Vielbeiniges

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Bei UNITEL: Stuttgarter Schatztruhe: Drei John-Cranko-Klassiker vereint der Schuber The John Cranko Stuttgart Ballet Collection bei UNITEL (808308, 8 DVDs). Es sind seine Hauptwerke Romeo and Juliet, Onegin und The Taming of the Screw, die auf diesen Seiten schon besprochen wurden. Bei allen Produktionen wirken die aktuellen Stuttgarter Stars Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, David Moore und Jason Reilly mit.

Den Wert der Neuveröffentlichung machen die letzten beiden DVDs aus, welche als Documentaries drei Filme bieten, die sich dem Phänomen der Stuttgarter Compagnie sowie deren Stars Marcia Haydée und Friedemann Vogel widmen. Harold Woetzels Film von 2016 ist betitelt Of Miracles and Superheroes – The Stuttgart Ballet und umreißt das Phänomen vom „Stuttgarter Ballettwunder“, als das die Compagnie nach einem Gastspiel an der Metropolitan Opera von der New Yorker Presse betitelt wurde. Entstanden im Auftrag des SWR Fernsehens anlässlich des 55. Jahrestages der Gründung des Ballettensembles, vermitteln diese 90 Minuten einen faszinierenden Einblick in die spezielle Atmosphäre einer solchen Compagnie.

Ganz zeitgenössisch beginnt der Streifen mit einer Uraufführung: Salome auf Musik von John Adams und in der Choreografie von Demis Volpi, der beim Hamburger  Ballett im nächsten John Neumeier ablösen wird. Stuttgarts erste Garde mit Alicia Amatriain, Elisa Badenes, David Moore und Roman Novitzky ist angetreten, um dem neuen Werk zum Erfolg zu verhelfen. Danach geht der Blick zurück zu John Cranko, der zwölf Jahre – bis zu seinem frühen tragischen Tod 1973 – das Ballett geleitet und es zur Weltspitze geführt hat. Marcia Haydée, die als Crankos Muse viele seiner Rollern kreierte und von 1976 bis 1996 die Compagnie leitete, sowie Reid Anderson, Tänzer, Crankos Weggefährte und dann Nachfolger der Haydée, berichten anschaulich über die Arbeitsweise und das Wesen des Choreografen, sprechen vom „Cranko-Geist“, der noch immer in diesem Hause herrscht, was auch Tamas Detrich bestätigt, der nun das Ensemble anführt. Natürlich kommen auch die Tänzerlegenden, Richard Cragun, Birgit Keil und Vladimir Klos zu Wort, bis hin zum derzeitigen Ersten Solisten Friedemann Vogel. Szenen aus mehreren Werken, ob von Proben oder Aufführungen, zeugen von der Repertoire-Vielfalt der Compagnie – so von Maurice Béjart, Hans van Manen, Jiri Kylian, Glen Tetley, William Forsythe, John Neumeier, kontrastiert von den Cranko-Klassikern. Erinnert wird an den Generalintendanten des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, der die Ballettsparte an seinem Haus stets unterstützte und zu Cranko ein freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Besonders gewürdigt wird Georgette Tsinguirides, die 1945 Mitglied des Ensembles wurde und diesem über 70 Jahre angehörte, zuerst als Tänzerin, dann als Ballettmeisterin und Choreologin. 2017 ging sie in den Ruhestand und konnte inzwischen ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist die Grande Dame unter den vielen Stuttgarter Legenden.

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Harold Woetzel ist auch der Autor des Films Marcia Haydée – The Seduction to Danse. Man nennt die 1937 in Niterói geborene und in Rio de Janeiro aufgewachsene Brasilianerin auch „die Maria Callas des Tanzes“. Nach ihrem Studium in London engagierte John Cranko die damals noch unbekannte Tänzerin 1961 nach Stuttgart (trotz des Einspruchs von Generalintendant Walter Erich Schäfer), wo er für sie fast alle großen Rollen seiner Ballette kreierte. Sie wurde zu seiner Muse und Assoluta und später auch seine Nachfolgerin als Intendantin der Compagnie.

Auch andere berühmte Choreografen inspirierte sie mit ihrer Kunst und Persönlichkeit, vor allem John Neumeier, der für sie seine Kameliendame kreierte, die sie 1978 zum triumphalen Erfolg führte, oder Maurice Béjart, der für sie seine Isadora schuf.

Unter den Ballettausschnitten ist gleich der erste eine Rarität – 1985 tanzte Haydée Béjarts Bolero in der deutschen Erstaufführung dieser legendären Choreografie. Es gibt natürlich auch Szenen aus Crankos Klassikern, The Taming of the Shrew oder  Romeo and Juliet, und man sieht zudem einen Ausschnitt aus Dornröschen, ihrer erfolgreichsten eigenen Choreografie. Bei den beliebten Stuttgarter Veranstaltungen Ballett im Park gehört diese Produktion zu den Höhepunkten. Zu Wort kommen Reid Anderson, Egon Madsen, Tamas Detrich, Friedemann Vogel und Alicia Amatriain – also Partner und Weggefährten aus ihren 35 Stuttgarter Jahren.

Auch Einblicke in Haydées Privatleben werden gewährt – ihre 16jährige Beziehung mit Richard Cragun, dem Partner auf der Bühne in vielen Stücken, der sie wegen einer neuen Liebe verließ und dessen Aids-Tod sie zutiefst erschütterte, oder die mit ihrem Ehemann, dem Yoga-Lehrer Günther Schöberl, die schon seit fast 30 Jahren glücklich verläuft. Der gleichfalls vom SWR Fernsehen initiierte Film stammt von 2017 und ist eine willkommene Würdigung der großen Tanzlegende.

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Mit dem dritten Film, Friedemann Vogel – Incarnation of Danse, findet sich ein Beitrag aus der aktuellen Stuttgarter Tanzszene. Er stammt von Katja Trautwein und entstand als Koproduktion des SWR mit der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit der Saison 1998/99 ist Vogel Mitglied der Stuttgarter Compagnie, wo er 2002 zum Ersten Solisten und 2015 auch zum Kammertänzer ernannt wurde. Der Untertitel dieses Streifens lautet „Internationaler Ballett-Superstar“, was sich auf die ausgedehnte Gastspieltätigkeit des Tänzers bezieht, der seit Jahren regelmäßig in den größten Ballettzentren der Welt – Moskau, St. Petersburg, London, Paris, Tokyo – auftritt.

Als erster Ausschnitt wurde Béjarts Bolero gewählt – ein cavallo di battaglia für jeden Superstar der Ballettwelt. Bei einem Gastspiel beim Royal Swedish Ballet  Stockholm, zu dem ihn dessen neuer Ballettdirektor Nicolas Le Riche eingeladen hatte, zeigt er Marcia Haydées Dornröschen-Version. In Tokyo tanzt er mit Alicia Amatriain einen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame im Rahmen des World Ballet Festivals, bei dem er schon Dauergast ist. Auf Einladung von Polina Semionova tritt er beim Berliner Staatsballett in der Gala Polina and Friends auf und tanzt mit der Starballerina einen Pas de deux aus Kenneth MacMillans Manon. Ähnlich berühmt ist Olga Smirnova (die ihr Heimatland inzwischen verlassen hat), mit der Vogel am Bolshoi Ballett einen Pas de deux aus Crankos Onegin interpretiert. Als eine exzentrische Filmchoreografie ist die Arbeit Cadavre Exquis von Guillaume Côté vom Kanadischen Staatsballett Toronto zu sehen. Seit einigen Jahren posiert der Tänzer, ähnlich wie der italienische Star Roberto Bolle, auch für die Modebranche. Für Arbeiten seines Lebensgefährten in der Branche Tanzfotografie steht er Modell und hat mittlerweile sogar Kontakte zur Filmbranche geknüpft. Erhellend ist ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff.

In vielen Posen, zum Teil verfremdet als grafische Puzzles oder als slow motion-Aufnahmen, wird die Schönheit seines Körpers herausgestellt, in vielen Figuren seine exquisite Technik. Befremdlich wirken die vielen Tanzszenen auf Straßen, Plätzen, Treppen und Dächern, an Seen und in Gärten sowie vor internationalen Sehenswürdigkeiten vom Eiffelturm bis zum Brandenburger Tor. Bernd Hoppe

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Aus dem Jahre 2012 stammt ein Schuber mit zwei DVDs aus dem Royal Opera House London, den OPUS ARTE jetzt neu aufgelegt hat. An Evening with The Royal Ballet and The Royal Opera ist die Ausgabe betitelt, dürfte also für Liebhaber beider Gattungen von Interesse sein (OA 1261 BD).

Die Ballett-DVD präsentiert Höhepunkte aus dem Repertoire des Royal Ballet, beginnend mit der Ballszene aus Prokofjevs Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan. Carlos Acosta und Tamara Rojo sind die Protagonisten, die später noch die Balkonszene aus dieser Produktion zeigen. Carlos Acosta brilliert, gemeinsam mit seiner Partnerin Leanne Benjamin, auch im Pas de deux Voices of Spring auf Musik von Johann Strauß II – ein virtuoses Glanzstück von Frederick Ashton, welches das Paar sprungstark und tempobetont absolviert.  Und der gefeierte Principal der Compagnie glänzt auch als Colas  in La Fille mal gardée im Pas de deux mit Marianela Nuñez und als Franz in Coppélia – beides Zeugnisse seiner enormen Vielseitigkeit. Nicht fehlen im Programm darf Alina Cojocaru – eine Assoluta, die noch heute aktiv ist und oft beim Hamburg Ballett auftritt. Hier ist sie in ihren Glanzrollen als Prinzessin Aurora mit dem fordernden Rosen-Adagio in The Sleeping Beauty und als ätherische Giselle mit Johan Kobburg als Albrecht im Pas de deux des 2. Aktes zu sehen – Beispiele von singulärer Tanzkunst. Eine gleichfalls bedeutende Ballerina war Darcey Bussell, die heute als charmanter und sachkundiger Host in TV-Übertragungen des Royal Ballet tätig ist. Sie zelebriert in aristokratischer Manier gemeinsam mit dem Startänzer Roberto Bolle einen Pas de deux aus Sylvia in der Choreografie von Frederick Ashton. Zwei Tschaikowsky-Klassiker in den Choreografien von Lev Ivanov bilden den Ausklang des Programms: der Pas de deux Zuckerfee/Prinz aus The Nutcracker mit Miyako Yoshida und Steven McRae sowie die Schluss-Szene aus Swan Lake mit Marianela Nuñez, Thiago Soares und Christopher Saunders. Beide Szenen demonstrieren eindrücklich das hohe Niveau des Ensembles mit seinen überragenden Solisten. Bernd Hoppe

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In der internationalen Tanzszene hat der Name Jean-Christophe Maillot einen ganz besonderen Klang, zählt seine Compagnie Les Ballets de Monte-Carlo, welche er seit 1993 leitet, doch weltweit zu den renommiertesten und innovativsten Ensembles. Jetzt legt die UNITEL EDITION seine Choreografie von Léo Delibes’ Ballett Coppelia auf Blu-ray Disc vor (808804). Die Aufzeichnung erfolgte 2022 im Grimaldi Forum – Salle des Princes von Monte-Carlo.

Das Stück basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und erlebte seine Weltpremiere 1870 in Paris in der Choreographie von Saint-Léon. Weitere bekannte Deutungen stammen von Marius Petipa, der seine Fassung   an mehreren Bühnen herausbrachte, Ninette De Valois (für das Royal Ballet London) und George Balanchine (für das NYC Ballet). Die Besonderheit von Maillots Version, betitelt Coppél-I.A., liegt in ihrer futuristischen Anlage. Coppelia ist bei ihm keine mechanische Puppe, sondern ein außerirdisches Weltraumwesen. Bertrand Maillot, der Bruder des Choreografen, arrangierte die Musik unter Verwendung synthetischer Klänge, was ihr einen zeitgenössischen Anstrich verlieh. Ausstatterin Aimée Moreni hat der Titelfigur ein Ganzkörpertrikot mit einzelnen Lederriemen und Metallelementen verordnet. Der Prologue zeigt ihre Geburt mit ihrem Schöpfer Coppélius, den Matèj Urban als Outlaw zeichnet. Seine Kleidung ist zerschlissen und trägt die Spuren des Straßenlebens. Dem von ihm erschaffenen Wesen ist er gänzlich verfallen, betet es in trancehafter Steigerung an und ist untröstlich über dessen mangelndes Interesse. Phänomenal setzt Lou Beyne die vom Choreografen erdachten abgehackten, zuckenden und schüttelnden Bewegungen für die künstliche Frau um. Das abstrakte Einheitsbühnenbild, von Maillot und Samuel Thery lediglich in unterschiedliche Lichtstimmungen getaucht, könnte die Linse eines Fotoapparates darstellen.

Die Eingangsszene des 1. Aktes spielt am Hochzeitstag von Swanilda und Franz, ganz in Weiß gekleidet, inmitten ihrer Freunde, die mit ungemein rasanten, temporeichen Tänzen aufwarten. Anna Blackwell und Simone Tribuna geben das junge Paar in jugendlich-vitaler Ausgelassenheit mit wirbelnden Drehungen und bravourösen Sprüngen. Coppélius führt sein Geschöpf in spektakulärer Glitzerrobe und Strahlenkranz beim Fest ein, womit er Franz’ reges Interesse an der schönen Unbekannten erweckt. Er wird später Coppélius bis in dessen Werkstatt folgen und seine Hochzeit mit Swanilda absagen, so sehr ist er Coppél-I.A. verfallen. In der Werkstatt finden sich mehrere Androiden, die von Coppélius’ gescheiterten Versuchen, eine künstliche Intelligenz zu erschaffen, künden. Swanilda erscheint mit ihren Freunden in der Werkstatt und tauscht ihr Kleid gegen das von Coppél-I.A. aus. In dieser Verkleidung täuscht sie nicht nur Coppélius, der ein furioses Solo hat, welches dem des Rotbart in Schwanensee nicht nachsteht, sondern auch Franz. Am Ende aber ist zwischen den jungen Leuten alles wieder im Lot und es wird doch geheiratet. Bernd Hoppe

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NAXOS setzt seine verdienstvolle Reihe mit Ballettmusiken fort. Neu erschienen ist eine Platte mit dem Titel Dances and Ballet Music von Camille Saint-Saëns (8.574463), die Jun Märkl mit dem Residentie Orkest The Hague im März/April 2022 im niederländischen Den Haag aufgenommen hat.  Eine Naxos-CD vereint eine Sammlung von Gelegenheitsarbeiten des Komponisten Saint-Saens und zwei Ausschnitten aus seinem Hauptwerk Samson et Dalila. Das Programm eröffnet das sechsteilige Ballett des 3. Aktes aus Ètienne Marcel. Die 1879 in Lyon uraufgeführte Oper (als vierte von insgesamt 13) war ein Versuch, die französische Grand opéra wieder zu beleben. Einer lebhaften Introduktion schließt sich die wiegende Musette guerrière an, der eine sanfte Pavane folgt. Eine elegante Valse und der rhythmisch betonte Entrée des  Bohémiens et Bohémiennes beschließen die Suite. Schon hier zeigt sich die Vielfalt der Musik, welcher Dirigent und Orchester mit großem Einfühlungsvermögen und einem an Esprit reichen Spiel gerecht werden.

Auch der 1883 an der Pariser Opéra erstmals gezeigte Henry VIII diente zur Etablierung des Genres der Grand opéra. Daraus gibt es mehrere Ausschnitte – zum einen aus dem 2. bis 4. Akt in origineller melodischer Erfindung und sehr reizvoller Instrumentierung und danach das Divertissement „Fete populaire“. Abwechslungsreiche Szenen, wie eine Idylle écossaise, die Fête du houblon, eine Danse de la gipsy und eine irische Gigue garantieren ein hohes Maß an Unterhaltung. Zwischen diesen beiden Abschnitten gibt es mit den vier Airs de ballet aus Parysatis eine veritable Rarität. Mit ihren kontrastierenden Tempo-Bezeichnungen bieten sie dem Orchester Gelegenheit für ein an Farben und Stimmungen vielfältiges Spiel.

Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt der Anthologie sind die zwei Szenen aus der 1877 uraufgeführten Oper Samson et Dalila – die Danse des prêtresses de Dagon und der Bacchanale. Letzterer zählt zu den unvergänglichen Hits des Komponisten und wird hier mit opulenter Klangpracht und orientalischer Sinnlichkeit geboten.

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Schon im August 2018 entstand für NAXOS in Malmö die Aufnahme des 3. Aktes von Camille Saint-Saëns’ Ascanio, ergänzt um Ouvertures und Vorspiele. Hier spielt, wieder unter Leitung von Jun Märkl, das Malmö Symphony Orchestra (8.574033).

Ascanio wurde 1890 in der Pariser Opéra uraufgeführt, dann noch einmal 1921 am selben Ort anlässlich des Todes seines Schöpfers gezeigt und ist seither der Vergessenheit anheim gefallen. Im 3. Akt der Oper entfaltet sich ein großes Divertissement in den Gärten von Fontainebleau, welches der Komponist Reynaldo Hahn als „Triumph von Geschmack und Eleganz“ pries. Die elf Teile bedienen mythologische Themen. Unter den Göttern und Göttinnen finden sich Venus, Juno und Pallas Athene. Den Auftritt der Diana begleiten Dryaden und Najaden. Bacchus ist umgeben von Bacchanten. Nicht fehlen dürfen Amor und Psyche, dem Liebesgott ist sogar eine eigene Variation gewidmet, deren flirrende Bläser-Töne eine reizvolle Stimmung einbringen. Am Ende des Programms gibt es dieses Stück sogar in einer Alternativ-Version.

Pompös entfaltet sich zu Beginn „L’Entrée du Maître des Jeux“, während die folgende Danse ancienne mit Vénus, Junon und Pallas einen heiter beschwingten Duktus hat. Auch die Gavotte mit Diane ist spielerisch. Das Bacchanale beginnt in stampfendem Rhythmus und geht dann in einen wilden orientalischen Taumel über. In seiner Ekstase ähnelt es dem berühmten Tanz aus dem Samson. Einen lyrischen Kontrast bringt das träumerische „L’Amour fait apparaître Psyché“ ein. Das schwelgerische Finale ist ein beschwingter Kehraus. Mit feinen Valeurs und einer reichen Palette von Stimmungen malt das Orchester die unterschiedlichen Sätze eindrucksvoll aus.

Die Ouvertures aus verschiedenen Werken (Les Barbares, La Jota aragonese, Andromaque, La Princesse jaune) bieten neben ihren klanglichen Idiomen auch Gelegenheit, Bekanntschaft mit unbekannten französischen Werken zu machen. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: The Dante Project aus London. OPUS ARTE erweitert ihre bedeutende Reihe von Produktionen des Royal Ballet London um das neue Stück des Resident Choreographer Wayne McGregor. Es trägt den Titel The Dante Project und entstand im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des 700. Jahrestages von Dante Alighieris Tod. Die Uraufführung im Oktober 2021 in einer Koproduktion mit dem Ballett der Pariser Oper erschien nun als Blue-ray Disc (OABD7278D).

