Wisset ihr noch?

 

Wer sich mit Richard Wagner beschäftigt, wer wissen will, wie dessen Opern einst gesungen wurden – der kommt an diesem Ring nicht vorbei. Wie ein Felsen schiebt er sich dem neugierig Suchenden in den Weg. Als ein produktives Hindernis! Die Rede ist von der Aufnahme der RAI, der Radiotelevisione Italiana, die im Spätherbst 1953 in Rom entstand. Ich komme davon nicht los. Während das Rheingold am 26. Oktober gegeben wurde, gelangten die insgesamt neun Aufzüge der folgenden Teile jeweils gesondert vor Publikum zur Aufführung. Ins Finale ging das Projekt am 27. November. Der Beifall am Schluss setzte stürmisch ein. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil bestand darin, dass sich die Sänger, das Orchester und der Dirigent Wilhelm Furtwängler nicht zu schonen brauchten. In der Götterdämmerung – um ein Beispiel zu nennen – hatte Martha Mödl als Brünnhilde während des kräftezehrenden Anfangs nicht den strapaziösen Schlussgesang im Nacken, der dazu mahnt, mit den Kräften hauszuhalten. Nachteilig machte sich bemerkbar, dass die Werke in ihre Einzelteile zerfielen. Um Szene und Aktionen beraubt, klingt der Mitschnitt gelegentlich etwas steril und trocken.

Im Vergleich mit anderen RAI-Produktionen spielte das Orchester auf sehr hohem Niveau. Das ist nicht allein Furtwänglers Verdienst. Für ihn wurde ein ganz besonderes Orchester mit den geeignetsten Musikern aus allen RAI-Klangkörpern zusammengestellt. Deshalb fehlt auf der Besetzungsliste – wie sonst üblich – der ausdrückliche Hinweis auf eine ganz bestimmte Radio-Station. Ein Jahr später begann Furtwängler in Wien mit der Walküre seine geplante Gesamtaufnahme der Tetralogie für die EMI. Als Generalprobe kam die italienische Aufführungsserie gerade recht. Die Mödl sang hier wie dort die Brünnhilde, Ferdinand Frantz den Wotan, Gottlob Frick beide Male den Hunding. Mehr kam nicht zustande, weil der Dirigent wenige Wochen später im Alter von nur achtundsechzig Jahren starb. Seither gab es intensive Bemühungen der EMI, der Furtwängler-Gesellschaft und der Witwe des Dirigenten, Elisabeth Furtwängler, die Lücke mit der Veröffentlichung der italienischen Rundfunkproduktion zu schließen.

Fast zwanzig Jahre sollten sich die Verhandlungen hinziehen. Um die Gründe „warum nicht“ ranken sich vielerlei Gerüchte. So soll Elsa Cavelti, Fricka und Grimgerde in der Walküre, nur unter der Bedingung in eine Veröffentlichung eingewilligt haben, dass sie ihre eigene Liederplatte bekommt. Was zähneknirschend geschah (die LP war nur kurz auf dem Markt). Rita Streich, die den Waldvogel sang, und Josef Greindl, der als Fasolt, Fafner und Hagen mit dabei war, wird nachgesagt, angeblich zu hohe Honorare gefordert zu haben.

Aber schließlich war es 1972 so weit. Der RAI-Ring lag endlich auf achtzehn Langspielplatten vor. Wohl verpackt in einer hübschen Box, die viel hermachte. Verspielt war allerdings die Exklusivität des Ereignisses eine ersten kompletten Ringes. Inzwischen hatten Georg Solti und Herbert von Karajan mit ihren attraktiveren Stereoaufnahmen den Markt besetzt. Von den Bayreuther Nachkriegsfestspielen tauchten mehr und mehr atemberaubenden Mitschnitte auf. Es sollte allerdings noch einige Jahre vergehen, bis der bei Myto auf CD gepresste Beleg vorlag, dass nicht Furtwängler den ersten Nachkriegs-Ring auf Tonträgern geschmiedet hatte sondern Rudolf Moralt zwischen 1948 und 1949 mit seiner Produktion für die RAVG, die Vorläuferin der ORF, in der ebenfalls Ferdinand Frantz als Wotan und Wanderer sowie die römische Sieglinde Hilde Konetzni in Erscheinung getreten waren.

