Die Hexe tanzt

Der großen Ausdruckstänzerin Mary Wigman widmet ARTHAUS ein Porträt mit dem Titel The Soul of Dance (102 204). 1986 in Hannover geboren, studierte sie 1910/11 rhythmische Gymnastik in Hellerau, traf 1913 Rudolf von Laban, der wesentlich an der Entwicklung des modernen Ausdruckstanzes beteiligt war, und trat in seine Schule für Kunst auf dem Monte Verità in der Schweiz ein. Ihre ersten choreografischen Arbeiten zeigte sie in München, blieb während des 1. Weltkrieges bei Laban als dessen Assistentin in der Schweiz und unterrichtete u. a. in Zürich. Dort und auch in Deutschland zeigte sie 1919 weitere Programme, die ihr aber noch nicht den Durchbruch brachten.

Mary Wigman/Foto Renger/marywigmands.blogspot

Mary Wigman/Foto Renger/marywigmands.blogspot

Ein Jahr später eröffnete sie in Dresden eine Schule für modernen Tanz, machte Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner und zeigte Aufführungen mit ihrer Tanzgruppe. Zwischen 1920 und 37 entstand eine Vielzahl von Solotänzen. Obwohl sie dem nationalsozialistischen System nahe stand und auch für die Olympischen Spiele 1936 choreografierte, musste sie 1942 ihre Dresdner Schule verkaufen und ging 1942 nach Leipzig an die Hochschule für Musik, 1949 nach West-Berlin, wo sie das Mary-Wigman-Studio gründete. Mary Wigman starb 1973 – im selben Jahr begann Pina Bausch ihre künstlerische Arbeit beim Wuppertaler Tanztheater, wo sie das Erbe des großen Vorbildes fortsetzte.

Mary Wigman/Danza Classica

Mary Wigman/Danza Classica

Der Film von Nornert Busè und Christof Debler ist gegliedert in acht Kapitel, beginnend mit „America. I’m a dancer for people“. Dieses zeigt die  Ankunft der Choreografin in New York 1929, wo sie den New German Dance berühmt machte. Verschiedene Persönlichkeiten – Tänzer, Choreografen, Tanzexperten, Bibliothekare und die Wigman-Biografin Hedwig Müller – kommen zu Wort und berichten von der Ausstrahlung der Wigman und ihrem Einfluss auf die amerikanische Tanzszene. Eine Ungereimtheit gibt es freilich, wenn von ihrem Auftritt in der Carnegie Hall die Rede ist und dazu der  Zuschauerraum der Berliner Lindenoper eingeblendet wird. Seltene Dokumentaraufnahmen zeigen die Künstlerin selbst in ihrem Tanz „Pastorale“, eine Choreografie, „Wandlung“, zu „Der Tod und das Mädchen“ auf Schuberts Musik von ihrer Schülerin Susanne Linke als Hommage an das große Vorbild wird von einer nicht genannten Interpretin getanzt. Kapitel 2, „The fanciful Marie“, geht zurück zu Marys Kindheit nach Hannover, historische Fotos zeigen das Festspielhaus in Hellerau, wo sie sich als Studentin eintrug mit dem Ziel Rhythmiklehrerin, die Lehrerin Suzanne Perrottet und Impressionen aus Rom, wo sie sich 1912 aufhielt. Kapitel 3, „Switzerland. Beginnings of Ausdruckstanz“, führt in die Schweiz, wo verschiedene Nacktaufnahmen die beginnende FKK-Bewegung belegen und Rudolf von Laban erstmals ins Bild kommt. Wigman ist fasziniert von dessen künstlerischen Ideen, auch von seiner Aura, doch ist er Suzanne Perrottet verbunden. Als diese ein Kind von ihm erwartet, stürzt das Wigman in eine tiefe persönliche und gesundheitliche Krise. Wunderbare Landschaftsaufnahmen leiten das 4. Kapitel, „Nature. Vital line of art“, ein, welches Wigmans Verbundenheit mit der Schöpfung belegt. Nach ihrer Genesung beginnt sie 1940 in Zürich mit ersten öffentlichen Aufführungen – in Anwesenheit von Suzanne Perrottet, die in einer historischen Tonaufnahme über diesen ungewohnten, verstörenden Stil berichtet. Kapitel 5, „Weimarer Republik. Another world“, führt nach Deutschland 1918 mit der Blütezeit des Varietés. Das deutsche Publikum findet keinen Zugang zu ihrem Tanz – die Säle bleiben leer. Eine Tournee 1919 in verschiedene deutsche Städte kann sie nur mit finanzieller Unterstützung von Freunden realisieren. Der Durchbruch kommt in den dreißiger Jahren in Dresden. Der fast 100jährige Komponist Kurt Schwaen, langjähriger Pianist der Wigman, berichtet über dieses außergewöhnliche Ereignis, wie auch die Wigman Schülerin Susanne Linke (Kapitel 6: „Dresden. New start of dance“). Der Choreograf schildert die Bemühungen, Wigmans berühmteste Schöpfung, „Hexentanz“, den sie 1926 erstmals aufführte, dabei eine Gesichtsmaske trug und mit diesem ungewohnten Tanzstil extrem provozierte, zu rekonstruieren. Originalaufnahmen der Wigman und nachgestellte Sequenzen zeigen die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit des Originals. „On tour. Highlights of career“ (Kapitel 7) bringt mit dem Kauf eines Cabrios Ende der 1920er Jahre eine Episode aus Wigmans letzter erfüllter Zeit. Das Kapitel 8, „At the end. Farewell and thanks“ schildert die Rückkehr nach Deutschland, erwähnt ihren choreografischen Beitrag zur Eröffnungszeremonie der Olympiade 1936 und zeigt einen Filmausschnitt aus ihrem letzten Solotanz, „Abschied und Dank“, mit dem sie sich, 56jährig,  von der Bühne verabschiedete.

Das Porträt mit den zahlreichen Dokumenten aus mehreren Tanzarchiven (Köln, Leipzig, Zürich, Berlin) ist eine Fundgrube für Freunde des Modernen Ausdruckstanzes. Der Bonus ergänzt den Film um Mary Wigmans Tagebuch über ihre Amerika-Tournee in den 1920er Jahren, Bewegungsstudien ab 1930 sowie Interviews mit Wigmans letztem Studenten, Helmut Gottschild, und Sasha Waltz.

Bernd Hoppe