Die Bedeutsamkeit des Werkes resultiert auch aus dem Beitrag des Komponisten Thomas Adès, der dafür eine spannungsreiche, vielfältige Musik schuf. Sie tönt oft aggressiv und hämmernd, hat aber auch lyrische Inseln von herbem Melos und steigert sich gelegentlich zu spätromantischem Rausch und französisch inspiriertem Esprit. Im Purgatorio hört man sogar arabisch orientierte Vokalmusik. Das Orchestra of the Royal Opera House bringt diese Collage unter Leitung von Koen Kessels zu starker Wirkung. Die Ausstatterin Tacita Dean, die vorwiegend abstrakt arbeitet, lieferte für den 1. Teil eine riesige Kreidezeichnung in Schwarz/Weiß, die gespiegelt wird und eine Uferlandschaft mit Felsgrotten, Eisschollen und dem wogenden Meer zeigt. Im 2. Teil sieht man einen begrünten Baum, im 3. Spiralen und andere abstrakte Gebilde. Die Lightdesigner Lucy Carter und Simon Bennison tauchen die Szene in wechselnde Lichtstimmungen.

McGregors Ballett folgt keiner konkreten Handlung, die einzelnen Szenen sind sogar schwierig zu dechiffrieren und den einzelnen Kapiteln der Divina Commèdia zuzuordnen. Wie aber Musik und Tanz eine Einheit bilden und sich einander bedingen, ist von enormer Faszination. Die drei Teile Inferno, Purgatorio und Paradiso werden hier Pilgrim, Love und Poema sacro genannt. Im 1. und 2. Akt sind  Dantes Wanderung durch die Hölle und seine Läuterung in einer stillen, klösterlichen Gemeinschaft zu sehen. Großen Raum nimmt die Liebesbeziehung zwischen ihm und Beatrice ein. Eine totale Veränderung bringt der 3. Akt, wenn die Tänzer zu abstrakten Lichtfiguren werden. Jeder der drei Akte ist verschieden – was sie verbindet, ist Dantes Reise durch das Jenseits, hin zu einem Ort der Hoffnung.

Die Choreografie fußt auf neoklassischem Vokabular. Furiose Gruppentänze in rasantem Tempo mit anspruchsvollen tänzerischen Figuren sorgen ebenso für starke Effekte wie Skulpturen aus mehreren Körpern. Protagonist in der Titelrolle ist Edward Watson, der seit 27 Jahren der Company angehört und schon lange mit dem Choreografen zusammen arbeitet. Als Principal hat er den Mayerling von Kenneth MacMillan und den Leontes in Christopher Wheeldons The Winter’s Tale getanzt. Die Rolle des Dante betrachtet er als Höhepunkt seiner Tänzerkarriere und gleichzeitig als Abschluss seines Wirkens beim Royal Ballet. Seine Interpretation ist geprägt von Kraft, Intensität und Eleganz. Im langen grünen Hemd eröffnet er das Geschehen in geradezu wilder Expressivität mit schnellen Drehungen und weiten Sprüngen. Sein Weggefährte ist der Dichter Virgil, den der Grand Seigneur des Ensembles, Gary Avis, mit würdevollem Ausdruck gibt. Ihm sind vorwiegend schreitende Bewegungen verordnet, doch hat er auch sensible Duos mit Dante.

In grauen Trikots agieren die Sünder (sinners). Aus ihnen ragt der junge Marcelino Sambé, ein neuer Star des Ensembles, als Fährmann (ferryman) durch körperliche Biegsamkeit und lasziven Ausdruck heraus. Bemerkenswert ist, dass viele Mitglieder der Gruppe neben ihren gemeinschaftlichen Tänzen auch attraktive solistische Aufgaben zu bewältigen haben und dabei glänzende Figur machen. Im 2. Teil, dem Purgatorio, agieren sie als Büßer (penitents). Hier tritt erstmals Sarah Lamb auf. Sie gehört zu den führenden Mitgliedern der Company. Im transparenten hellen Kleid zeichnet sie die Beatrice als fragiles, anmutiges Geschöpf und hat auch im letzten Teil, dem Paradiso, noch einen starken Auftritt. Die Gruppentänzer faszinieren hier als himmlische Körper (celestial bodies). Am Ende steigert sich die Musik zur Apotheose mit feierlichem Chorgesang. Dante, jetzt im langen roten Gewand, und Beatrice sah man noch einmal in inniger Zuwendung vereint. Dann bleibt der Dichter allein zurück. Bernd Hoppe

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Hommage bei Unitel: 2023 jährt sich John Crankos Todestag zum 50. Mal. Der in Südafrika geborene Choreograf wurde 1961 zum Stuttgarter Ballettdirektor berufen und führte die Compagnie in kürzester Zeit zur Weltspitze. Der Durchbruch gelang 1962 mit Romeo und Julia – von Unitel in einer Aufführung von 2017 veröffentlicht und auch auf diesen Seiten besprochen. Danach folgten weitere große Handlungsballette, wie Onegin (den Unitel unlängst in einer Aufführung ebenfalls von 2017 herausbrachte und der gleichfalls hier rezensiert wurde) sowie Der Widerspenstigen Zähmung. Jetzt erscheint die Ballettkomödie nach Shakespeares berühmten Stück unter dem Originaltitel The Taming of the Shrew als Blu-ray Disc (808204) bei derselben Firma. Die Aufführungen für die Veröffentlichung wurden im Mai 2022 in Stuttgart aufgezeichnet. Sie ist für alle Ballettfreunde, insbesondere Cranko-Verehrer, eine willkommene Bereicherung des auf Bilddokumenten verfügbaren Oeuvres des Choreografen. Denn bislang existierte nur ein Fernsehmitschnitt von 1971 (in bescheidener technischer Qualität) mit der legendären Besetzung der Uraufführung – Marcia Haydée als Katherina, Richard Cragun als Petruchio und Birgit Keil als Bianca.

Jetzt nehmen aktuelle Stars des Ensembles diese Rollen wahr. Elisa Badenes, die schon als empfindsame Julia bezaubert hatte, zeigt nun als Katherina eine ganz andere Facette ihrer Persönlichkeit. Fulminant ihr Auftritt, wenn sie wie ein Wirbelwind aggressiv, furios in den Pirouetten und Sprüngen, hereinstampft. Auch ihre erste Begegnung mit Petruchio geht klar zu ihren Gunsten aus. Für den Petruchio hätte es keine bessere Besetzung geben können als Jason Reilly, der nach seinem noblen Gremin im Onegin nun gleichfalls einen vollkommen konträren Charakter zu porträtieren hat. In einer Taverne imponiert er bei seinem Entrée mit übermütig prahlerischem Macho-Gehabe, natürlich garniert mit bravouröser Technik. Der erste Pas de deux mit Katherina, gespickt mit technischen Schwierigkeiten, ist geradezu eine Kampfszene zwischen beiden. Leise Momente der Annäherung unterbricht sie stets mit spöttischen Reaktionen und höhnischer Verachtung. Vor der Heirat hat er ein Solo als betrunkener Bräutigam, wo er gleichermaßen als Komödiant wie als virtuoser Ballerino gefordert ist.

Katherinas liebenswerte Schwester Bianca, die von dem Gecken Hortensio (skurril: Fabio Adoriso), dem Studenten Lucentio (jungmännlich-verliebt, doch leicht effeminiert: Martì Fernández Paixà) und dem alten Gremio (urkomisch: Alessandro Giaquinto) angebetet  wird, ist in der Verkörperung von Veronika Verterich ein anmutiges Geschöpf – zierlich, leichtfüßig und bezaubernd. Köstlich ist das Aufeinandertreffen mit ihrer Schwester, wenn Katherina wie eine Furie hereinstürmt und ihr eine Blume entwendet.

Das Corps de ballet kann vor allem in der turbulenten Hochzeitsszene am Ende des 1. Aktes sowie in den belebten Karnevalsbildern und bei Biancas Hochzeit im 2. Akt brillieren. Dieser beginnt mit der Reise des jung vermählten Paares in Petruchios Haus, wo er Katherina durch seine Diener ärgern und sie zudem hungern und frieren lässt. Hier sieht man den zweiten Pas de deux des Paares, nun in schon stärkerer Zuwendung, denn sie überzeugt sich mittlerweile von seinem liebenswerten Naturell. Schwierige Hebe- und Schleuderfiguren belegen den Ausnahmestatus des Balletts, das in seinen technischen Anforderungen sogar noch den Onegin übertrifft. Katherina und Petruchio haben sogar noch einen Pas de deux mehr zu zeigen als Tatjana und Onegin, der bei Biancas Hochzeit platziert und nicht weniger anspruchsvoll ist. Im mitreißenden Finale hat jeder der beiden Protagonisten noch ein bravouröses Solo zu absolvieren, denen die Jubelstürme des Publikums folgen.

Die Ausstattung von Elisabeth Dalton in rostroter Renaissance-Architektur mit einer Empore (was an Crankos Romeo erinnert) ist werkdienlich und elegant. Die Kostüme sind bis auf die des Protagonistenpaares nahe der Karikatur, charakterisieren die Personen aber liebevoll und mit Witz.

Die Musik von Kurt-Heinz Stolze, der Sonaten für Cembalo von Domenico Scarlatti arrangiert hatte, ist bei Wolfgang Heinz am Pult des Württembergischen Staatsorchesters in den besten Händen. Denn unter seiner Leitung hat sie Esprit, Dynamik und Tempo. Der Dirigent scheut weder harsche Akkorde noch das Gefühl, was wichtig ist für die Tanzduette zwischen Katherina und Petruchio.

Der Bonus hält eine Konversation zwischen den Stuttgarter Ballettintendanten Tamas Dietrich und Reid Anderson sowie dem Stellvertretenden Musikdirektor Wolfgang Heinz über dieses Ballett fest – seine Entstehung im Probensaal, die Anforderungen an die Protagonisten, die triumphale Aufnahme beim Publikum (in Stuttgart und beim Gastspiel in New York). Per Video wird Marcia Haydée aus Berlin eingespielt, die gerade mit dem Staatsballett ihr Dornröschen einstudiert und nun lebhaft über die Kreation ihrer Katherina berichtet.

Mit dieser Veröffentlichung, mit der nun die drei großen Handlungsballette von John Cranko auf DVD vorliegen, hat Unitel (in Kooperation mit arte, dem SWR und NHK) eine Großtat vollbracht. Bernd Hoppe

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Bei OPUS ARTE: Muntagirov at his best. Von Zeit zu Zeit würdigt OPUS ARTE herausragende Tänzer mit der Veröffentlichung eines Schubers von mehreren DVDs. Jüngstes Beispiel ist Vadim Muntagirov, Principal Dancer beim Royal Ballet London seit 2014, wo er viele der klassischen Ballerino-Rollen interpretiert hat und dabei Partner der gefeierten Startänzerinnen der Compagnie war. Mit zahlreichen Preisen geehrt, auch dem prestigereichen Benois de la Danse, ist der Russe eine Ausnahmeerscheinung in der aktuellen Tanzwelt, vor allem wegen seiner exzellenten Technik, die derzeit kaum Vergleiche hat.

Der Schuber „ The Art of Vadim Muntagirov“ mit vier DVDs (OA13598D) hält vier Auftritte des Tänzers zwischen 2016 und 19 fest, beginnend mit dem Albrecht in Adolphe Adams Giselle in der Choreographie von Marius Petipa/Jean Coralli/Jules Perrot. Die Produktion ist ein Juwel im Repertoire des Royal Ballet London. Peter Wrights Produktion (mit eigenen Zusätzen) wurde nach ihrer Erstaufführung 1985 bereits mehrfach auf DVD veröffentlicht. Die erste Ausgabe stammt aus dem Jahre 2006, in der Marianela Nuñez noch die Myrtha tanzte – in der Wiederaufnahme am 5. April 2016 wurde ihr nun die Titelpartie  anvertraut. Die argentinische Ausnahmetänzerin präsentiert sich damit in einer weiteren Paraderolle. Im Auftritt lebhaft und kokett, bravourös auf Spitze in der Diagonalen und in den wirbelnden Pirouetten, zeigt sich bei Giselles Erkennen von Albrechts Betrug und in der Wahnsinnsszene die erfahrene Tänzerin mit ihrer mimischen und gestischen Ausdruckskraft. Mirakulös das Erwachen im nächtlichen Waldbild, die wie in slow motion zelebrierten Figuren, die fliehenden Arabesquen, die überirdische Schwerelosigkeit. Vadim Muntagirov fehlt vielleicht die aristokratische Aura für den Herzog, aber tänzerisch ist er erstklassig mit stupenden battements und weiten grand jetés. Im 2. Akt gewinnt er in seinem Schmerz an romantischer Aura und ist tänzerisch wiederum über jede Kritik erhaben.

Als Myrtha sieht man die strenge, in ihrer Eiseskälte geradezu erstarrte Itziar Mendizabel, Bennet Gartside als männlich-reifen Hilarion sowie die beiden ätherischen Solo-Wilis Olivia Cowley und Beatriz Stix-Brunell. John MacFarlanes stimmige Ausstattung mit ihren wunderbaren Sepia- und Rosttönen sowie den aquarellierten Prospekten ist eine Augenweide. Barry Wordsworth dirigiert das Orchestra of the Royal Opera House und verhilft der Aufführung auch musikalisch zum Erfolg.

Ein Jahr später, am 28. 2. 2017, zeichnete OPUS ARTE eine Aufführung von Tschaikowskys The Sleeping Beauty auf. Die Choreografie von Marius Petipa mit Zusätzen von Frederick Ashton, Anthony Dowell und Christopher Wheeldon hatte 2006 ihre Premiere, auch nach mehr als zehn Jahren hat sie nichts von ihrem Zauber eingebüßt, was auch ein Verdienst von Oliver Messels atmosphärischer Ausstattung (mit Ergänzungen von Peter Farmer) ist.

Wieder ist das Traumpaar aus Giselle in den zentralen Rollen zu erleben. Marianela Nuñez ist eine bezaubernde Aurora, von jugendlicher Anmut und Eleganz. Die schwierigen Balancen im Rosen-Adagio meistert sie souverän, ebenso die anspruchsvollen Variationen. Mit Vadim Muntagirov als Prinz Florimund, der einen bestechenden Auftritt bei seinem Solo im Jagdbild hat, führt sie den Grand pas de deux im Hochzeitsbild in aristokratischer Manier zum Höhepunkt der Aufführung. Zum Tanzfest beim Divertissement im letzten Akt tragen vor allem Akane Takade als Princess Florine und Alexander Campbell als The Bluebird bei. Mit der festlichen  Apothéose beendet Koen Kessels mit dem Orchestra of the Royal Opera House eine glanzvolle Aufführung.

Kenneth MacMillans Manon zählt zu den wichtigsten im 20. Jahrhundert geschaffenen Handlungsballetten. Die Uraufführung fand 1974 beim Royal Ballet London statt. Von dieser Inszenierung in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis existieren bereits zwei Aufführungen auf DVD – 2018 kam eine weitere Aufzeichnung, was den Stellenwert dieses Werkes beim Royal Ballet unterstreicht. Sie erfolgte vor allem deshalb, um Vadim Muntagirovs Interpretation des Des Grieux festzuhalten. Seine Manon ist die junge Sarah Lamb, der man die mondäne Kurtiane weniger zutraut, eher das jugendliche Mädchen, das ins Kloster geschickt wird. Und sie ist in der Tat bezaubernd und anmutig in ihrem ersten Auftritt, schwebend leicht im Tanz mit ihrem Bruder Lescaut (viril: Ryoichi Hirano) und entzückend in der Begegnung mit Des Grieux. Muntagirov beginnt mit einem anspruchsvollen Solo von fließender Eleganz und dann folgt der erste von den vier großen Pas de deux der Choreografie, die deren singuläre Bedeutung ausmachen. Lamb und Muntagirov sind ein ideales Paar – jede Figur, ob Drehung oder Hebung, funktioniert perfekt. Die Vollkommenheit im Zusammenspiel ist besonders wichtig beim zweiten Tanzduo, dem Bedroom’ pas de deux, im Liebesnest des Paares, wo sie ihm die Schreibfeder aus der Hand nimmt und zu einem verführerischern Tanz animiert, der in seiner Sinnlichkeit ohne Vergleich ist. Beim Erscheinen auf der Abendgesellschaft in Madames Hotel particulier überrascht Lamb mit einer mondänen Aura, die man von ihr nicht erwartet hätte. Ihr Solo ist aufreizend und ganz für Des Grieux bestimmt. Muntagirov zeichnet ihn, der Manon nach der Trennung erstmals wieder sieht, verzweifelt und sehnsuchtsvoll. Sein Solo, in dem er Manon um Rückkehr zu ihm  bittet, ist ein existentieller Hilfeschrei – technisch in Vollendung ausgeführt. Wieder vereint in der Wohnung von Des Grieux, findet sich das Paar in einem innigen Pas de deux, der beider neu erwachte Liebe anschaulich zeigt. Aber kokett weist sie auf ihre Juwelen – ihr gespaltenes Ich zwischen Glück und Reichtum führt in die Katastrophe. Deportiert in die Sümpfe von Louisiana, hat Manon vor ihrem Tod einen letzten Pas de deux mit ihrem Geliebten, der zu den anspruchsvollsten der gesamten Ballettliteratur zählt. In seinem geradezu artistischen physischen Anspruch mit spektakulären Hebungen und Würfen sowie der existentiellen Ausdrucksdimension hat er kaum einen Vergleich. Lamb und Muntagirov krönen ihre Interpretation mit diesem Atem beraubenden Finale. Der russische Tänzer findet hier zu einer ungeahnten Dramatik und Leidenschaft.

Das Parfum von Massenets Musik lässt Martin Yates, der die Musik auch arrangierte, mit dem Orchestra of the Royal Opera House gebührend duften und schwelgerisch aufrauschen, was die Aufführung auch zu einem sinnlichen Hörerlebnis macht.

Jüngstes Zeugnis ist Léo Delibes’ Coppélia – ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Alina Cojocaru and Vadim Muntagirov in the roles of Medora and Conrad of Le Corsaire produced by the English National Ballet/ Wikipedia

In neuer Besetzung kehrte die Produktion 2019 ins Repertoire zurück und bezog ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei Principals:  Marianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der Mitschnitt gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel. Der russische Tänzer gibt mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Musik mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung. Bernd Hoppe

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Eine Besonderheit für Ballettomanen. BelAir hat eine (sehr) besondere Blu-ray Disc herausgebracht mit dem Titel Opéra de Paris – une saison (très) particulière (BAC496). Der Film von Priscilla Pizzato beschreibt die Rückkehr der Tänzerinnen und Tänzer in die Probensäle und auf die Bühnen des Palais Garnier und der Opéra Bastille nach monatelanger Abwesenheit im Pandemie-Jahr 2020. Geprobt wird Rudolf Nurejews legendäre Choreografie von La Bayadère von 1992, mit der die Compagnie ihr Comeback feiern will. Gefordert für diese Produktion sind nicht weniger als 90 Tänzer.

Wie alle Theater in Frankreich mussten auch die Opernhäuser in Paris im März 2020 ihre Pforten schließen. Nach einer Proben- und Aufführungspause von drei Monaten konnte das Ballettensemble am 15. Juni in den berühmten Probensaal unter der Coupole (Kuppel) der Opéra Garnier zurückkehren – niemals in seiner traditionsreichen  Geschichte hatte es eine derart lang Pause überstehen müssen. Unter Anleitung mehrerer Ballettmeister und der Directrice de la Danse Aurélie Dupont beginnen die Tänzer mit den Aufwärmübungen (préparations) und dem Technik-Training.