Auch Moralt führte den Vierteiler konzertant auf und kämpfte mit demselben Problem wie Furtwängler, dass auf dem Podium nicht die dramatische Stimmung aufkommen wollte, von denen die Bayreuther Mitschnitte leben. Das Drama kommt nicht richtig in Gang und tritt manchmal auf der Stelle. Bereits in einem sehr frühen Stadium stellt sich also die Frage nach der Sinnhaftigkeit konzertanter Opernaufführung. Im Vergleich mit echten Studioeinspielungen, bei denen versucht wird, unter idealen Bedingungen alles aus einer Partitur herauszuholen, was möglich und auf der Bühne kaum zu schaffen ist, muss der Konzertsaal zwangsläufig schlechter abschneiden. Dort können missglückte Stellen nicht solange wiederholt werden, bis sie sitzen.

Die EMI ließ der Plattenausgabe 1990 einen Umschnitt auf CD folgen. Technisch gelangte das historische Dokument damit auf die Höhe der Zeit und sah sich zugleich einer übermächtigen Konkurrenz ausgesetzt. Der Markt wurde (und wird) von Ring-Produktionen regelrecht überschwemmt. Zu Karajan und Solti kamen, Haitink, Levine, Sawallisch, Neuhold – und immer wieder Bayreuth, das 1976 mit der spektakulären, von Pierre Boulez musikalisch betreuten Inszenierung des Franzosen Patrice Chéreau einen spektakulären Erfolg landete, der auch von der Industrie erfolgreich ausgeschlachtet wurde. Erstmal kam eine ganzer Ring sogar ins Fernsehen.

Was zunächst zu befürchten war, ist nicht eingetreten. Neue Produktionen haben die alten nicht verdrängt. Der Markt bleibt in Bewegung. Manche Aufnahmen verschwinden wieder, der Furtwänglersche Ring aus Rom ist geblieben. Noch durch die EMI war die erste CD-Auflage durch eine handliche, platzsparende Box ersetzt worden. Nach der Übernahme durch Warner ist sie nun mit dem neuen Logo herausgekommen (50999 9 08161 23). Damit dürfte sich ihre Lebensdauer abermals verlängern. Sammler gewöhnen sich an die ständige Verfügbarkeit. Die Ausstattung ist bescheiden ausgefallen. In der ursprünglichen CD-Ausgabe der EMI wurde einst mehr geboten. Jeder Teil hatte seine eigene Box. Mit Fotos waren die Booklets ausgestattet. Dafür musste im Regal aber auch mehr Platz bereitgehalten werden. Die Neuerscheinung kommt mit weniger als der Hälfte aus. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich die Sparsamkeit bei der Ausstattung in einem günstigen Preis niederschlägt.

Der „Ring“ in Rom: Audienz der Sänger beim Papst Pius XII. (Magda Gabry, Josef Greindl, Hilde Rössel-Majdan,  Martha Mödl, Sesto Bruscantiini (damaliger Ehemann von Sena Jurinac) und eben diese/ Foto EMI/OBA (Dank an Heiko Cullmann für die Identifizierung!)

Ein Who’s Who des Wagnergesangs der Fünfziger sind die Besetzungslisten. Kein Name, der nicht in einschlägigen Lexika zu finden wäre. Gäbe es im Ring des Nibelungen klassische Nebenrollen, wäre darauf zu wetten, dass auch hinter ihnen prominente Solisten stünden. Italiener sind – bis auf den Chor, der etwas ungelenk agiert, und die Orchestermusiker – am Veranstaltungsort Rom nicht dabei. Alle Sängerinnen und Sänger sind faktisch muttersprachlich oder hatten – wie Sena Jurinac als Woglinde, Gutrune und dritte Norn – Deutsch so verinnerlicht, dass ihre serbokroatische Herkunft sprachlich überhaupt nicht mehr durchschlug. Sie singt akzentfrei. Deutlichkeit gehört zu den Vorzügen dieser Produktion. Schon Wagner hatte sie bei allen sich bietenden Gelegenheiten eingefordert. Insofern ist dieser Ring ein Musterbeispiel. Seine anhaltende Wirkung geht hoffentlich auch darauf zurück. Manchen Sängern der Gegenwart könnte es nicht schaden, die Einspielung zu eigenen Studienzwecken heranzuziehen.

