawinskys The Rake’s Progress erzählt. Die Seitenwände sind herabgeklappt und geben den Blick frei auf das dahinter spielende Gothenburg Symphony Orchestra, das Gothenburg Symphony Vocal Ensemble und Barbara Hannigan, die bei ihrem Debüt als Operndirigentin wie ihre Hauptfigur einen Pakt mit dem Teufel einhergegangen ist und noch die Last des gesamten Projekts zu stemmen und u.a. mittels ihrer „Equilibrium“-Initiative zur Förderung junger Sänger aus 350 Bewerbern die Besetzungen für die Produktion auszuwählen hatte. Wieviel Spaß ihr und allen Mitwirkenden das Projekt, über das man mehr in dem einstündigen Film Taking Risks erfährt, gemacht hat, spürt man allenthalben in dieser animierten Aufführung und der frisch unverbogenen Hingabe der jungen Sänger. Der vom Light-Design kommende Fellbom taucht das Geschehen in ein karamellfarbenes Sepiabraun und gibt dem halbszenischen Geschehen eine wohltuende ironische Distanz. Zugleich gelingt es ihm, die Figuren in ihren schönen, abstrahierten 18. Jahrhundert-Kostümen (Anna Ardelius) als unsere Zeitgenossen zu zeichnen und Anteilnahme für den leichtfertigen Tom und seine schmerzvoll liebende Anne zu erwirken. Wenn der charismatische John Taylor Ward mit zynischem Zucken des Mundes als Nick Shadow auf Annes Schmerz „No word from Tom“ reagiert, was Michael Beyers Film wie nebenbei einfängt, drückt er damit mehr aus als manche Inszenierung. Die große Szene der Anna am Ende des ersten Akts macht Aphrodite Patoulidou, hingebungsvoll begleitet von Hannigan, die sich bereits 2010 mit Strawinskys Ballettoper Le renard für eine zweite Karriere als Dirigentin warmgelaufen hatte, zum zentralen Moment der Aufführung. Mit schmalem, lyrischem Tenor singt William Morgan den strubbelköpfigen, mit leichtgläubiger Zuversicht in sein Unglück laufende Tom. Morgans Ton ist zart und nicht sehr individuell und kann sich trotz des dahinter platzierten Orchesters nicht immer sicher behaupten. Kate Howden ist eine grell deftige Baba, irritierend die Besetzung von Annes Vater und Mother Goose mit Erik Rosenius Rolf Fath

 

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