Zu sehen sind der Premier Danseur Paul Marque, die Danseuse Ètoile Amandine Albisson, der Danseur Ètoile Mathieu Ganio und der Danseur Ètoile Germain Louvet, die über die besonderen Herausforderungen der langen Probenpause und die Schwierigkeiten des Wiederbeginns berichten. Am 15. Oktober konnten die Proben für die Wiederaufnahme der Bayadère beginnen. Vor allem der 3. Akt mit dem Schattenreich („Les Ombres“) ist für das Corps de Ballet eine enorme Anforderung, da 32 Tänzerinnen mit unzähligen Arabesquen scheinbar zu einer einzigen Figur verschmelzen müssen. Danach begann die Probenarbeit mit den Solisten: Der Danseur Ètoile Hugo Marchand versucht sich mit Erfolg an der extrem schwierigen Variation des Solor im Schattenreich, Amandine Albisson probt die Nikiya und deren Solo vor dem Biss der Schlange. Am 19. November fand die erste Probe mit dem gesamten Ensemble statt. Hier ist die Danseuse Ètoile Dorothée Gilbert als Nikiya zu sehen, Paul Marque gibt das Goldene Idol. Am 27. November begannen die Proben auf der Bühne der Opéra Bastille. Hier kommen Marchand und die Danseuse Ètoile Ludmila Pagliero zum Einsatz. Am 4. Dezember findet die Generalprobe in Kostümen und mit Orchester statt. Der Danseur Ètoile Mathias Heymann spricht über die psychische Belastung dieses Abends, aber auch die Vorfreude auf die Premiere mit einem gefüllten Saal und dem Applaus des Publikums. Am 11. Dezember, vier Tage vor dem mit Spannung erwarteten Ereignis, erfahren die Tänzer, dass die Theater in Frankreich nicht öffnen dürfen und alle Vorstellungen annulliert sind. Die Aufführung findet ohne Zuschauer statt und wird live übertragen mit einer unterschiedlichen Besetzung der Danseurs Ètoiles pro Akt. Einer davon, Francesco Mura, macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung.

Die Aufführung ohne Publikum hat am Ende noch einen bewegenden Moment, denn Aurélie Dupont ernennt Paul Marque nach seiner Interpretation des Goldenen Idols zum Danseur Ètoile – stets ein Höhepunkt in der Karriere eines Tänzers. Am 10. Juni 2021, nach einer Schließzeit von 18 Monaten, öffnet die Opéra Bastille erneut ihre Pforten – und diesmal mit Publikum für die Wiederaufnahme von Rudolf Nurejews Roméo et Juiette. Hier tanzt Marque den Roméo und damit seine erste Hauptrolle als neuer Etoile. Und am Ende der Vorstellung wiederholt sich der feierliche Moment einer Ernennung zum Star, denn Aurélie Dupont macht die Juliette des Abends, Sae Eun Park, zur neuen Danseuse Ètoile.

Ein Bonus der Ausgabe bringt ein Interview mit Aurélie Dupont sowie Ausschnitte von den Proben zur Bayadère mit Hugo Marchand, Amandine Albisson, Mathias Heymann und der Ballettmeisterin Clotilde Vayer. Bernd Hoppe

Stück für zehn Tänzer: NAXOS veröffentlicht auf DVD eine Produktion des Ballet Preljocaj, die den Titel La Fresque trägt und im Juni 2017 im Théatre de la Criée von Marseille gefilmt wurde (2.110600). Der renommierte französische Choreograf albanischer Abstammung Angelin Preljocal nutzte für seine Arbeit die bekannte chinesische Sage von der Wandmalerei in einem Tempel, die von hübschen Mädchen geziert wird. Ein Reisender, Chu, der mit seinem Weggefährten Meng dort Zuflucht sucht, verliebt sich in eine Schönheit, was ihm eine neue Dimension des Lebens eröffnet. Das Ballett behandelt die geheimnisvolle Verbindung zwischen Vorstellung und Realität. Nicolas Godin, der schon für Preljocajs Near Life Experience 2003 die Musik schrieb, erdachte auch hier die Klangfolie, welche Vincent Taurelle um einige Passagen ergänzte. Das Constance Guisset Studio besorgte die Bühnenbilder und Videos, Azzedine Alaïa entwarf die asiatisch inspirierten Kostüme.

Die Eingangsszene zeigt die beiden Reisenden unterwegs, ihr Bewegungsvokabular besteht aus kriechenden, dann skulpturalen Figuren und entwickelt sich zu kraftvollen Sprüngen und Drehungen. Wellenartige Gebilde als Projektionen im Hintergrund illustrieren die Szene. Drei geheimnisvolle Männer in schwarzen Gewändern begegnen ihnen und führen sie zum Tempel. In somnambuler Trance bewegen sich fünf Mädchen, bis sie in einen ekstatischen Rhythmus verfallen. In solchen Momenten hat die Choreografie bei all ihrem eigentümlichen Stil auch den Hang zur Redundanz. Zudem ist sie inhaltlich schwer zu entschlüsseln – eine Trackliste mit kurzer Beschreibung der einzelnen Szenen im Booklet wäre da hilfreich.

Chu nähert sich der Gruppe und erwählt das schöne Mädchen für ein Tanzduo mit schwierigen, doch effektvollen Hebungen. In einem weiteren gemeinsamen Tanz vor einem Sternenhimmel suggeriert der Choreograf eine Atmosphäre wie unter Wasser. Chu ist nun selbst ein Teil des Gemäldes – ein Zustand des Glücks und der Idylle, der mehrere Jahre anhält, bis ihn Krieger aus dieser Welt vertreiben und er in seine frühere zurückkehrt. Dort frisieren Mädchen in bunten Kleidern die Schöne als Vorbereitung zu ihrer Hochzeit. Noch einmal tanzt Chu mit ihr, lässt in seiner Erinnerung das Erlebte nachklingen.  Die zehn Tänzer des Ballet Preljocaj sind in ihrer Kraft und Kondition enorm gefordert, bewältigen die anspruchsvolle Vorgabe ihres Leiters glänzend, was leider kein Publikum honoriert. Bernd Hoppe

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Rarität aus Paris: Für alle Freunde der Tanzkunst, deren Interesse über die Tschaikowsky-Trias hinausreicht und eher auf das ausgefallene Repertoire zielt, bringt NAXOS eine echte Rarität heraus – das Ballett in zwei Akten La Source mit der Musik von Léo Delibes und Ludwig Minkus, die Marc-Olivier Dupin 1954 arrangierte. Aufgezeichnet und auf einer DVD veröffentlicht wurde eine Aufführungsserie im November/Dezember 2021 aus der Opéra Garnier Paris, die von Jean-Guillaume Bart im klassischen Stil choreographiert wurde (2.110724). Koen Kessels dirigiert das Orchestre de l’Opéra de Paris mit großem Gespür für die vielen Facetten der Musik – ihren schwelgerischen Rausch, die rasanten Rhythmen und sinnlichen Orientalismen. Die Produktion bekam ihren luxuriösen Anstrich durch die raffinierte  Bühnengestaltung von Éric Ruf und vor allem durch die kostbaren Kostüme von Christian Lacroix.

Nicht weniger als vier Étoiles finden sich in der Besetzung, angeführt von Ludmila Pagliero als Naïla, personifizierter Geist des Frühlings. Im 1. Akt sieht man eine Ode der Berggeister an Source als nächtliches Ritual, in dessen Verlauf der Kobold Zaël erscheint, den der Étoile Mathias Heymann sprungstark und agil tanzt, ihn zu einem Verwandten des Puck werden lässt. Danach tritt der junge Jäger Djémil auf (jungmännlich-sympathisch: Karl Paquette), gefolgt von einer kaukasischen Karawane, die herein marschiert und von Mozdock angeführt wird (kraftvoll: Christophe Duquenne). Dessen Schwester Nouredda (Isabelle Ciaravola) soll die Braut des Khans werden (Alexis Renaud männlich-attraktiv und herrscherlich), was ihre Traurigkeit erklärt. Sie und ihre Begleiterinnen tragen hinreißende Kostüme mit folkloristischen Motiven. Nach Noureddas melancholischem Solo begeistert Mozdock mit seinen Männern in einem feurigen Trepak. Die von Nouredda begehrte Blume hoch oben an einem Felsen zu pflücken, gelingt ihm jedoch nicht – im Gegensatz zu Djémil, der Nouredda stolz das Objekt ihrer Begiere überreicht und ihr den Schleier vom Gesicht zieht. Das erzürnt Mozdock und seine Begleiter, die Djémil zusammenschlagen und ihn bewusstlos liegen lassen.

Nun folgt der erste Auftritt von Naïla, die sich um den leblosen Djémil bemüht, der das Bewusstsein zurückerlangt, jedoch nicht ermessen kann, ob Naïla eine reale Erscheinung ist. Nymphen umringen ihn tanzend und verhindern, dass er der entschwundenen Naïla folgen kann. Sie jedoch kehrt zurück mit Zaël und der Blume, enthüllt Djémil, dass diese ein Talisman sei, dem alle Geister des Waldes unterstehen, und fragt ihn nach seinem sehnlichsten Wunsch. Vereint sein mit der jungen Schönen, deren Gesicht ich sah – ist seine Antwort. Naïla vertraut ihn der Obhut Zaëls an und verspricht, seinen Wunsch zu erfüllen. Eine reiche choreografische Palette beendet den 1. Akt als Tanzfest – ein Pas de deux von Naïla und Djémil, ein Auftritt von Zaël mit den Berggeistern, Variationen von Naïla und Djémil mit je einer Coda sowie ein großes Finale.

Der 2. Akt führt in den Palast des Khans, wo die Haremsdamen ungeduldig die Ankunft der Braut erwarten. Ein Pas des Odalisques soll den Herrscher unterhalten. Dadjé (Nolwenn Daniel), die bisherige Favoritin des Khjans, ist erzürnt und eifersüchtig, was sie in einer Variation ausdrückt und später ganz offen in eine Auseinandersetzung mit Nouredda gerät. Mehrere Tänze werden zu Ehren der neuen Braut gezeigt, darunter die Danse circassienne und das Entrée des troubadours. Plötzlich erscheint unerwartet Naïla, die den Khan fasziniert (Pas d’action). Nouredda sieht ihren Stern verblassen, kann jedoch mit Djémil fliehen. Mit der Leblosen in seinen Armen erreicht er das Reich der Nymphen mit Naïla. Sie ist erstaunt, ihrem Inneren menschliche Regungen zu verspüren, und opfert sich für das Leben der anderen Frau mit Hilfe der Blume. Während Nouredda und Djémil vereint sind, stirbt Naïla in Zaëls Armen.

In ihrer optischen Pracht, der orientalischen Atmosphäre, dem reichen choreografischen Spektrum und dem tänzerischen Anspruch ist La Source der Bayadère vergleichbar. Die Veröffentlichung ist eine Bereicherung des Repertoires, für die man dem Pariser Ballett nicht genug danken kann. Bernd Hoppe

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Legendäres Dokument bei OPUS ARTE. Mit einer spektakulären Veröffentlichung löst OPUS ARTE Probleme bei der Findung von Weihnachtsgeschenken. Denn zumindest für Ballettfreunde und natürlich alle Verehrer der Tanzkunst von Rudolf Nureyev dürfte die Neuausgabe des legendären Films Don Quixote von 1972 mit dem Australian Ballet ein willkommenes Präsent darstellen und darüber hinaus die Erfüllung eines langen Traumes bedeuten (OA 13500). Das Original, gefilmt im Hangar des Essendon Airport von Melbourne und in schlechtem Zustand, wurde sorgfältig restauriert und digital remastered, bietet optisch und akustisch nun eine sehr ansprechende Qualität. In den Extra Features findet sich das Kapitel Restoration Process, in welchem man  aufschlussreiche optische Gegenüberstellungen der alten und restaurierten Fassung sehen kann. Das Ergebnis ist verblüffend.

Mit John Lanchberry steht ein Ballett-erfahrener Dirigent am Pult des Orchestra Victoria, der die Musik in ihrem Temperament und der folkloristischen Kolorierung wirkungsvoll ausbreitet.

Die Einleitung fängt das bunte Treiben im Hafen von Barcelona ein. Barry Kay ist die atmosphärische Ausstattung zu danken. Gleich zu Beginn hat Lucette Aldous ihren effektvollen Auftritt als Kitri. Die Tänzerin verfügt zweifellos über mediterrane Verve und imponiert mit wirbelnden Pirouetten. Gemessen an heutigen Spitzeninterpretinnen der Partie wie Natalia Osipova, Marianela Nuñez und Swetlana Sacharowa bleibt sie in ihren technischen Möglichkeiten freilich zurück. Das Solo mit den Kastagnetten im ersten Pas de deux sprüht vor Temperament, doch ist die Ausformung der Figuren bescheiden. Rudolf Nureyev hat das Ballett nach Marius Petipa choreografiert und sich für seinen Basil ein wirkungsvolles Entrée erdacht. Die Aufnahme stammt aus der Glanzzeit des Tänzers – die szenische Präsenz, die sinnliche Aura und tänzerische Bravour sind ohne jede Einschränkung bewundernswert. Den ersten Pas de deux mit Kitri meistert er souverän in rasantem Tempo und mit perfekt absolvierten einarmigen Hebungen. Effektvoll ist auch das Duo in der Taverne und natürlich sorgen beide Tänzer für den Höhepunkt der Aufführung mit dem aristokratisch zelebrierten Grand pas de deux. Sie besticht mit stupenden Balancen und in ihrer Variation mit temporeichem Auftritt, am Ende mit perfekt gedrehten fouettés. Er begeistert mit majestätischer Haltung auf Halbspitze, einer Kaskade von Sprüngen und wirbelnden Drehungen.

Gute Figur macht das zweite Paar mit Kelvin Coe als Espada und Marylin Rowe als Straßentänzerin mit südländischem Temperament. Ein rassiges Zigeunerpaar geben Ronald Bekker und Susan Dains. In der Titelrolle sieht man mit dem Australier Robert Helpmann einen Großen der Tanzszene, der besonders in der Traumsequenz beeindruckt, in der ihm seine angebetete Dulcinea (wieder Lucette Aldous) erscheint und er sich in einem Zubergarten wieder findet. Hier regiert Marylin Rowe als Königin der Dryaden, assistiert von dem munteren Cupido der Patricia Cox. Die Mitglieder des Australian Ballet glänzen in ihren verschiedenen Auftritten – auf dem Marktplatz, auf der Ebene vor den Windmühlen, im Zaubergarten, in der Taverne und im Finale. Das renommierte Dance Magazine bezeichnete die Produktion zu Recht als „The finest full-length dance film ever“. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Ein Klassiker endlich dokumentiert. Ein Sommernachtstraum ist ein Juwel in John Neumeiers Schaffen. Uraufgeführt 1977, wurde das Ballett inzwischen in mehreren Wiederaufnahmen (2011/2016/2019) mit wechselnden Besetzungen gezeigt und auch von anderen renommierten Compagnien einstudiert. Zur Freude der Ballettomanen ist es nun bei Cmajor als Blu-ray-Disc verfügbar (758304). Zwischen einer Theateraufführung und dem Film von Miriam Hoyer gibt es Unterschiede dank der Kamerapositionen, die auf der Bühne während einer Vorstellung nicht möglich gewesen wären. Der musikalische Stil-Mix der Produktion ist ein genialer Einfall und verhilft der Aufführung zu magischer Wirkung. Die höfischen Szenen bei Herzog Theseus und seiner Braut Hippolyta illustriert Mendelssohn Bartholdys Komposition zu Shakespeares Schauspiel. Für die Traumsequenzen im Wald mit der Feenwelt nutzte Neumeier elektronische Klänge von György Ligeti, für die Auftritte der Handwerker und deren Divertissement im letzten Akt Musikautomaten.

Auch die atmosphärische Ausstattung von Jürgen Rose trägt entscheidend zum Zauber dieses Ballettes bei. Der Rahmen für die Handlung ist die bevorstehende Hochzeit von Hippolyta und Theseus. Der Prolog zeigt die Vorbereitungen zum Fest in Hippolytas Gemach, in welchem der Hofmaler ein Porträt von ihr anfertigt. Letzte Handgriffe am Hochzeitskleid werden vorgenommen, der Brautschmuck und Blumenstrauß gebracht, bis Hippolyta endlich allein ist und einschläft. Es folgt ihr Traum von der Feenkönigin Titania, die sich mit dem Elfenkönig Oberon streitet. Ein Wald mit silbrig glitzernden Bäumen und mystischem Nebel unter dem Sternenhimmel ist nicht nur von zauberischer Wirkung, sondern gibt den Tänzern in hautengen Trikots auch Gelegenheit für eine Fülle von sportiven und stupend biegsamen Figuren. Gleich einem Faun wirbelt Puck umher und  windet sich in sinnlichem Raffinement. Von Theseus bekam er eine Blume mit magischen Kräften, welche Menschen beim ersten Anblick in ein fremdes Wesen verliebt macht. Das schafft reichlich Verwirrung zwischen zwei Paaren,  hochrangig besetzt mit Hélène Bouchet und Madoka Sugai als Helena und Hermia sowie Karen Azatyan und Jacopo Bellussi als Demetrius und Lysander, und führt zu urkomischen Situationen. Mit dem Erwachen ersteht die Liebe zwischen den jungen Menschen neu, was Neumeier in zauberhaften Pas de deux ausgedrückt hat. Auch Theseus und Hippolyta finden nun wirklich zueinander, so dass einer dreifachen Hochzeit im reich mit Blumen geschmückten herzoglichen Palast nichts mehr im Wege steht.

In der Doppelrolle der Hippolyta/Titania demonstriert Anna Laudere ihre Klasse, ist zu Beginn während des geschäftigen Treibens bei der Hochzeitsvorbereitung noch verunsichert, was sie als künftige Braut des Herzogs am Hof erwartet. Zudem ist sie irritiert, dass Theseus auch mit anderen Hofdamen flirtet. Die Tänzerin zeigt das empfindsam und sensibel, kann danach im Traum als Feenkönigin Titania ihre aristokratische Noblesse und ihr sinnliches Flair einbringen. In dem Liebesspiel mit dem zum Esel verwandelten Handwerker Zettel bietet sie ein Kabinettstück, um nach all dem Ulk beim Hochzeitsfest wieder zur hehren Klassik zurückzukehren. In diesem Pas de deux ist Edvin Revazov in der Doppelrolle des Theseus und Oberon ihr Partner. Er hat einen starken Auftritt, ist autoritär, arrogant und erst am Ende Hippolyta wirklich zugetan. Tänzerisch macht er glänzende Figur, bewältigt all die technischen Finessen der Choreografie mühelos. Sensationell ist Alexandr Trusch – zuerst als gewandter Philostrat am Hofe mit hohen Sprüngen und flinken Pirouetten, danach als Puck ein ausgelassener Wildfang mit Witz und körperlichem Totaleinsatz. Und da ist natürlich die hinreißende Handwerkertruppe, die mit ihren Auftritten für Lachstürme sorgt – köstlich Marc Jubete als Bottom/Pyramus, Borja Bermudez als Flute und umwerfend im Travestie-Auftritt auf Spitze als Thisbe, Lizhong Wang als Quince/Wall, Marià Huguet als Starveling/Moonshine, Pietro Pelleri als Snout/Wall, Aleix Martínez als Snug/Lion und Louis Haslach als Klaus, the music maker an der Drehorgel. Die Blu-ray-Disc-Veröffentlichung schließt eine Lücke in der Sammlung von Neumeiers Ballettdokumenten und weckt natürlich die Hoffnung auf weitere Ausgaben – wie Nussknacker, Dornröschen  oder Duse. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Eine monegassische Megäre. Dank John Cranko fand Shakespeares Komödie The Taming of the Shrew den Weg auf die Tanzbühne. Seine Choreografie von 1971 für das Stuttgarter Ballett ist noch heute ein Musterbeispiel für komödiantischen Witz und groteske Situationen. OPUS ARTE bringt nun unter dem Titel La mégère apprivoisée eine neue Version des Stoffes auf Blu-ray Disc heraus (OABD 7293D). Sie stammt von Jean-Christophe Maillot, der sie 2014 für das Bolshoi Ballet Moskau schuf, wo sie von Stars wie Ekaterina Krysanova und Vladislav Lantratov in den Hauptrollen getanzt wurde. 2020 wurde die Arbeit auf Maillots eigene Compagnie, Les Ballets de Monte-Carlo, übertragen, wo im Juli eine Live-Aufzeichnung im Grimaldi Forum stattfand.

Der Choreograf wählte als musikalische Folie Kompositionen von Dmitri Schostakowitsch (Moscow Cheryomushki, Hamlet, The Gadfly, Sinfonie Nr. 9, Chamber Symphony u. a.). Das Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo spielt die flotte, tanzgerechte Musik unter Leitung von Igor Dronov mit Esprit und Sentiment. Maillots tänzerisches Vokabular mit schnellen Pirouetten, fliegenden grand jétés und hohen Sprungkombinationen ist sehr anspruchsvoll und wird von den Tänzern bravourös umgesetzt. Auf der fast abstrakten Bühne von Ernest Pignon-Ernest mit geschwungenem Treppenaufbau und weißem Säulenrund ohne überflüssiges szenisches Beiwerk kommen ihre Aktionen zu denkbar bester Wirkung. Die turbulente Eingangsszene im Hause des reichen Bürgers Baptista (Christian Tworzyanski), dessen Diener ihn verspotten, könnte auch aus einem Musical stammen. Augustin Maillots Kostüme pendeln zwischen extravaganten Korsagen mit Federboas und sportiver Alltagskleidung.

In der Titelrolle bietet Ekaterina Petina eine glänzende Leistung, ist weniger biestig als Marcia Haydée bei Cranko, aber im Umgang mit Petruchio auch nicht eben zimperlich. Auf ihre Ohrfeige reagiert er mit einem leidenschaftlichen Kuss, was bei ihr eine deutliche Veränderung der Emotionen bewirkt und zum ersten gefühlvollen Pas de deux des Paares führt. Dann bedrängen Katherine schwarz vermummte Gestalten als personifizierte Ängste, entkleiden sie und entwenden ihr den Schmuck. Petruchio gibt ihr sein Hemd und zeigt sich sehr fürsorglich. Matej Urban formt die Figur mit vielen Facetten, nimmt ihr aber nie die Sympathie des Zuschauers. Tänzerisch furios vom ersten Auftritt an, überzeugt er mit seiner vitalen Ausstrahlung und der virilen Sinnlichkeit, zeigt aber für Katherine auch zärtliche Zuwendung.

Katrin Schrader gibt Bianca als lieblichen Gegenentwurf zu ihrer Schwester Katherine. Mit ihrem Freier Lucentio (Jaeyong An) hat sie mehrere fordernde Pas de deux zu tanzen und absolviert sie voller Eleganz und Anmut. Die beiden anderen Bewerber um ihre Hand – der ältliche Gremio (Daniele Delvecchio) und der hochnäsige Hortensio (Simone Tribuna) – bleiben bei ihr chancenlos, nicht aber beim Zuschauer wegen ihrer starken tänzerischen Auftritte.

Eine witzige Figur wie aus der commedia dell’arte ist Adam Reist als Diener Grumio, der die Einladung zur Hochzeit von Bianca und Lucentio überbringt. Katherine und Petruchio erscheinen dort elegant gekleidet und ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Am Ende sind sie auch das Paar, welches sich in wirklicher Liebe gefunden hat. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Bolle-Special: Für alle Ballettfreunde – und insbesondere die Verehrer des italienischen Star ballerino Roberto Bolle – bringt OPUS ARTE eine Box mit drei Dokumenten des Tänzers unter dem Titel The Art of Roberto Bolle heraus (OA BD 7224 BD, 3 Blu-ray Discs). Zwei stammen aus dem Mailänder Teatro alla Scala, dessen führender Erster Solist der Italiener viele Jahre war und auch heute noch manche Aufführung oder Gala der Compagnie mit seinen Auftritten ziert.

Im Februar 2013 wurde das 1965 in Paris uraufgeführte Ballett Notre-Dame de Paris mit der Musik von Maurice Jarre in der Choreografie von Roland Petit in der Scala aufgezeichnet. Zu sehen sind die Originalbühne von René Allio mit der berühmten Pariser Kathedrale in abstrakt-strenger Zeichnung und Yves Saint-Laurents farbige Kostüme voller Mondrian-Zitate. Für die Hauptrollen war eine Starbesetzung aufgeboten: Als Quasimodo vollzieht Roberto Bolle einen gewichtigen Schritt vom Fach des Danseur noble zum Charaktertänzer. Ihm gelingt ein starkes Porträt des verkrüppelten Glöckners in dessen pathologischen Deformierungen. Die Szene mit Esmeralda in der Kathedrale zu Beginn des 2. Aktes voller scheuer Annäherungen und erwachender Gefühle rührt in ihrer Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit. In dieser Rolle sorgt auch Starballerina Natalia Osipova für Aufsehen. Technisch exzellent, hat sie sich Petits Stil in verblüffender Perfektion zu Eigen gemacht. Sogleich ihr erstes, ungemein raffiniertes Solo wird mit starkem Szenenapplaus bedacht. Ihr Duo mit dem Hauptmann der Bogenschützen Phoebus (glänzend Eris Nezha), das sich zum Pas de trois mit dem Archidiakon von Notre-Dame Frollo (fulminant Mick Zeni in seiner körperlichen Gespanntheit und diabolischen Aura) weitet, zeigt sie in faszinierend sinnlicher Ausstrahlung, aber auch als starke Charakterdarstellerin.

Für die vitale, Tempo betonte Choreografie mit fordernden Szenen für das Corps de ballet ist Jarres Musik mit ihren Stilelementen aus Musical und Film die perfekte Folie. Paul Connelly am Pult des Orchestra des Teatro a la Scala ist der denkbar beste Anwalt, sie in all ihrer Vielfalt zu bestmöglicher Wirkung zu bringen.

Gala des Étoiles nennt sich die zweite DVD, welche den Eröffnungsabend (30. Oktober) für die Expo 2015 in Milano festhält. Roberto Bolle führt eine Riege von internationalen Tänzerstars an – so Polina Semionova, mit der er einen Pas de deux aus Roland Petits Carmen zeigt. Später bringt er noch ein Solo aus Massimiliano Volpinis futuristischem  Prototype, das ihn in seiner Überfülle von visuellen Effekten und Video-Einspielungen eher in den Hintergrund rückt. Ein aufsteigender Star der Scala-Compagnie ist deren neuer Erster Solotänzer Claudio Coviello, der mit Melissa Hamilton im Pas de deux aus dem 2. Bild von Kenneth MacMillans Manon das Publikum verzaubert. Zu den langjährigen Superstars des Hauses gehört Svetlana Zakharova, deren Mailänder Auftritte (Odette/Odile, Giselle, Nikia) auch auf DVD dokumentiert sind. Die Gala bereichert sie mit Mikhail Fokines unsterblichem Solo The Dying Swan, das sie in großer Manier zelebriert und damit ihren Ausnahmerang unter den Ballerinen der Gegenwart unterstreicht. Auch ihr zweiter Beitrag, der Pas de deux aus Marius Petipas Le Corsaire, besitzt höchsten Rang. Hier ist Leonid Sarafanov, ein Star der jüngeren Tänzergeneration in Russland, ihr Partner. Er hatte schon vorher gemeinsam mit Alina Somova, auch sie ein neuer Stern am russischen Tänzerhimmel, in Victor Gsovskys Grand Pas classique auf Musik von Auber brilliert. Zu Mailands Tänzerkometen gehört auch Massimo Murru, der mit Maria Eichwald die Balkonszene aus Kenneth MacMillans Romeo and Juliet zeigt. Beide sind reife Interpreten ihrer Rollen, aber im Ausdruck absolut überzeugend. Die langjährige Erste Solistin aus Stuttgart hatte vorher mit Mick Zeni in einer Szene aus Petits La Rose Malade gleichfalls durch die starke Emotionalität ihres Vortrags beeindruckt. Für spektakuläre Nummern sorgt Ivan Vasiliev in zwei seiner Glanzrollen – dem Basil aus Petipas Don Quixote und dem Titelhelden aus Yuri Grigorovichs Spartacus. Als Kitri ist Nicoletta Manni seine Partnerin, nicht unbedingt ein rassiger südlicher Typ, aber kokett in der Variation und am Ende mit bravourösen Pirouetten und Fouettées. Vasilievs artistische Sprünge sind schier unwirklich und in ihrer technischen Vollkommenheit ein Wunder. Maria Vinogradova ist eine wunderbare Phrygia, die mit Spartacus in beider nächtlichem Tanz vor dem entscheidenden Kampf gegen das Heer von Crassus in der unverbrüchlichen Liebe zu ihrem Helden anrührt. Vasilievs enorme Kraft zeigt sich in den mirakulösen einarmigen Hebungen.

Schließlich ist noch das langjährige Münchner Solopaar Lucia Lacarra und Marlon Dino hervorzuheben, das den Abend mit Ben Stevensons Three Preludes auf Musik von Rachmaninov eröffnet und im zweiten Teil des Programms einen sehr erotischen Pas de deux aus Gerald Arpinos Light Rain bringt. Die Spanierin, von ihrem Partner sicher geführt, verblüfft mit exotischem Flair und der schlangenhaften Biegsamkeit ihres Körpers. Am Ende vereint Ponchiellis Dance of the Hours alle Solisten des Abends, ein jeder noch mit einer bravourösen Zugabe, zum Defilée auf der Bühne – vom Publikum mit tosendem Applaus überschüttet.

Die dritte DVD hält eine Aufführung von Léo Delibes’ Sylvia beim  Royal Ballet London vom Oktober 2005 fest und ist damit das älteste Dokument der Ausgabe. Frederick Ashtons Choreografie wurde 1952 in Covent Garden uraufgeführt und wird bis heute als ein Juwel im Repertoire gepflegt. Die Originalausstattung von Robin und Christopher Ironside mit zusätzlichen Designs von Peter Farmer bezaubert noch immer in ihrem bukolischen Kolorit und der  romantischen Atmosphäre. Die Besetzung der mythologischen Geschichte von der Jagdgöttin Diana, ihrer Nymphe Sylvia und dem in sie verliebten Schäfer Aminta ist spektakulär – nicht nur wegen Roberto Bolle als Aminta, sondern auch wegen der britischen Tanzikone Darcey Bussell in der Titelrolle. Langjährig war sie Principal der Compagnie und ist heute als sachkundiger Host bei den Kino-Übertragungen des Royal Ballet tätig. Ihre Technik ist stupend, ihre Aura von hoheitsvoller Eleganz. Der aufreizende Tanz vor Orion, der sie entführt hat, zeigt sie auch als Meisterin der erotischen Verführungskunst. Die Pizzicati-Variation im 3. Akt ist dann wieder ein Beispiel für ihre eminente Technik und bezaubernde Leichtigkeit. Bolle meistert die enorm schwierige Choreografie der Aminta-Partie – nach leichter Nervosität im ersten Auftritt – bewundernswert und ist optisch wie stets ein Ereignis in seiner männlichen Attraktivität. In der Valse-Variation im 3. Akt glänzt er mit bravourösem Auftritt und gemeinsam mit der Bussell adelt er das Andante mit hoheitsvoller Allüre, um im rasanten Galopp noch ein virtuoses Glanzlicht zu setzen.

Mara Galeazzi, heute eine Säule des Londoner Ensembles, gibt eine autoritäre Diana von strenger Attitüde, die aber am Schluss dem Bund von Sylvia und Aminta zustimmt. Auch Thiago Soares als furioser Orion von orientalischer Sinnlichkeit ist ein bekannter Name. Der Eros von Martin Harvey imponiert gleichermaßen als Statue wie als Wunderheiler, der den durch einen Pfeil getroffenen Aminta wieder zum Leben erweckt. Unter Sylvias Begleiterinnen finden sich mit Lauren Cuthbertson und Sarah Lamb zwei Tänzerinnen, die heute mit Hauptrollen betraut werden. Stark gefordert wird das Corps de ballet und die Londoner Compagnie erweist sich würdig diesem Anspruch.

Für die Bolle-aficionados ist die Veröffentlichung sicher weniger attraktiv, weil sie diese DVDs bereits besitzen, wobei Sylvia, nun erstmals als Blu-ray Disc vorliegt, aber für alle Ballettfreunde, die eine Sammlung aufbauen wollen, ist die Box ein günstiger Einstieg. Bernd Hoppe

Zum Sechsten Mal: Kenneth MacMillans Choreografie zu Prokofjews Ballett Romeo and Juliet ist ein Standardwerk im Repertoire des Royal Ballet London. 1965 hatte er es für Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn geschaffen. Beide Tänzerlegenden sind in einer DVD-Ausgabe von 1966 bei CAROL MEDIA zu erleben. Es ist dies die erste von mittlerweile sechs Aufzeichnungen dieses Werkes aus Covent Garden (alle in der opulenten Ausstattung von Nicholas Georgiadis). 1984 folgte eine Produktion mit Wayne Eagling und Alessandra Ferri, 2007 mit Carlos Acosta und Tamara Rojo. Mit Federio Bonelli und Lauren Cuthbertson 2012 begann ein Umschwung in der Besetzungspolitik. Die beiden Hauptrollen wurden nun jungen Tänzern anvertraut, die noch nicht der Star-Status schmückte, die aber in ihrem Alter der Vorlage Shakespeares näher kamen. Jüngste Veröffentlichung war eine 2019 in naturalistischer Kulisse gefilmte Version mit William Bracewell und Francesca Hayward.

Legendär und ewig: Rudolf Nurejev und Margot Fonteyn als Romeo und Juliet in der Erstproduktion an Covent Garden 1966, wie sie das Video bei Kultur festhält.

Einige Mitwirkende dieser etwas befremdlichen (und gekürzten) Fassung sieht man nun in der aktuellen Ausgabe von OPUS ARTE wieder, die 2019 im Londoner Opernhaus entstand (OA 1314D). Da ist zuerst Matthew Ball zu nennen, der vorher ein aggressiv-gefährlicher Tybalt war und nun in der männlichen Titelrolle auftritt. Seine Julia ist Yasmine Naghdi mit reizvoll herber Aura. Sie ist anfangs von reizender Naivität, aber schon bei der ersten Begegnung mit Romeo auf dem Ball geschieht mit ihr eine Verwandlung. Ihr Ausdruck ist nun ernst, verrät aber bereits die baldige Hingabe. Das junge Paar bezaubert in der berühmten Balkon-Szene durch den Überschwang der Gefühle, die sich in federnden Sprüngen, wirbelnden Pirouetten und scheinbar schwerelosen Hebungen ausdrücken. Auch den Abschied im Schlafzimmer nach dem verhängnisvollen Geschehen auf dem Marktplatz gestalten beide hinreißend im Übermaß ihres Schmerzes. Als Mercutio ersetzt der Italiener Valentino Zucchetti den neuen Star der Compagnie Marcelino Sambé, der nun den Mandolinen-Tanz im 2. Akt mit virtuosem Auftritt anführt. Zucchetti hat sich jahrelang durch viele démi-Partien gearbeitet und bekommt nun endlich und verdient eine große Aufgabe. Sein flinkes Solo auf dem Ball und vor allem sein Duell mit Tybalt, das ihn das Leben kostet, sind starke Szenen. Gary Avis, eine Säule des Ensembles und langjähriger Rothbart im Swan Lake, ist ein reifer, herablassender Tybalt mit enormer Persönlichkeit, in den Fechtszenen ein Rasender, aber über Mercutios Tod doch betroffen. Sein Ende wird von Christina Arestis als Lady Capulet mit exaltierten Gebärden betrauert. Unverzichtbar Christopher Saunders als Lord Capulet (in beiden Produktionen) und Kirsten McNally (zunächst die Lady Capulet und nun Julias Amme). Neu in der aktuellen Veröffentlichung sind Benjamin Ella als munterer Benvolio und Nicol Edmonds als eleganter, durchaus sympathischer Paris. Grandios ist das Corps de ballet in den zahlreichen Gruppenszenen – auf dem Marktplatz, vor Capulets Palast und im Ballsaal.

Am Pult des Orchestra of the Royal Opera House steht der Ballett-erfahrene Pavel Sorokin, der Prokofjews Komposition mit all ihren lyrischen und dramatischen Facetten effektvoll ausbreitet. Die Neuveröffentlichung zeugt vom vorbildlichen und verdienstvollen Umgang des Royal Ballet London mit seinem choreografischen Erbe. Bernd Hoppe

Neu bei EuroArts: Neumeiers Corona-Ballett. Ghost Light nennt John Neumeier seine neue Arbeit und widmet sie den Tänzern des Hamburg Ballet (2065818). Die Company war weltweit eine der ersten, welche nach dem ersten Lockdown in die Ballettsäle zurückkehrte. Neumeier kreierte das Stück für 55 Tänzer unter strengen Corona-Auflagen, also Abstandsregelungen und Zuordnung von Pas de deux ausschließlich für Lebenspartner. Das Ballett reflektiert Emotionen verschiedener Art – Ängste, Träume, Erinnerungen und Gefühle während der Pandemie. Zu sehen sind auch Szenen aus früheren Schöpfungen des Choreografen (Kameliendame, Nussknacker, Nijinsky), wofür einige Originalkostüme von Jürgen Rose verwendet werden. Die musikalische Folie bildet Klaviermusik von Franz Schubert (Moments Musicaux D 780, Vier Impromptus D 899 und der 1. Satz der Sonate G-Dur D 894), die David Fray mit großem Einfühlungsvermögen interpretiert. Gost Light bezeichnet jenes Licht, welches in amerikanischen Theatern nach Ende einer Aufführung die Bühne beleuchtet, um die Geister früherer und mittlerweile verstorbener Künstler während der Nacht auftreten zu lassen. Eine Glühlampe ist dann auch das einzige Requisit auf der sonst leeren Bühne (Ausstattung und Licht ebenfalls von Neumeier).

Die DVD-Ausgabe entstand bei einer Live-Aufführung des Balletts (mit Publikum) im Oktober 2020 im Festspielhaus Baden-Baden und beginnt mit einem stummen Auftritt von Anna Laudere (der wunderbaren Anna Karenina) im Kostüm der Margerite Gautier. In hektischen Bewegungen und konfus gestammelten Lauten in ihrer Muttersprache zeichnet sie eine verängstigte Figur, bis sich Edvin Revazov (im Leben ihr Ehemann) im Kostüm des Armand zu ihr gesellt und Passagen aus der Choreografie der Kameliendame nachempfindet. Beide Tänzer bilden eines der prominenten Paare, die zusammen tanzen dürfen. Im Impromptu Nr. 3 Ges-Dur hat ihnen der Choreograf ein besonders gefühlsstarkes Duo geschenkt. Das  zweite Paar sind Silvia Azzoni (unvergessen als Kleine Meerjungfrau) und Alexandre Riabko (ein grandioser Nijinsky, den er auch zitiert), die in einer innigen Szene von starker Emotionalität zu sehen sind. Ähnlich zugewandt sind Madoka Sugai (die rasante Kitri im Don Quixote) und Nicolas Glasmann im Impromptu Nr. 1 c-Moll. Auch ein Männerpaar darf sich zusammen finden: David Rodriguez und Matias Oberlin. Sie durchmessen verschiedene Stadien einer Beziehung: Annäherung, Erfüllung, Entfremdung, Aggression, Trennung und Wiederfinden.

Der katalanische Tänzer Aleix Martinez (zuletzt überwältigend als Protagonist in Neumeiers Beethoven-Projekt) kann sich erneut profilieren in der Darstellung eines psychisch wie körperlich geschädigten Menschen mit marionettenhaften, abgehackten Bewegungen und verzerrtem Ausdruck. Félix Paquet, der in der Glasmenagerie den Durchbruch hatte, macht mit seiner charismatischen Ausstrahlung erneut auf sich aufmerksam. Neu im Ensemble, aber Aufsehen erregend ist Atte Kilpinen mit bravourösem Sprungvermögen. Er ist auch der fesche Prinz in schmucker Uniform für die junge Emilie Mazon im Kostüm der Marie aus dem Nussknacker. Und er kann mit Karen Azatyan (noch in wacher Erinnerung als d’Annunzio in Neumeiers Duse) einen übermütig ausgelassenen Tanz zum Impromptu Nr. 2 Es-Dur hinlegen. Nicht fehlen in ihrer eleganten Aura darf Hélène Bouchet, die Grand dame der Compagnie. Es kommt zu Annäherungen mit Jacopo Belussi und Christopher Evans, aber nicht mehr. Die Abstände müssen bleiben… Zum 1. Satz der Sonate G-Dur D984 vereint sich am Ende das gesamte Ensemble mit dem Ausdruck der Hoffnung und Zuversicht, aber auch der Ratlosigkeit und des Zweifels. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Das Scala-Ballett huldigt Petipa. Die Serie von Ballett-Aufzeichnungen aus der Mailänder Scala erweitert Cmajor um die Neuproduktion von Le Corsaire aus dem Jahre 2018 (Blu-ray Disc 756304), die anlässlich des 200. Geburtstages von Marius Petipa entstand. Schon zwei Jahre nach der Uraufführung in Paris, choreografiert von Joseph Mazilier, kam das Werk nach Lord Byrons The Corsair in St. Petersburg zur Aufführung, erweitert um einige Einlagen, für die Marius Petipa verantwortlich zeichnete. Auf dessen legendärer Choreografie, ergänzt um Szenen aus der von Konstantin Sergeyev, fußt die Fassung von Anna-Maria Holmes, die hier gezeigt wird. Holmes gilt als Spezialistin für die grands ballets des 19. Jahrhunderts. Der Scala würdig ist die Ausstattung von Luisa Spinatelli mit ihren perspektivischen Landschafts- und Architektur-Malereien sowie den prachtvollen Kostümen mit reichem orientalischem Kolorit. Nur im 3. Akt beim Jardin animé entgeht sie in der dekorativen Ornamentik und dem üppigen Blumendekor nicht dem Kitsch. Die Musikcollage mit Kompositionen von Adolph Adam, Cesare Pugni, Léo Delibes, Riccardo Drigo und Peter von Oldenburg ist bei Patrick Fournillier in sachkundigen Händen. Mit dem Orchestra of Teatro alla Scala zaubert er eine reiche Palette von Farben und Stimmungen – von der stürmisch-dramatischen Eingangsszene über die schwelgerischen Lyrismen und federnden Rhythmen bis zum Schluss, der die Turbulenzen des Beginns aufnimmt.

In der hochrangigen Besetzung findet sich auch der neue Primo ballerino der Scala Timofej Andrijashenko als Conrad, der schon mit seinem bravourösen Auftritt für Aufsehen sorgt. Seine Partnerin ist die junge Primaballerina Nicoletta Manni als Medora, in ihrer ersten Variation noch leicht nervös und auch nach ihrer Entführung durch den Sklaven Ali im Grand Pas de deux mit Conrad anfangs nicht ganz sicher, kann sie spätestens bei den virtuos gedrehten fouettés und Pirouetten ihre Klasse zeigen. Das einstige Glanzstück von Fonteyn und Nurejew wird hier in der ursprünglichen Version a trois classique mit Ali gezeigt und als dieser ist der junge Mattia Semperboni mit Modellkörper, exotischer Aura, Sprungkaskaden und raffiniert verlangsamten Drehungen eine  sensationelle Entdeckung. Da auch Andrijashenko mit stupenden grand jétés à la manège glänzt, erweist sich diese Nummer auch hier als Höhepunkt des Balletts. Ähnlich überwältigend ist der Eindruck, den Conrad und Medora im Pas de deux Grand Adagio hinterlassen. Zu diesem lyrischen Liebesbekenntnis lässt Spinatelli sogar die Sterne am Firmament erstrahlen.

Optisch reizvoll und tänzerisch grandios ist Martina Arduino als Sklavin Gulnare in ihrem Pas d’Esclave mit dem vitalen, sprungstarken Marco Agostino als Sklavenhändler Lankendem. Im 3. Akt im Palast des Pasha entzückt sie mit ihrer Koketterie, im Jardin animé mit Delikatesse. Als Conrads Freund Birbanto ergänzt Antonino Sutera die Besetzung mit virilem Aplomb.  Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Neues und Altes vom Royal Ballet. Einen neuen zweiteiligen Abend des Royal Ballet London von 2020 bringt OPUS ARTE auf einer Blu-ray Disc heraus (OABD7277D). Er enthält eine neue Arbeit von Cathy Marston mit dem Titel The Cellist auf Musik von Philip Feeney (nach Elgar, Beethoven, Fauré, Mendelssohn, Piatti, Rachmaninoff und Schubert). Inspiration für die Choreografin zu ihrem Ballett war die Persönlichkeit der legendären Cellistin Jacqueline du Pré – ihre Kunst, ihr Leben, ihre Krankheit. Mit Lauren Cuthbertson ist die Titelrolle ideal besetzt. Die renommierte Tänzerin der Company verkörpert gleichermaßen perfekt die Jugend und den frühen den Ruhm der Musikerin wie auch die später einsetzende Tragödie durch die unheilbare Krankheit.

In der Person des Tänzers Macelino Sambé personifiziert Marston das Instrument des Cellos. Der junge, virile Solist ist ein neuer Star des Ensembles und fiel erstmals 2017 in der Choreografie Flight Pattern auf. Er eröffnet mit stupender körperlicher Gewandtheit das Stück mit einem Solo, in welchem er mit dem Instrument geradezu verwachsen scheint. Die ersten Episoden zeigen die Kindheit der Titelheldin mit ihren Schwestern und der Mutter, sodann die erste Unterrichtsstunde und das erste Recital (als Tanzduette mit Sambé).

In der Besetzungsliste finden sich Kristen McNally als die Mutter, Thomas Whitehead (der Vater) und Anna Rose O’Sullivan (die Schwester der Cellistin). Gary Avis, Nicol Edmonds und Benjamin Ella geben die Cello-Lehrer. Der charismatische Matthew Ball verkörpert den Dirigenten. Nach einem Konzert kommt es zwischen ihm, der Cellistin und dem Instrument zu einem emotionsgeladenen Pas de trois. Bald darauf folgt die Hochzeit des Dirigenten mit der Instrumentalistin. Wenn sie die ersten Symptome der Krankheit spürt, ist es das Instrument, das ihr in einer berührenden Szene Trost zu spenden versucht. Auch ihr Mann will ihr zur Seite stehen, ebenso die Familie, und sie selbst rebelliert mit allen Kräften gegen die tückische Krankheit. Se wagt einen öffentlichen Auftritt, doch die Kraft versagt ihr. In einem erschütternden Duett mit dem Instrument spiegeln sich alle ihre Ängste und die Verzweiflung wider. Zuletzt sieht man sie gelähmt in einem Sessel sitzen – ein geheimnisvolles Lächeln umspielt ihre Züge…ochzeit

Die sparsam ausgestattete Bühne von Hildegard Bechtler zeigt zwei holzfurnierte, drehbare Wände und ein paar Stühle, die Kostüme von Bregje von Balen orientieren sich an der Mode der 1950er Jahre. Das Orchestra of the Royal Opera House spielt die vielschichtige Musik unter Andrea Molino sehr einfühlsam, wie auch Hetty Snell am Solo-Cello neben vitaler Energie eine große Sensibilität spüren lässt.

Zu Beginn der Aufführung gab es einen Klassiker von Jerome Robbins, Dances at a Gathering, 1969 vom New York City Ballet uraufgeführt, ein Jahr später erstmals in London gezeigt mit einer Starbesetzung (Nurejew, Seymour, Dowell, Sibley, Wall, Mason). Die musikalische Folie bildet Klaviermusik von Chopin, vom Solopianisten Robert Clark gleichermaßen brillant wie sensibel interpretiert.

Auf der leeren Bühne vor einem Himmelsprospekt sind erste Kräfte der Company im Einsatz. Alexander Campbell eröffnet das Stück mit einem melancholischen Solo zur Mazurka cis-Moll, op. 63, 3. Musik und Tanz bilden eine vollkommene Einheit – ein Fakt, welcher die gesamte Choreografie auszeichnet. Francesca Hayward und Willliam Bracewill folgen mit dem poetischen Walzer b-Moll op. 69,2, Marianela Nuñez und Federico Bonelli mit der träumerischen Mazurka es-Moll op. 6,4. Yasmine Naghdi, eröffnet die temperamentvolle Mazurka C-Dur op. 7,5 mit einem Solo, das Bonelli und Campbell ergänzen und später noch Fumi Kaneko, Valentino Zucchetti, Laura Morera und Nuñez zum Einsatz bringt. Im Wechsel von Soli, Duos und Ensembletänzen liegt ein großer Reiz dieser neoklassischen Arbeit. Alle zehn Solisten vereinen sich ernst und nachsinnend zum finalen Nocturne F-Dur op. 15,1. Bernd Hoppe

Bei Cmajor: Nurejews The Sleeping Beauty aus der Scala. Rudolf Nurejews Produktion von Tschaikowskys Ballett The Sleeping Beauty 1966 mit dem Ballett der Mailänder Scala war seine erste eigene Deutung dieses Klassikers. Später wurde sie auch beim Ballet de l’Opéra national de Paris gezeigt, was eine DVD-Aufnahme aus der Opéra Bastille  von 1999 belegt. Nun erschien bei Cmajor der Mitschnitt einer Neueinstudierung dieser Choreografie in Mailand von 2019 mit Polina Semionova und Timofej Andrijashenko (756008, 2 DVDs). Die Produktion zählt zu den Highlights des Repertoires und blieb beständig im Spielplan. Zuletzt wurde sie vor 12 Jahren gezeigt, 2002 gab es mit Diana Vishneva und Roberto Bolle eine illustre  Besetzung, gegen die sich die neuen Interpreten behaupten mussten.

Die russische Startänzerin ist auch regelmäßiger Gast beim Staatsballett Berlin, wo sie Partie in der Choreografie von Nacho Duato verkörperte. In Mailand stand sie vor einer weit größeren Herausforderung, denn Nurejews Choreografie (nach Petipa) zählt zu den anspruchsvollsten des gesamten klassischen Repertoires. Ihr Auftritt im 1. Akt beim 16. Geburtstag der Prinzessin Aurora zeigt ihre Klasse als Ausnahme-Ballerina, atmet die gebotene Jugend und Leichtfüßigkeit. Beim nachfolgenden gefürchteten Rosen-Adagio vermag sie die schwierigen Balancen zwar nicht sehr lange auszukosten, absolviert sie aber sicher. Die Variation und die Coda zelebriert sie in exquisiter Manier. Mit dem majestätischen Pas de deux am Ende krönt sie – gemeinsam mit ihrem Partner Timofej Andrijashenko, der für seine bravouröse Variation  gefeiert wird – eine Leistung, die zu den überzeugendsten ihrer bisherigen Karriere zählt.

Der Lette feierte bei seinem Debüt als Prinz Desiré einen großen Erfolg – ein Tänzer von vollendeter Eleganz und aristokratischer Aura. Das horrend schwierige Solo im 2. Akt (eine Erfindung Nurejews) zeigt ihn als romantischen Träumer, seine hohe Sensibilität und das bestechende technische Finish waren perfekte Voraussetzungen für die makellose Bewältigung dieser Variation, die in vielen Aufführungen gestrichen ist oder vereinfacht wird.

Im Prolog hatte die böse Fee Carabosse ihr spektakuläres Entree, wenn sie aus Zorn, zum Fest nicht eingeladen worden zu sein, die neugeborene Prinzessin verflucht, mit 16 Jahren an einem Stich in den Finger zu sterben. Die Partie ist hier nicht en travestie besetzt, sondern mit der furiosen Beatrice Carbone, die die Gefährlichkeit und Hinterhältigkeit der Figur trefflich vermittelt. Die Fliederfee (Emanuela Montanari edel und hoheitsvoll) vermag den Fluch zu entkräften – statt zu sterben, wird Aurora nur in einen tiefen Schlaf fallen, aus dem der Kuss eines Retters sie erwecken soll. Der brillante Pas de cinq und das glanzvolle Divertissement beim Hochzeitsfest bieten auch in dieser Aufführung tänzerische Vielfalt und hohes Können. Vor allem der federleicht getanzte Pas de deux des Blauen Vogels mit Prinzessin Florine (Claudio Covello und Vittoria Valerio) ragt wie zumeist heraus. Der Auftritt des Gestiefelten Katers (Federico Fresi) und der Weißen Katze (Antonella Albano) sorgt dagegen wie stets für Heiterkeit im Publikum. Das Corps de ballet der Scala (geleitet von Frédéric Olivieri) absolviert die höchst schwierigen Figuren und Formationen engagiert und souverän.

Überwältigend in ihrer Opulenz ist die Ausstattung von Oscar-Preisträgerin Franca Squarcapino – seit Jahren eine Säule an der Scala und Garantin für Pracht und Eleganz. Felix Korobov leitet das Orchester des Teatro alla Scala mit großem Einfühlungsvermögen in die vielfarbige Komposition Tschaikowskys. Nach dem Don Quixote aus der Scala von 2016 mit Osipova und Sarafanov hat Cmajor nun ein weiteres Juwel veröffentlicht, wofür der Firma Dank gebührt. Bernd Hoppe

Getanztes Wintermärchen: OPUS ARTE bringt als DVD eine Live-Produktion vom Scottish Ballet heraus, welche Hans Christian Andersens berühmtes Märchen Die Schneekönigin zur Vorlage hat (OA1329D). Auf Musik von Nikolai Rimsky-Korsakov choreografierte Christopher Hampson das Stück unter dem Titel The Snow Queen – A Glittering Winter Tale. Richard Honner stellte die Musik aus Orchestersuiten und Konzertfantasien des russischen Komponisten sowie Auszügen aus seiner Oper Schneeflöckchen zusammen. Mit dem Scottish Ballet Orchestra lässt sie Jean-Claude Picard voller Sinnlichkeit, Dramatik, Schwung und exotischem Raffinement ertönen.

Die Handlung kreist um zwei Schwestern – die Schneekönigin und  die Sommerprinzessin -, die in einem verzauberten Land aus Schnee und Eis leben, sowie das junge Paar Kai und Gerda. Unter dem Namen Lexi verlässt die Sommerprinzessin ihre Schwester, was deren Zorn hervorruft, und versucht sich auf Marktplätzen als Taschendiebin. Mit den Scherben ihres Zauberspiegels gelingt es der Schneekönigin, bei Kai eine totale Wesensveränderung zu bewirken. Alles Schöne sieht er nun als hässlich an und seine Gerda erkennt er nicht mehr. Sie aber sucht und findet ihn am Ende im Eispalast, wo die beiden Schwestern furios gegen einander kämpfen und untergehen. Der Zauber der Schneekönigin ist gebrochen und das junge Paar findet glücklich wieder zueinander.

Das märchenhafte Geschehen bietet viele bunte Schauplätze, für die Ausstatter Lez Brotherston phantasievolle Bilder erdachte: im Hintergrund eine Stadtlandschaft in Silhouettenwirkung, beleuchtet von pariserisch anmutenden Laternen, der Eispalast mit dem Zauberspiegel aus gefährlich spitzen Splittern, ein Marktplatz mit geschäftigem Treiben und einer wie von Schinkels Sternenhimmel illuminierten Varietébühne, der vom Mond beleuchtete Wohnwagen der Wahrsagerin, schließlich ein zauberischer Märchenwald.

Die Choreografie fußt auf klassischem Vokabular und ist mit ihren anspruchsvollen Soli und Pas de deux eine Herausforderung für die Compagnie. Sie stellt sich dieser mit großem Engagement und imponiert mit einem starken Auftritt. Glänzend sind die Solisten, allen voran Constance Devernay als Snow Queen im glitzerndem Gewand und kostbarem Diadem mit herrscherlicher Attitüde und eisiger Aura. Ähnlich überzeugend Kayla-Maree Tarantolo in der Doppelrolle der Summer Princess  und Lexi im Outfit eines Wildwest-Girls.  Anrührend und tänzerisch hochrangig ist das junge Liebespaar mit Bethany Kingsley-Farner als Gerda, die entschlossen und mutig um ihren Freund kämpft, und Andrew Peasgood als jungmännlich sympathischer Kai, der seine Wesensveränderung körperlich mit energiegeladenen Sprüngen und auch im mimischen Ausdruck sehr glaubhaft macht. Mit Gerda tanzt er einen innigen Pas de deux und mit der Snow Queen ein konfliktreiches und beeindruckend virtuoses Duo. Attraktive tänzerische Episoden gibt es auf dem Marktplatz mit Artisten (Madeline Squire/ Roseanna Leney), Clowns (Constant Vigier/Aarón Venegas), einem tätowierten Kraftprotz (Evan Loudon) und einer Ballerina (Alice Kawalek), angeführt von Bruno Micchiardi als bravourösem Ringmaster. Die sinnliche Wahrsagerin (Grace Horler) und ihr rassiger Ehemann Zac (Jerome Anthony Barnes) bieten temperamentvollen Tanz. Im Winterwald sieht man wirbelnde Schneeflocken (solistisch: Aisling Brangan/Grace Paulley) und sprungstarke Schneewölfe (Bruno Micchiardi/Thomas Edwards). Steht die Szene auf dem Marktplatz für ein Divertissement, bedient jene im Wald das traditionelle Weiße Bild des klassischen Balletts. Allen Mitwirkenden des Scottish Ballet gebührt Dank für diese hochrangige Produktion, welche auch eine Bereicherung in der Gattung der existierenden Handlungsballette darstellt. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Ballett in naturalistischer Kulisse: Prokofjews Romeo and Juliet in der Choreografie von Kenneth MacMillan zählt zu den Repertoire-Pfeilern des Royal Ballet London. Am 9. Februar 1965 wurde es in Covent Garden uraufgeführt. Einige Jahre zuvor hatte der Choreograf auf Einladung des kanadischen Fernsehens die Balkonszene für Lynn Seymour und Christopher Gable geschaffen, die dann auch in seiner Kreation in London auftreten sollten. Doch die Direktion des Royal Ballet entschied, den Premierenabend an Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn zu geben, was umstritten war, denn Seymour und Gable hatten den Startänzern Jugend und Temperament voraus. Sie kamen aber dann in der zweiten  Vorstellung zum Einsatz, welche Zeugnis davon gab, wie MacMillan seine Version interpretiert haben wollte. In mehreren Dokumenten liegt sie auf DVD vor – mit Alessandra Ferri und Wayne Eagling von 1984, mit Tamara Rojo und Carlos Acosta von 2007, mit Lauren Cuthbertson und Federico Bonelli von 2012. Sie allen wurden in der atmosphärischen Ausstattung von Nicholas Georgiadis aufgezeichnet.

Nun erschien bei OPUS ARTE als Blu-ray Disc  (OABD7261D) ein Film von Michael Nunn und William Trevitt mit dem Titel Romeo and Juliet – Beyond Words, der MacMillans Choreografie verwendet und auch die Kostüme von Georgiadis, nicht aber dessen Szenerie. Statt auf einer Bühne spielt das Geschehen nun auf Straßen und Plätzen von Verona, in einer naturalistischen Kulisse also, die in den Korda Studios in Etyek nahe Budapest nachgebaut wurde. Sie wird garniert von gackernden Hühnern, bellenden Hunden und gurrenden Tauben sowie starkem Wind und heftigem Regenschauer. Für die Kunstform Tanz ist dies eine ungewohnte und befremdliche Form. Auch musste Prokofjews mehr als zweistündige Komposition auf eine Filmlänge von 90 Minuten gekürzt werden, was den Verlust von mehreren Gruppentänzen zur Folge hatte. Aber das Handlungsgerüst blieb erhalten, so dass das Geschehen jederzeit nachverfolgt werden kann. Die Tonaufnahmen fanden in den AIR Studios in Hampstead, London, mit dem Orchestra of the Royal Opera House unter Leitung von Koen Kessels statt.

In der Besetzung finden sich junge, hoffnungsvolle Tänzer der Londoner Compagnie. Marcelino Sambé als Mercutio ist sogar bereits einer ihrer Stars. Sein rasantes Solo auf dem Ball der Capulets mit wirbelnden Pirouetten ist ein tänzerischer Höhepunkt des Films. Auch Matthew Ball ist ein bekanntes Gesicht des Ensembles – sein Tybalt atmet die gebührend aggressive Gefährlichkeit. Schließlich Christopher Saunders – eine Institution der Compagnie – als seriöser und autoritärer Lord Capulet. Kirsten McNally – eine Königin vom Dienst auf der Londoner Bühne – hat als Lady Capulet ihren großen Auftritt am Leichnam von Tybalt, wo sie sich ihrem Schmerz in exaltierten Posen hingibt. Das Trio der Freunde komplettiert James Hay als attraktiver Benvolio, von gebührender Blässe ist Tomas Mocks Paris, zu jung die Amme von Romany Pajdak.

Bezaubernd ist das junge Paar von William Bracewell und Francesca Hayward. Sein Romeo imponiert durch jugendliche Vitalität, Übermut und Temperament. Hinreißend in der Vehemenz das Duell mit Tybalt, grandios die Balkonszene. Die federleichte Julia entzückt zu Beginn in ihrer kindlichen Verspieltheit, der Tanz wandelt sich  zunehmend zu reizender Anmut, bis sie in ihrem Konflikt zwischen Romeo und dem ungeliebten Paris zu berührender Gestaltung findet. Überwältigend die Fassungslosigkeit und das Leid am Leichnam von Romeo. Die beiden jungen Tänzer dürften dem Ideal des Choreografen mit Seymour/Gable sehr nahe kommen, was als das denkbar größte Kompliment zu verstehen ist. Bernd Hoppe

Bei BelAir: Tanzdokument aus dem Mikhailovsky Theatre: BelAir veröffentlicht eine Aufzeichnung von Minkus’ Ballett La Bayadère aus dem Mikhailovsky Theatre St. Petersburg –  dem neben dem Marijinski Theatre zweiten bedeutenden Opernhaus der russischen Metropole. Der spanische Choreograf Nacho Duato war vor seinem Engagement als Intendant des Berliner Staatsballetts in vergleichbarer Funktion an diesem Hause beschäftigt und übertrug einige seiner dortigen Produktionen (z. B. Dornröschen und Der Nussknacker) später auf die Berliner Compagnie. Sein Ballett über die indische Tempeltänzerin Nikiya, ihren Geliebten Solor und die Rivalin Gamzatti war allerdings in Berlin nicht zu sehen. Umso erfreulicher ist diese Veröffentlichung, die im November 2019 aufgezeichnet wurde und nun auf einer DVD erschien (BAC 182).

Duato stützt sich in seiner Arbeit auf die Originalchoreografie von Marius Petipa, verwendet die dreiaktige Fassung (wie Nurejew in Paris), welche mit dem Wiedersehen von Nikiya und Solor im Schattenreich endet. Allerdings ist es kein Happy End wie in Paris, sondern eine schmerzliche Abschiedsszene, wie sie auch das Bolshoi in Moskau zeigt, denn nach dem Wiedersehen muss Nikiya zurück in ihre Welt und Solor bleibt im Gram allein zurück. Einige pantomimische Szenen, wie den Auftritt von Solors Gefolgsleuten, hat Duato aufgewertet, wie seine Version überhaupt viel tänzerischer orientiert ist als die bekannten Deutungen. Die Ausstattung von Angelina Atlagic ist von klassischem Zuschnitt mit Tempeln, Landschaftsprospekten im Hintergrund, Sternenhimmel sowie prachtvollen, historisch orientierten Kostümen.

In der Titelrolle ist Angelina Vorontsova zu sehen, die mit ihrem blonden Haar und der Physiognomie ein wenig zu europäisch wirkt für die exotische Figur, aber tänzerisch stark beeindruckt. Schon in ihren Auftritt hat Duato zusätzliche Schwierigkeiten eingebaut, die sie mühelos bewältigt. Mit stupender Gewandtheit absolviert sie ihren Tanz auf der Verlobungsfeier, bei dem Duato leider den ekstatischen Schlussteil gestrichen hat. Von höchster Kunstfertigkeit ist ihr Auftritt im großen Pas de deux des Schattenreiches.

Auch die Rivalin Gamzatti (Andrea Lassáková) ist keine rassige Schönheit, sondern eher die kühle Blonde, doch von hoheitsvoller Allüre und tänzerisch gleichfalls ohne Makel. Ihre Variation und die Coda im 2. Akt stellen ihr das Zeugnis einer erstrangigen Ballerina aus.

Victor Lebedev ist der sprungstarke Solor, der in der Variation im 2. Akt einen bravourösen Auftritt hat. Im Pas de deux des 3. Aktes ist er Nikiya ein wunderbarer Partner, leider ist seine schwierige Serie von double tour en l’air gestrichen – der einzige Schwachpunkt dieser insgesamt grandiosen Aufführung.

Das Bronze Idol, das eigentlich erst im 4. Akt auftritt, wird in einer dreiaktigen Fassung schon bei der Verlobung von Gasmzatti und Solor im 2. Akt gezeigt. Nikita Tchetverikov zeigt es mit gebührend bizarrer Aura und hoher Virtuosität in den wirbelnden Pirouetten.

Der Hohe Brahmane (Sergey Strelkov) und der Radscha (Andrey Kasyanenko) sind keine pantomimischen Figuren wie üblich, sondern werden mit anspruchsvollen tänzerischen Aufgaben betraut. Das Corps de ballet beeindruckt im Schattenreich, wo Duato die Originalchoreografie übernommen hat,  mit hoher Präzision und magischer Wirkung. Neben den 24 Tänzerinnen imponieren die drei Solo-Schatten (Svetlana Bednenko, Andrea Lassáková, Yulia Lukyanenko) mit exquisiten Variationen.

Am Pult des Orchestra of the Mikhailovsky Theatre steht der Ballett erfahrene Pavel Sorokin, der die Aufführung mit großem Gespür für die Tänzer leitet. Bernd Hoppe

Vorweihnachtliche Freude mit Coppélia von OPUS ARTE. Léo Delibes’ Coppélia ist ein Klassiker beim Royal Ballet London. Die reizende Choreografie stammt von Ninette de Valois, die sich bei ihrer Arbeit auf die historischen Vorlagen von Lev Ivanov und Enrico Cecchetti stützte. Osbert Lancasters Ausstattung entfaltet den märchenhaften Zauber eines Bilderbuches, hält perfekt die Balance von Naivität und Raffinement. Der Himmel im Hintergrund zeigt Magritte-Wölkchen, die Häuser von Swanilda und Coppélius scheinen aus einer Spielzeugstadt zu stammen. Eine geheimnisvolle Welt offenbart das Kabinett des Puppenmachers mit dessen phantasievollen mechanischen Schöpfungen. Da sieht man spanische Zigeunerinnen, behelmte Kreuzritter, berockte Schotten, chinesische Pagoden – geradewegs aus dem Kleiderschrank fährt die Puppe Coppélia heraus. Die Kostüme sind von folkloristischen Motiven inspiriert – die Aufführung zu sehen ist eine Freude für Jung und Alt.

Die legendäre Tänzerin und spätere berühmte Lehrerin Ninette de Valois (1898 – 2001), langjährige Prinzipalin des Royal Ballet; Foto Bassano Ltd. 1920, Lizenz mw60847 non commercial/ National Portrait Gallery St Martin’s Place London WC2H OHE

In neuer Besetzung kehrte die Produktion ins Repertoire zurück und bezieht ihre Attraktivität aus der Mitwirkung von zwei PrincipalsMarianela Nuñez und Vadim Muntagirov. Der bei OPUS ARTE auf DVD (OA1316D) veröffentlichte Mitschnitt vom 29. 11. und 10. 12. 2019 gibt Zeugnis von der Frische, dem Charme und komödiantischen Witz der beiden beliebten Interpreten. Die Argentinierin hat mit der Swanilda nun eine weitere zentrale Rolle der Ballettliteratur für die Ewigkeit dokumentiert und verblüfft mit ihrem anhaltend jugendlichen Reiz und Temperament sowie der ungebrochenen technischen Perfektion. Ihr Auftritt als Coppélia macht jeder Olympia Konkurrenz, steigert sich von abgehackt automatisierten Bewegungen zu einem rasanten Wirbel à la Kitri. Während sie seit zwanzig Jahren in London den Rang einer Ausnahmetänzerin innehat und erfolgreich verteidigt, ist der Russe erst seit ein paar Jahren an der Spitze des Ensembles. Als Typ mag er nicht jedermanns Geschmack sein, aber unbestritten ist seine Virtuosität, die er als Albrecht, Solor und Siegfried bewiesen hat. Nun gibt er mit dem Franz eine Probe seines Könnens im heiteren Genre mit sympathischer, burschenhafter Ausstrahlung. Doch im ersten Pas de deux mit Swanilda fehlt es ihm auch nicht an Zugewandtheit und lyrischer Empfindung. Im finalen Hochzeits-Pas de deux finden er und Nuñez zu bezaubernder Innigkeit und bestechender Brillanz in den jeweiligen Variationen.

Köstlich Gary Avis, ein Veteran der Compagnie und in allen Charakterrollen von Rothbart über Drosselmeyer bis zum Grand Brahmane erfolgreich, als skurriler, kauziger Dr Coppélius. Mitternächtliche Romantik atmet der Auftritt von Claire Calvert als Aurora im 3. Akt. Die Freude über diese Veröffentlichung vollendet der Dirigent Barry  Wordsworth mit dem Orchestra of the Royal Opera House, bringt Delibes’ reizvolle Wirkung mit Csárdás, Mazurka, Bolero und Scottish Jig zu hinreißender Wirkung.  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) Bernd Hoppe

Bei Cmajor/UNITEL: Peer Gynt in neuer tänzerischer Gestalt. Schon seit 1998 ist Peer Gynt auf der Tanzbühne präsent, denn John Neumeier schuf auf Musik von Alfred Schnittke ein Tanzstück nach Ibsens Schauspiel. Ihm folgte 2008 der renommierte Schweizer Choreograf Heinz Spoerli mit einem Ballett für seine Zürcher Compagnie. Nun kommt der Rumäne Edward Clug mit einer Version für das Wiener Staatsballett. Sie ist ein effektvoller Mix aus Neoklassik und Ausdruckstanz. Im Dezember 2018 hat C-Major/UNITEL eine Aufführungsserie in der Wiener Staatsoper mitgeschnitten und jetzt auf Blu-ray Disc veröffentlicht (755904).

Wie Spoerli verwendet auch Clug Edvard Griegs Musik – neben der berühmten Suite op. 23 Ausschnitte aus den Lyrischen Stücken, dem Streichquartett Nr. 1, op. 27, der Holberg-Suite op. 40 und dem Klavierkonzert Nr. 1 in a-Moll, op. 16. Das Orchester der Wiener Staatsoper musiziert unter Leitung des bewährten Ballettdirigenten Simon Hewett. Shino Takizawa absolviert den Solopart des Konzertes mit lyrischer Melancholie im Adagio und spielerischer Bravour im Allegro moderato molto e marcato.

Die Bühne von Marko Japelj ist streng stilisiert, zeigt bei der Hochzeit von Ingrid (Ioanna Avraam herb und unglücklich) eine aus dem Dunkel heraus geleuchtete kreisrunde Tafel, im 2. Akt folkloristische Details, die auf den Schauplatz Marokko verweisen.

In die Geschichte um den nach Reichtum gierenden Peer, seine Mutter Ase, das Mädchen Solveig und die Beduinentochter Anitra, die er in Marokko kennenlernt, fügt der Choreograf eine zusätzliche Figur ein – den Tod, der Peer vor der Rache der Trolle rettet  und darüber hinaus für dessen Todessehnsucht steht. Eno Peci verkörpert diesen Part, der gleich zu Beginn der Handlung in einem Vorspiel mit Peer zu sehen ist – mit Elchgeweih, zwei Prothesen und stilisiertem Skelett (Kostüme: Leo Kulas) ist er gleichermaßen bizarr in seiner Ausstrahlung wie virtuos bei den hohen Sprüngen. Jakob Feyferlik ist der Titelheld in heutiger Kleidung, ein sympathischer, jugendlich-kraftvoller  Bursche, der bei Ingrids Hochzeit die Aufmerksamkeit von Solveig auf sich zieht.  gibt sie vital und sinnlich. Dennoch verbringt Peer die Hochzeitsnacht mit Ingrid, was beider leidenschaftlicher Tanz anzeigt. Aber er wird ihrer schnell überdrüssig. Ein mysteriöses Wesen, die Grüne (Nikisha Fogo), verspricht ihm, der nächste König der Trolle zu werden, was Peer wegen seiner Gier nach Reichtum akzeptiert. Monströse Fabelwesen wie aus einem Science-fiction-Film, die Trolle, werden ihm gefährlich, doch der Tod kommt zu Hilfe. Peer ist nun mit Solveig auf einer Alm in inniger Zuneigung vereint, während seine Mutter Ase (streng: Franziska Wallner-Hollinek) in ihrem Krankenbett stirbt.

Der 2. Akt spielt vier Jahre später und führt nach Marokko, wo der inzwischen reiche Peer sich in die Beduinentochter Anitra verliebt. Céline Janou Weder verkörpert sie geheimnisvoll und verführerisch in ihrer orientalischen Aura. Doch ihr Sinn steht einzig nach Besitz und er ist wieder einsam. Ein seltsamer Arzt, Doktor Begriffenfeldt (András Lukács), nimmt ihm mit in eine Irrenanstalt, wo er fast den Verstand verliert und zum König der skurrilen Insassen gekrönt wird. Die Szene markiert einen Höhepunkt der Choreografie.

Alt und gebrochen kehrt Peer in die Heimat zurück, wo er die mittlerweile erblindete Solveig wieder findet. Lange hat sie auf ihn gewartet, nun bleibt beiden nur das gemeinsame Ende. Feyferlik macht den Reifeprozess des Titelhelden bezwingend deutlich, sorgt im Finale noch für einen berührenden Auftritt, wenn die Erinnerungen an ihm vorüber ziehen. Bernd Hoppe

Bei OPUS ARTE: Neues vom Royal Ballet. Triple Bills haben Tradition beim Royal Ballet in London – entweder sind es drei Ballette von einem Choreografen (häufig Frederick Ashton) oder es werden an einem Abend Arbeiten von verschiedenen Schöpfern gezeigt. Letztere Variante kam im Oktober/November des vergangenen Jahres zum Einsatz, als im Royal Opera House Stücke von Kenneth MacMillan, Frederick Ashton und Rudolf Nurejev präsentiert wurden. OPUS ARTE hat diesen Abend, welcher der Vielseitigkeit des Ensembles ein glänzendes Zeugnis ausstellt, nun auf Blu-ray Disc herausgebracht (OABD 7272D).

Am Beginn steht MacMillans Concerto auf Schostakowitschs dreisätziges Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2, das er 1966 für das Ballett der Deutschen Oper Berlin als dessen neuer Direktor kreiert hatte. 1970 wurde es erstmals in Covent Garden gezeigt. In der minimalistischen Ausstattung von Jürgen Rose wirken keine Startänzer der Londoner Company, hier ist Ensemblegeist gefragt, der sich in dieser Aufführung überzeugend vermittelt. Im 1. Satz wechseln Soli, Duos, Trios und Gruppentänze in raschem Tempo. Im duftigen Mittelsatz zeigen Yasmine Naghdi und Ryoichi Hirano einen wunderbar lyrischen Pas de deux, dessen anmutige Choreografie zur träumerischen Musik ideal korrespondiert. Der 3. Satz setzt dann wieder auf Schnelligkeit und verlangt der Company hinsichtlich Synchronität, Dynamik und Perfektion alles ab. Den anspruchsvollen Klavierpart nimmt Kate Shipway wahr, Pavel Sorokin leitet das Orchestra of the Royal Opera House.

Im Mittelteil ist Ashtons Choreografie auf Edward Elgars Enigma Variations zu sehen. Sie zählt zur Gattung des narrative ballet und schildert in der stimmungsvollen Ausstattung von Julia Trevelyan Oman Szenen aus dem Leben des Komponisten Elgar (Christopher Saunders), seiner Gattin (Laura Morero) und guten Freunden (brillant Matthew Ball als Architekt Troyte). Sie ist voller brillanter Einfälle und Witz, nutzt auch Elemente des Slapstick.

Das Finale krönt ein Juwel der klassischen Tanzkunst mit der Musik von Alexander Glazunov – Petipas Raymonda Act III in der Version von Nurejev (nach Petipa). Den russischen Startänzer begleitete dieses Ballett viele Jahre. Während seiner Zeit im Leningrader Kirov Ballet tanzte er im spektakulären Männer-pas-de quatre, nach seiner Flucht in den Westen trat er in Tänzen aus dem 3. Akt auf, bis er schließlich das komplette Ballett für London und Paris arrangierte. Aber immer wieder – wie hier in London – wird der 3. Akt, welcher die Hochzeit der Titelheldin mit Jean de Brienne prachtvoll ausmalt, als Divertissement aus der Gesamthandlung herausgelöst. Es vereint auf geniale Weise den klassischen russischen Tanz in Vollendung mit Elementen der ungarischen Folklore. Davon zeugt schon der hinreißende Ungarische Tanz mit Itziar Mendizabal und Reece Clarke. Der folgende Grand pas ist eine Herausforderung für das Corps de ballet und lässt auch das Solopaar erstmals auftreten. Das Royal Ballet hat in Barry Kays prachtvoller Ausstattung mit Natalia Osipova einen Trumpf in der Besetzung aufzubieten – die russische Primaballerina, seit zehn Jahren Principal bei der Company, brilliert in der berühmten Variation Nr. 6 mit majestätischer Attitüde, Raffinement und mitreißendem Temperament. Ihr Partner ist Vadim Muntagirov als Jean de Brienne, der zuvor (Variation Nr. 5) mit einem Feuerwerk an Sprüngen begeistert. Im fordernden Pas de quatre setzen Luca Acri, Cesar Corrales, James Hay und Valentino Zucchetti weitere Glanzlichter. Das Finale vereint alle Mitwirkenden zu einem schwungvollen Ausklang, dem der Jubel des Publikums folgt. Bernd Hoppe

In Zürich: Das unsterbliche Liebespaar auf der Tanzbühne. Mit schöner Regelmäßigkeit dokumentiert das Label accentus music die Zürcher Ballettszene, wo Choreograf Christian Spuck immer wieder bemerkenswerte Produktionen herausbringt. Nach Tschaikowskys Nutcracker and Mouse King von 2018 widmet sich die neueste Veröffentlichung einem der berühmtesten Ballette überhaupt – Prokofjevs Romeo and Juliet. Die Aufnahme im Opernhaus Zürich erfolgte im Juni 2019 und ist nun auf DVD erhältlich (ACC20484). Legendäre Choreografen – Frederick Ashton, John Cranko, Leonid Lawrowski, Yuri Grigorovich, Kenneth MacMillan, John Neumeier – haben Shakespeares Tragödie in eine Tanzversion gegossen, nun reiht sich Spuck in diese illustre Reihe ein, nachdem bereits Ivan Liska, Mats Ek und Sébastien Lefrançois neuere Deutungen vorgelegt hatten.

Spucks Fassung ist seit 2012 im Repertoire des Ballett Zürich und wurde mehrfach erfolgreich auch bei Gastspielen im Ausland gezeigt. Sie fußt auf neoklassischem Vokabular, zeigt aber auch, vor allem in der Armarbeit, die typische Bewegungssprache des Choreografen. Die häufig zu sehende Theater-im Theater-Situation gibt es auch hier, wenn in Christian Schmidts Einheitsraum zu beiden Seiten die Tänzer sitzen und bald beginnen, die Geschichte in ihrer Darstellung  auszubreiten. Hinten wird der Raum von einer Bleiglasfensterfront begrenzt, oben von einem blattgoldenen Plafond eingefasst und von einem venezianischen Lüster geschmückt. Mobile schwarze Tische werden in unterschiedlicher Funktion eingesetzt – als Traualtar bei Friar Lawrence, als Liebeslager in Julias Schlafzimmer und als Totenbahre in der Gruft. Die Kostüme von Emma Ryott prägen eine raffinierte Mischung aus mondänen Renaissance-Roben und legerer zeitgenössischer Kleidung. In Reinhard Traubs Lichtdesign dominieren Blau-Töne.

Deutlich aufgewertet in Spucks Fassung sind die Rollen des Friar und der Nurse. Ersterer fungiert als Spielmacher, greift an entscheidenden Punkten in die Handlung ein und übernimmt auch Aktionen, die normalerweise anderen Personen zugeordnet sind – wie das Gebot des Herzogs von Verona, die Waffen zwischen den verfeindeten Geschlechtern ruhen zu lassen. Sonnenbrille und schwarzer Anzug geben Filipe Portugal einen leicht mafiosen Anstrich, wozu auch seine undurchsichtige Aura fern jeder altersweisen Güte beiträgt. Tänzerisch ist die Rolle anspruchsvoller als gewohnt, denn die Szene, in der er Julia zur Einnahme des Betäubungstrankes ermuntert, ist hier nicht pantomimisch, sondern als forderndes Tanzduett angelegt. Ein Kabinettstück liefert Elena Vostrotina – lange Zeit geschätzte Erste Solistin beim Semper Ballett – als Nurse. Haarknoten und Nickelbrille rücken sie in die Nähe einer Gouvernante, aber sie könnte durchaus auch Julias ältere Schwester sein. Köstlich ihr darstellerischer Witz, der watschelnde Gang und der hinreißende Auftritt beim Überbringen von Romeos Nachricht an Julia.

Katja Wünsche ist eine gestandene und seit Jahren gefeierte Tänzerin. Ihr Juliet ist also nicht mehr ganz jung (und die Close-ups sind in dieser Hinsicht nicht eben förderlich), aber doch vermag sie der Figur die gebotene Aura von Jugendlichkeit zu verleihen. Technisch ist sie wie stets ohne Tadel – leichtfüßig, federnd in den Sprüngen, sicher in den Pirouetten. In leuchtend rotem Kleid ist sie der Mittelpunkt auf dem Ball, in der ersten Verliebtheit von großem Ernst, als ahnte sie den tragischen Ausgang der Geschichte, in der Liebesszene am Ende des 1. Aktes von leidenschaftlicher Hingabe. Bewegend der Abschied von Romeo, wo der auf dem Boden liegende Lüster die aus den Fugen geratene Welt symbolisiert. Fast gewaltsam müssen die Liebenden vom Friar und der Nurse getrennt werden. Vehement gestaltet Wünsche Juliets Weigerung, Count Paris zu ehelichen, was eine geradezu gewaltsame Reaktion ihrer Eltern hervorruft. Die physischen Qualen bei der Einnahme des Trankes stellt sie beklemmend naturalistisch dar.

Eine Idealbesetzung für den Romeo ist mit William Moore aufgeboten, der mit sympathischer Natürlichkeit und jungmännlicher Schönheit besticht. Seine brillante Variation zu Ende des 1. Aktes weist ihn ebenso als exzellenten Ballerino aus wie die souveränen Hebefiguren in den Duos mit Juliet. Mit äußerster Entschlossenheit will er den Tod des Freundes Mercutio rächen, sein Fight mit Tybalt ist erfüllt von Atem beraubender Spannung. Moores beeindruckende Ausdrucksstärke spiegelt sich auch im erschütternden Finale wider, wenn er in unfassbarem Schmerz gegen das Schicksal zu rebellieren versucht.

Glänzende Tänzer auch in den weiteren Rollen. Jan Casier ist ein ungewöhnlicher Count Paris mit strengem Scheitel und Brille. Sein  neckisch-infantiles Gehabe streift zuweilen die Karikatur, später aber sieht man deutlich pathologische Züge, wenn er im Tanz mit Juliet nach deren vermeintlicher Einwilligung in die Ehe seinen Besitzanspruch mit geradezu brutaler Härte durchzusetzen versucht. Ein rassiger Tybalt von viriler Ausstrahlung ist Tigran Mkrtchyan, der seinen Hass auf Romeo gefährlich-aggressiv zeigt. Hinreißend in seinem Schalk und dem ausgelassenen Duktus Daniel Mulligan als Mercutio, zuverlässig komplettiert Christopher Parker als schelmischer Benvolio das Freundes-Tio.

Vielfältige Aufgaben hat die Company zu absolvieren. Das Ballett Zürich, verstärkt durch das Junior Ballett, zeigt sich in bester Verfassung – ob zu Beginn im lebhaften Morning dance, dem strengen Dance of the knights, dem ausgelassenen Volkstreiben unter Lampiongirlanden im 2. Akt oder den Karnevalsvergnügungen. Mit Michail Jurowski steht ein ausgewiesener Prokofjev-Kenner am Pult der Philharmonia Zürich, der die Musik mit der gebotenen Schärfe, aber auch der schwelgerischen Lyrik zum Klingen bringt. Anhaltender Jubel im Opernhaus Zürich nach dieser denkwürdigen Aufführung. Bernd Hoppe

Ballettmusik von Tcherepnin bei cpo: Flirrende Farben. Der russische Komponist Nikolai Tcherepnin (1873-1945) legte zunächst an der St. Petersburger Universität das juristische Staatsexamen ab (1895). Noch während des Studiums nahm er am Konservatorium Klavierunterricht und trat in die Orchesterklasse von Nikolai Rimski-Korsakow ein. Nach der Abschlussprüfung 1898 wurde Tcherepnin Chorleiter und später Dirigent am Marientheater; in den Folgejahren dirigierte er regelmäßig in St. Petersburg. Die Zusammenarbeit mit Sergei Djagilew führte zu Tcherepnins berühmtesten Werk, dem Ballett Pavillon d’Armide, das 1908 gefeierte Premiere am Marientheater hatte und mit dem die Geschichte der Ballets Russes begann. Djagilew regte die Komposition von Narcisse et Echo (nach Ovids Metamorphosen) an, das mit der Choreographie des berühmten Michail Fokin 1911 unter Leitung des Komponisten im Casino von Monte Carlo uraufgeführt wurde. Diese Ballettmusik hat cpo jetzt in einer Aufnahme der Bamberger Symphoniker unter dem polnischen Dirigenten Lukasz Borowicz herausgebracht. Diesem gelingt es mit den in allen Gruppen ausgezeichneten Symphonikern durch sein inspirierendes, im Einzelnen sehr differenzierendes Dirigat, die Partitur mit ihren impressionistischen, flirrenden Farben eindrucksvoll zum Klingen zu bringen. Dazu tragen auch an wenigen Stellen der klarstimmige Tenor Moon Yung Oh  und ein Vokalensemble mit einschmeichelnden Vokalisen bei. Die CD enthält außerdem das sinfonische Vorspiel zum Schauspiel La Princesse Lointaine, ein schwelgerisches in den 1890er-Jahren entstandenes Frühwerk des Komponisten (cpo 555 250-2) (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei  https://www.jpc.de/jpcng/classic/home).   Gerhard Eckels

Der Dirigent Lukacz Borowicz/ Justyna Mielniczuk qudrat _Rias Kammerchor

Bei OPUS ARTE: Britische Historie auf der Tanzbühne. Verdienstvoll ist die Veröffentlichung des in unseren Breiten  unbekannten Balletts Victoria von Cathy Marston, das OPUS ARTE im März des vergangenen Jahres in Londons Sadler’s Wells aufzeichnete und nun auf Blu-ray Disc herausbrachte (OABD72640). Es handelt sich um eine Produktion des Northern Ballet, das 1969 von dem kanadischen Tänzer Laverne Meyer gegründet wurde und seinen Standort in Leeds, West Yorkshire hat. Unter seinem derzeitigen Artistic Director David Nixon, auf dessen Anregung dieses Ballett entstand, tourt es durch ganz Großbritannien.

Die Choreografin entwarf mit ihrer Dramaturgin Uzma Hameed auch das Szenarium, welches die legendäre britische Queen Victoria auf die Tanzbühne bringt. Der Komponist Philip Feeney, der mit Marston schon das Ballett Jane Eyre für das Northern Ballet schuf, sorgte mit seiner cinematografischen Musik für eine stimmige Klangfolie.

Mit dem Tod der  Königin beginnt die Handlung, die Ausstatter Steffen Aarfing in einer zweistöckigen Bibliothek angesiedelt hat. Inmitten von Stapeln ihrer Tagebücher sieht sie ihrem Ende entgegen, vertraut die Schriften ihrer Tochter Beatrice an zum Zwecke der Veröffentlichung. Abigail Prudames gibt sie mit herrscherlicher Strenge und maskenhafter mimischer Starre. Sie zeigt die Regentin als junge Witwe von leidenschaftlich-kraftvoller Persönlichkeit. Dramaturgisches Prinzip der Inszenierung ist der ständige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, was gelegentlich für Verwirrung sorgt. Zudem ist die Rolle der Beatrice gedoppelt: Pippa Moore, eine Säule der Company, der sie seit 23 Jahren angehört, gibt als Older Princess Beatrice ihren Abschied von der Tanzbühne und besticht noch einmal mit ihrer Ausdrucksstärke und bezwingenden Aura. Miki Akuta ist als Young Princess Beatrice gebührend lebhaft, aber auch bezaubernd.

Beatrice kannte ihre Mutter nur als Witwe in schwarzer Trauerkleidung. Deren schmerzliche Erinnerungen an ihren verstorbenen Gatten Albert sind ein Hauptpfeiler des Geschehens. Dennoch beginnt sie mit ihrem Diener John Brown (Mlindi Kulashe von faszinierend fremdartiger Ausstrahlung) ein Liebesverhältnis. Beider leidenschaftlicher Pas de deux zählt zu den inspiriertesten Momenten der Aufführung. Beatrice sieht die freizügige Szene beim Lesen im Geiste vor sich und tilgt diese Erinnerungen aus den Tagebüchern. Auch bei anderen Stellen fungiert sie als Zensorin, so als Victoria die Zustimmung zur Verbindung ihrer Tochter mit Prince Henry (hier Liko genannt, jugendlich-sportiv: Sean Bates) vehement verweigert. Der Pas de deux der Jungverliebten ist von inniger Zuneigung. Schließlich gibt de Queen ihre Einwilligung zur Hochzeit und reicht der Tochter ihren Brautschleier. Das Einverständnis ist freilich an Bedingungen geknüpft, was das Glück des jungen Paares trübt. Der frustrierte Liko meldet sich zum Militärdienst in Afrika, wo er fällt, was Beatrice gleichfalls zur Witwe im schwarzen Gewand werden lässt.

Zu Beginn des 2. Aktes öffnet Beatrice ein frühes Tagebuch der Mutter, was die Queen als junge Frau in Erinnerung ruft. Ihr Onkel Leopold und Prime Minister William Gladstone informieren sie, dass sie nun die Königin Großbritanniens ist. Leopolds Neffe Albert wird als Ehegatte auserkoren, Victoria bereitet sich auf die Krönungszeremonie vor. Zurück in der Gegenwart, ist Beatrice fasziniert, über die anfängliche Gleichgültigkeit der Mutter gegenüber ihrem Vater zu lesen, die dann einer leidenschaftlichen Zuwendung weichen sollte. Ein expressiver Pas de deux zeigt die erwachende Liebe von Victoria und Albert (charismatisch: Joseph Taylor), die folgende Hochzeitsnacht ist in ihrer unverstellten erotischen Ekstase der tänzerische Höhepunkt des Balletts. Beatrice entfernt auch diese Stellen mit spitzen Fingern beinahe angewidert aus den Schriften ihrer Mutter. Zu ausgedehnt sind dagegen die Passagen, welche Victorias Schwangerschaft und die Geburten der Kinder schildern. Nach Alberts Tod hat die Choreografin für die Titelheldin noch ein effektvolles Solo von expressivem Schmerz erdacht. Da Stück endet in der Gegenwart mit Beatrice, die ihren Frieden mit der Mutter gemacht hat.

Im Bonus der DVD sind die Choreografin und der Ausstatter in informativen Gesprächen zur Entstehung des Balletts zu sehen (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

Neu bei OPUS ARTE: Osipova im Doppel. Auf jede Neuveröffentlichung des Royal Ballet London warten die Ballettomanen mit besonderer Spannung – im Falle von Minkus’ La Bayadère, die bereits in zwei Londoner Versionen auf DVD existiert, liegt das vor allem an der exzellenten neuen Besetzung (OABD7263D). Die argentinische Startänzerin Marianela Nuñez hatte 2009 die Gamzatti getanzt – die stolze Tochter des Rajah, die den berühmten Krieger Solor begehrt und ihre Rivalin, die Tempeltänzerin Nikiya, aus dem Wege räumt. In dieser Neuaufnahme (vom November 2018) gibt sie nun die Titelfigur und fügt damit ihrem reichen auf DVD dokumentierten Repertoire (Giselle, Kitri, Odette/Odile) eine weitere Glanzrolle hinzu. Ihre Tempeltänzerin ist vom ersten Auftritt an von majestätischer Erscheinung und sinnlich-exotischem Reiz. Das Solo beim Verlobungsfest von Solor und Gamzatti besticht durch mirakulöse Biegsamkeit, ergreift aber auch durch die Darstellung mit dem Schmerz, der aufkeimenden Hoffnung und schließlich dem tragischen Tod nach dem Schlangenbiss. Wunderbar ihre Erscheinung im Schattenreich als ätherisches Traumwesen. Der Pas de deux mit Solor ist ein Musterbeispiel der Hohen Schule klassischer Tanzkunst. Natalia Osipova, seit 2014 Principal beim Royal Ballet, gilt selbst als eine weltweit führende Interpretin dieser Figur, die sie natürlich auch in London tanzt, ist aber in dieser Aufzeichnung als Gamzatti zu erleben. Das sorgt für einen Wettstreit zweier Ausnahmeballerinen von hohem Reiz. Beider von Eifersucht und Rivalität um die Gunst Solors erfülltes Aufeinandertreffen ist von höchster Spannung. Osipova in kostbarer Gewandung ist eine stolze Schönheit mit gefährlicher Aura. Ihr Pas de deux mit Solor beim Fest atmet aristokratische Noblesse und ist darüber hinaus eine Demonstration technischer Perfektion mit stupenden Pirouetten und Fouettés. Zudem wird die Partie der Gamzatti durch den integrierten letzten Akt aufgewertet. Ihr ist hier ein Solo von höchster Schwierigkeit zugeordnet, das Osipova in bestechender Manier absolviert.

Die hochrangige Besetzung wird auch von Vadim Muntagirov als Solor getragen, der zwar in seiner Aura nicht unbedingt den heldischen Krieger verkörpert, tänzerisch aber seine Klasse bestätigt. Schon im ersten Pas de deux mit Nikiya zeigt er seine Liebe zu ihr mit starker Empathie und glänzt zudem mit technisch perfekten Sprüngen. Atem beraubend sind seine acht double tours en l’air im Schattenreich, was seit den Zeiten von Carlos Acosta kein anderer Tänzer so bewältigt hat. Das Erscheinen der Schatten in diesem Akt ist von magischer Wirkung. Mit makellos zelebrierten Figuren und Formationen demonstriert das Corps de ballet seine Sonderstellung in der internationalen Tanzwelt. Exquisit die drei Solo-Schatten von Yuhui Choe, Yasmine Naghdi und Akane Takade mit ihren individuellen Variationen. Gestandene Tänzer der Company wie Gary Avis als The High Brahmin, Thomas Whitehead als Rajah und Alexander Campbell mit einem spektakulären Solo als The Bronze Idol stehen gleichfalls für den hohen Standard des Ensembles.

Die Produktion fußt auf Natalia Makarovas Choreografie (nach Petipa), die 1980 in Florenz mit den opulenten Bühnenbildern von Pier Luigi Samaritani und den prachtvollen Kostümen von Yolanda Sonnabend zur Premiere kam und in London erstmals 1989 gezeigt wurde. Die Fassung bezieht auch den oft gestrichenen letzten Akt mit der Zerstörung des Tempels und der Vereinigung Nikiyas mit Solor als Apotheose ein. Im Booklet gibt es einige seltene Aufnahmen von Natalia Makarova als Nikiya aus dem Jahre 1980, was den Wert der Veröffentlichung noch erhöht. Die Londoner Neubesetzung hat sie selbst einstudiert, ist im Bonus auch bei den Proben zu sehen, erscheint am Ende der Aufführung auf der Bühne und wird gebührend umjubelt.

Natalia Osipova in „Flames of_Paris“ am Bolshoi Theater 2011/ Wikipedia

Eine passende und informative Ergänzung zu dieser DVD ist eine weitere Neuausgabe von OPUS ARTE, die unter dem Titel Force of Nature – Natalia ein Porträt der russischen Assoluta Natalia Osipova bringt (OABD7269D). Regisseur Gerry Fox zeigt Szenen aus der Kindheit der Tänzerin, die zunächst Turnerin werden wollte, mit seltenen Filmdokumenten aus dem Archiv ihrer Familie (so als Coppelia mit neun Jahren). Danach ist sie als Kitri und Odette/Odile am Bolshoi Ballett Moskau zu sehen, wo sie sieben Jahre engagiert war. Dann lud der Director des Royal Ballet Kevin O’Hare sie ein, in London als Odette/Odile zu gastieren, was zu einem festen Vertrag als Principal der Company führte. Ihr erste Rolle als festes Mitglied war die Giselle an der Seite von Carlos Acosta (bei OPUS ARTE als DVD dokumentiert). Inzwischen gehört sie sieben Jahre zum Ensemble und spricht in den Interviews und Probenausschnitten mittlerweile auch Englisch. Die neueste Rolle in ihrem Repertoire ist die Gamzatti in Natalia Makarovas Produktion. Mit der legendären Assoluta ist sie in Probenszenen sowohl als Nikiya als auch als Gamzatti zu sehen – in letzterer Partie auch in einem Ausschnitt aus der oben besprochenen Aufführung.

Besonderes Gewicht legte der Regisseur des Porträts auf Osipovas Einsatz für den zeitgenössischen Tanz. Sie selbst sagt, dass es für sie die größte Herausforderung und Befriedigung sei, eine Rolle in Zusammenarbeit mit dem Choreografen zu kreieren. Zu sehen sind Szenen aus Flutter von Iván Pérez mit Jonathan Goddard (beim Sadler’s Wells), Medusa von Sidi Larbi Cherkaoui (der dreiteilige Ballettabend wurde von OPUS ARTE veröffentlicht und auf diesen Seiten besprochen) sowie zwei Arbeiten von Arthur Pita: The Mother (aus Edinburgh) und Facada. Das letzte Stück, I’m Fine, ist eine gemeinsame Kreation von ihr und ihrem Tanz- und Lebenspartner Jason Kittelberger. Ihre bedingungslose Hingabe an dieses Genre ist in jeder der sechs Szenen spürbar und stets von überwältigender Wirkung. Bernd Hoppe

 

Nach der großartig gelungenen Einspielung der Urfassung von Schwanensee für Pentatone waren die Erwartungen hoch, was die Vollendung des Tschaikowski-Ballett-Zyklus des Staatlichen Akademischen Symphonieorchesters der Russischen Föderation „Jewgeni Swetlanow“ unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski anbelangt (Dornröschen erschien bereits 2017 bei ICA). Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Neueinspielung des Nussknackers (Pentatone PTC 5186 761) muss leider als die am wenigsten geglückte Aufnahme der Trias gelten. Dies hat sicherlich nichts damit zu tun, dass es dem Label tatsächlich gelang, die 86:25 Minuten auf eine einzige hybride SACD zu pressen, wobei der erste Akt knapp 46 Minuten und der zweite Akt die restlichen gut 40 Minuten ausmachen. Die etwas neutrale Akustik, die im Jänner 2019 im Großen Saal des Tschaikowski-Konservatoriums in Moskau eingefangen wurde, mag allerdings die gewisse Problematik, welche der Einspielung zugrunde liegt, noch besonders zutage fördern. Hat der Autor dieser Zeilen in der Schwanensee-Rezension noch den wiedergefundenen alten sowjetischen Klang dieses geschichtsträchtigen Orchesters lobend herausgestellt, muss man das dieses Mal doch mit Einschränkungen verbinden. Hie und da blitzt zwar etwas vom einstigen Klangideal Swetlanows auf, doch im Großen und Ganzen könnte es sich auch um eine westliche Darbietung handeln. Ob man dem Klangkörper dafür die Schuld geben kann, sei mal dahingestellt; nach der superben Darbietung im Schwanensee wird man dies eher verneinen können.

Vermutlich liegt es dann doch vielmehr im ziemlich hemdsärmligen Zugriff, den der ansonsten hochgeschätzte Jurowski an den Tag legt. Eine rechte Begeisterung will sich einfach nicht einstellen. Zwar ist alles (natürlich) tadellos dargeboten, doch fehlt die innere Anteilnahme, die bei dieser Musik so essentielle Innigkeit. Ein Mehr davon wäre wünschenswert gewesen. Das fällt freilich insbesondere an hochemotionalen Stellen auf, so im hyperromantischen Pas de deux, eigentlich ein astreiner Selbstläufer, der hier wie gezähmt herüberkommt. An die alte Gesamtaufnahme unter dem Namensgeber des Orchesters mit ihrem traumhaft schönen Streicherteppich und ihren wild herausfahrenden, fanfarenartigen Blechbläsern darf man dabei jedenfalls nicht zurückdenken. Das ist merkwürdig, da sich die Tempi bei Swetlanow und Jurowski meist gar nicht so stark voneinander unterschieden und zuweilen bis auf die Sekunde identisch sind. Die weltberühmten Tänze des zweiten Aktes plätschern wie nette Hintergrundmusik, die niemandem wehtut, dahin. Wieviel man etwa aus dem Arabischen Tanz und dem russischen Trepak herausholen kann, zeigt exemplarisch wiederum Swetlanow. Das Verträumte des Tanzes der Zuckerfee fehlt bei Jurowski beispielsweise auch komplett; es klingt zu nüchtern-sachlich. Am besten gelingt noch der Blumenwalzer. Pathetisch gesagt, fehlt der Neuaufnahme die vielzitierte russische Seele. So reiht sie sich ein bei den vielen sehr ordentlichen, aber irgendwie nicht wirklich herausragenden Einspielungen, die man nicht unbedingt besitzen muss. Das kann auch das gut aufbereitete Booklet nicht nachhaltig ändern. Daniel Hauser

Neues vom Royal Ballett: Ihre Serie mit Aufzeichnungen des Royal Ballet aus Londons Covent Garden erweitert OPUS ARTE mit einem dreiteiligen Abend, der im Mai 2019 aufgenommen wurde und das Bemühen der Company um die Pflege des zeitgenössischen Tanzes eindrucksvoll widerspiegelt (OA1300D). Arbeiten von drei renommierten Choreografen sind hier versammelt. Den Beginn des Programms markiert Within the Golden Hour von Christopher Wheeldon, der dem Royal Ballet als Artistic Associate seit Jahren eng verbunden ist. Vor allem seine Handlungsballette Alice’s Adventures in Wonderland von 2011, das auch beim Bayerischen Staatsballett im Repertoire zu finden ist, und The Winter’s Tale (nach Shakespeare) von 2014, das in dieser Saison beim Hamburger Ballet gezeigt wird, waren große Würfe. Das Royal Ballet präsentiert sein früheres ballet blanc auf Musik für Streichorchester von Ezio Bosso und Antonio Vivaldi, welches 2008 für das San  Francisco Ballet aus Anlass dessen 75jährigen Bestehens entstand. Der Choreograf bewegt sich hier ganz in neoklassischen Bahnen in der Nachfolge von Frederick Ashton, George Balanchine and Jerome Robbins. Er zeigt Episoden für sieben Paare in eleganten Trikots mit Jugendstil-Ornamentik (Jasper Conran), darunter vier Pas de deux, die zu den emotionalen und tänzerischen Höhepunkten des Stückes zählen. In ihnen finden sich Anklänge an Charleston, Walzer und Tango. Unter den 14 Interpreten sind Principals wie Sarah Lamb und Vadim Muntagirov.

Der Mittelteil bringt eine Kreation von Sidi Larbi Cherkaoui – Medusa – mit elektronischer Musik der Polin Olga Wojciechowska sowie live gesungenen Songs von Henry Purcell. Als Solisten wirken die Sopranistin Alish Tynan und der renommierte britische Countertenor Tim Mead mit. Der Choreograf schuf sein Ballett – das erste für die Company – eigens für die Ausnahmeballerina Natalia Osipova, für die er eine zentrale Rolle außerhalb ihres normalen Repertoires und von extremem Charakter kreieren wollte. In der Geschichte der Tempelpriesterin Medusa, die von Poseidon geraubt und missbraucht wird, was den Zorn der Tempelgöttin Athene hervorruft, der sich statt gegen den Täter gegen das Opfer richtet, fand er die geeignete Vorlage.

Natalia Osipova folgt mit dieser Figur im Ausnahmezustand ihrer exzeptionellen Anastasia in MacMillans gleichnamigem Ballett. Zu Beginn in weißem Gewand als Priesterin verströmt sie Liebreiz und Eleganz mit wunderbarer Armarbeit, während sich Olivia Cowley als Athene in herrscherlicher Allüre ergeht. Dem jugendlichen Soldaten Perseus, dem Medusa ihr Schwert als Glückssymbol für die Kämpfe auf dem Schlachtfeld gibt, verleiht Matthew Ball sympathisches Profil, während Ryoichi Hirano den halbnackten Poseidon mit exotisch-gefährlicher Aura zeichnet. Dem gewaltsamen Missbrauch Medusas durch den Meeresgott folgt die nicht weniger grausame Bestrafung des Opfers durch Athene. Sie verwandelt Medusa in das Monster mit dem Schlangenhaupt. Am ganzen Körper zuckend und mit flatternden Armen ist sie psychisch ein Wrack, doch dazu verurteilt, jedes Wesen, das sie ansieht, in Stein zu verwandeln. Zum „Cold Song“ aus King Arthur wird das beklemmend gezeigt. Perseus gelingt es, ihrem tödlichen Blick zu entgehen und sie zu erwürgen. Vielleicht wünschte sie auch selbst ihren Tod von seiner Hand. Beider spannender Pas de deux ist ein gefährlicher Zweikampf auf Augenhöhe, tänzerisch geradezu artistisch umgesetzt. Am Ende ist Medeas Seele erlöst und frei. Zu „O let me weep“ aus The Fairy Queen dreht sich Osipova in einem tranceartigen Abgesang von archaischer Dimension.

Beklemmend beginnt auch das letzte Stück – Flight Pattern der kanadischen Choreografin Crystal Pite von 2017 – mit einem Zug von Flüchtlingen in dunkler Einheitskleidung (Nancy Bryant). Henryk Goréckis Sinfonie der Klagelieder (mit der Sopranistin Francesca Chiejina) in ihrem Bezug zum Holocaust unterstreicht das düstere Geschehen. Eng zusammengepfercht agieren die 36 Tänzer, aus denen sich ein Paar absetzt und mit einem ernsten Pas de deux berührt. Es sind Kristen McNally und der athletische Marcelino Sambé, ein neuer männlicher Star der Company. Am Ende legen die Tänzer ihre dunkle Kleidung ab und vereinen sich, in helles Licht getaucht, zu einer Gemeinschaft voller Hoffnung und Zuversicht. Allein zurück bleibt das Solopaar mit traumatischen Erinnerungen an die düstere Vergangenheit.

The Orchestra of the Royal Opera House unter den beiden Dirigenten Andrew Griffiths und Jonathan Lo erweist sich als kompetent in den verschiedenen Stilrichtungen. Bernd Hoppe

Getanzte Weltliteratur bei BelAir: In der aufreizenden Pose eines Mädchens wie auf einem Balthus-Gemälde sitzt Hedda Gabler im Ohrensessel ­– es ist das Cover der Neuausgabe des gleichnamigen Ballettes bei BelAir (Bluray BAC567).  Das auf Henrik Ibsens Schauspiel basierende Tanzstück hat die norwegische Choreografin Marit Moum Aune in einer Mischung aus Neoklassik und Ausdruckstanz beim Norwegian National Ballet herausgebracht. Nach Ibsens Geistern ist es ihre zweite Auseinandersetzung mit einem Werk des norwegischen Dichters. Die Musik dazu schuf Nils Petter Molvaer. Es sind oft monoton klopfende, pochende Geräusche, dann wieder sphärische, rätselhafte Klänge. Im Oktober 2017 wurde die Aufführung im Opernhaus von Oslo aufgezeichnet. In der surrealen Ausstattung von Even Borsum hängen Möbel in der Luft, erscheinen Figuren im Frack mit Fischköpfen (Kostüme: Ingrid Nylander).

Während Ibsens Stück mit der Rückkehr Heddas und ihres Mannes Jorgen Tesman (Philip Currell) von einer Hochzeitsreise beginnt, lässt Marit Moum Aune das Ballett mit einer Erinnerung an Hedda als Kind (Erle Ostraat) mit ihrem Vater, General Gabler (Kristian  Alm), einsetzen. Man sieht ein verwöhntes, selbstbewusstes Geschöpf im Reitkostüm mit Zylinder. Dann folgt ein Zeitsprung mit der Ankunft von Eilert Lovberg (Silas Henriksen), einem früheren Verehrer Heddas, in der Stadt. Zwischen ihnen besteht noch immer eine starke erotische Anziehung, was beider Körper betonter, fast aggressiver Tanz sehr eindrücklich darstellt. Die folgende Szene mit der nackten Hedda und ihrem Mann, der sich nur seinen Bücherstapeln widmet und von ihr keinerlei Notiz nimmt, ist ein ernüchternder Einblick in die Beziehung des Paares. Zudem hat er offenbar ein Verhältnis mit seiner Tante Julie (Samantha Lynch), bei der er aufgewachsen ist. Trotz der tiefen Kluft zwischen den Eheleuten ist Hedda schwanger, was sie Assessor Brack (Shane Urton), einem Freund der Familie, anvertraut. Lovberg stellt für Heddas Mann, der auf ein Professorenamt an der Universität hofft, einen Konkurrenten dar. Denn er ist ein begabter, doch alkoholabhängiger Bohemien, der von Thea Elvsted (Eugenie Skilnand) geliebt wird, die für ihn ihren Mann verlassen und mit ihm zwei Buchmanuskripte geschrieben  hat. Eine gespenstische Atmosphäre stellt sich bei einer Party im Hause von Brack ein, wo schwarze, verschleierte Gestalten unter Anführung der Tante wie Todesboten erscheinen. Lovberg verliert das Manuskript seines neuen Buches. Tesman findet es und vertraut es seiner Frau an. Sie aber verbrennt es und händigt Lovberg eine Pistole aus, aus der sich zufällig ein Schuss löst und zu seinem Tode führt. Brack nutzt sein Wissen, von wem die Waffe stammt, Hedda zu seiner Geliebten zu machen. Grete Sofie Borud Nybakken in der Titelrolle ist ein Ereignis. Sie verdeutlicht alle Facetten der Figur bezwingend, ist lasziv, launisch, mondän, herrschsüchtig, trotzig, wild, verzweifelt und am Ende eine Gebrochene, die sich den tödlichen Schuss aus der Pistole gibt. Bernd Hoppe

Bei hm: Königliche Freuden in luxuriöser Präsentation. Eine Deluxe-Edition mit drei CDs und einer DVD offeriert harmonia mundi unter dem Titel Ballet Royal de la Nuit (902603.06). Zu Beginn des Jahres 1653 war dieses an sieben Abenden im Louvre zur Aufführung gekommen – unter Mitwirkung des 15jährigen Ludwig XIV., der bei dem Unternehmen als Tänzer auftrat. Das Libretto von Isaac de Benserade besteht aus vier „Veilles“ (Nachtwachen) von jeweils drei Stunden Dauer und einem großen Ballett als Finale mit der Absicht, den Sonnenaufgang in aller Pracht zu inszenieren. Darsteller, Handlung und Ausstattung spiegeln die phantastische Welt des 17. Jahrhunderts wider. In den Versen findet man ernste und komische Elemente sowie Bezüge zur Mythologie. Götter, Koketten, Räuber, Soldaten, Jäger und andere Figuren treten auf, was eine abwechslungsreiche Handlung garantiert. Sie beginnt mit dem Alltag von Dorfbewohnern, bis mit dem Einbruch der Dämmerung die bizarre Welt des „Bauchs von Paris“ erwacht. Dann folgen Vergnügungen und ein Ball unter der Ägide der Venus. Die Mondgöttin steigt herab, um ihren Geliebten Endymion zu treffen. Zu einem Hexensabbat finden sich Ungeheuer aller Art ein. In der letzten „Veille“ werden die Zuschauer in das Reich der Träume entführt. Nach ihrem Erwachen erscheint Aurora auf dem Wagen, um das wundersame Erscheinen des Lichts anzukündigen, das nichts anderes symbolisiert als den jungen Ludwig selbst. Er ist die Sonne, die über die Welt herrscht, was das große Schlussballett preist.

Die DVD zeigt das in einer bizarren Realisierung von Francesca Lattuada (Regie/ Ausstattung/ Choreografie). Die Kostüme sind von überbordender Phantasie, verfremden den barocken Stil mit asiatischen Elementen und heutiger Mode. Einige Figuren stelzen auf Kothurnen in weißen Anzügen, die mit Reptilien-Zacken besetzt sind. Surreale Erscheinungen wie ein Mond-Kaninchen und Personen en travestie sorgen für eine wundersame Szenerie. Männliche Tänzer mit nacktem Oberkörper und monströsen schwarzen Reifröcken sind die Grazien, welche den Auftritt der Vénus in der Seconde Veille begleiten. Caroline Dangin-Bardot erscheint im weißen plissierten Kleid und lässt einen strengen Sopran hören. Von Herren in Nadelstreifen-Anzügen wird Thétis bei ihrer Hochzeit akrobatisch balanciert, ihr weißes Kleid mit Stoffrosen geschmückt und sie schließlich wie eine Tote davongetragen. Die folgende Folia-Szene zeigt Akrobaten, die Körperpyramiden bauen, und einen Jongleur, der virtuos mit einer Feuerschlange hantiert. Die Troisième Veille schildert den verliebten Herkules (Renaud Bres mit resonantem Bass im bunten Anzug) und seine eifersüchtige, erzürnte Gattin Dejanira (Dagmar Saskova mit bohrendem Sopran in pompöser barocker Robe) sowie die Astrologen Ptolémée und Zoroastre, die aus Leuchtstäben Sternbilder zusammenfügen. Wieder erscheint Venus, diesmal im leuchtend roten Kleid, in Begleitung ihrer Grazien, um sich mit Herkules im Duett zu vereinen. In rasendem Zorn sieht man Juno in silbernem Paillettenkleid, das zur Hälfe von einer Rüstung bedeckt ist. Caroline Meng lässt einen besonders farbigen und interessant timbrierten Sopran hören. Ihr Furor setzt den Hexensabbat in Gang, der Missgeburten und Fabelwesen aller Art auftauchen lässt. Das Orchester begleitet diese Szene mit überwältigender Klangkulisse. Muntere, helle Soprantöne bringt Marie-Frédérique Girod als Pasithea, Hüterin des Schlafes, ein. Von ihr erbittet Juno,  den Gott des Schlafes mitnehmen zu dürfen. Davon erzählt die Quatrième Veille mit Träumen aller Art, welche die vier Temperamente ausdrücken. Und hier treten auch Orphée und Euridice mit ihrer sattsam bekannten Geschichte auf. Euridices Tod deklamiert Caroline Weynants eindringlich in der Art eines monteverdischen Lamento. Den Apollo im weißen Anzug singt der Countertenor Stephen Colardelle mit klagendem Ton. Danach kündigen sechs Schmiede den Anbruch des Tages an. Aurora (Davy Cornillot mit klangvollem Tenor) eröffnet den Sonnenaufgang. Alle vereinen sich zum Grand Ballet mit dem Titel Le Soleil, in welchem festlich-pompöse Klänge zu hören und artistische Kunststücke zu sehen sind. In goldener Rüstung mit Umhang und Strahlenkranz erscheint der König als krönender Höhepunkt des Spektakels. Alle preisen die Macht der Liebe.

Die Aufführung entstand 2017 für das Théatre de Caen und wird geleitet von Sébastien Daucé, der das Ensemble Correspondances mit stilsicherer Hand dirigiert und für ein reiches Spektrum an Farben und dynamischen Kontrasten sorgt. Der Abend ist lang, doch ein Fest für Augen und Ohren, wovon der enthusiastische Applaus des Publikums kündet.

Prachtvoll ausgestattet ist das umfangreiche Begleitbuch mit Einführungstexten in drei Sprachen (auch in Deutsch!) und zahlreichen Abbildungen. Bernd Hoppe