Ludwig Suthaus gilt noch immer als ein Urtyp des deutschen Heldentenors. Er sang beide Siegfriede. Furtwängler dürfte ihn geschätzt haben, sonst wäre er nicht sein Tristan in der berühmten Londoner Studioeinspielung der EMI gewesen. Dabei ist er nicht so ein strahlender, metallischer Kraftprotz wie der fünf Jahre ältere Max Lorenz. Suthaus klingt introvertiert und verschattet. Er kann sich ganz zurücknehmen und die Stimme je nach Bedarf gewaltig aufdrehen. So führt er sich im Siegfried ein. Gefragt nach der seltsamsten Wagner-Szene, würde ich ohne Zögern jene Szene nennen, in der Siegfried mit einem Bär im Schlepptau in Mimes Höhle stürmt. Furtwängler nimmt das Orchester ganz zurück. Nicht nur einmal steht zu befürchten, dass die Zeit stehenbleibt. So träge fließt die Musik. Alles verdichtet sich zum Kammerspiel. Wird später Karajan auch als der Erfinder der kammermusikalischen Struktur im Ring gerühmt werden, so hat er zumindest einen Vorläufer: seinen Widersacher Furtwängler. Während bei Karajan auch formale Aspekte und der Wille, es ganz anders zu machen, bestimmend gewesen sein könnten, lässt sich Furtwängler von inhaltlichen Überlegungen leiten. Jedes Wort und jede Note liegen auf der Goldwaage. Siegfrieds Herkunft und die Geschichte des Schwertes werden vor diesem fragilen musikalischen Netzwerk haargenau singend berichtet. Was heutzutage in übersteigerter Aktion und ungenauem Gesang oft untergeht: Hier wird es offenbar. Spannend wie in einem Krimi. Der gesamte erste Aufzug ist höchst informationsträchtig – sowohl retrospektiv als auch nach vorn weisend. Wer hier nichts versteht, bekommt vom ganzen Ring allenfalls die Hälfte mit. Oft genug zugehört, wird deutlich, warum die Wahl auf den gewöhnungsbedürftigen Julius Patzak für den geschwätzigen Mime fiel. Der kann genau und pointiert singen und überschlägt sich nicht in akrobatischen Verrenkungen wie Gerhard Stolze, einer seiner Nachfolger in der Partie. Patzak kommt von innen, nicht von außen. Sein Zwerg ist alt und müde. Er ist auch deshalb so gemein, weil er nicht mehr kann, weil er sich aufgebraucht hat und ausgelaugt ist in seinem irrwitzigen Wahn, Macht über die Welt zu erringen. Sein Plan geht nicht auf. Er ist gescheitert. Während im Rheingold Gustav Neidlinger wirkungsmächtig seinen Anspruch auf die Rolle seines Lebens, den Alberich, erhebt, fällt diese Aufgabe in Siegfried und Götterdämmerung Alois Pernestorfer zu, der nicht annährend die dämonische Kraft seines Kollegen entfesseln kann. Fiesling vom Dienst ist der schon erwähnte Josef Greindl. In der Mannen-Szene in der Götterdämmerung öffnet er als Hagen sein stimmliches Reservoir wie Schleusen.

In Verehrung einander zugetan: Wilhelm Furtwängler und Martha Mödl – hier hinter der Szene beim „Parsifal“ an der Mailänder Scala 1950/ Foto Scala/Mödl/ OBA

Die Mödl, unverkennbar in der Majestät ihres dunklen Soprans lässt mich neuerdings nicht nur hingerissen und begeistert zurück. Sie ist dann besonders gut, wenn sie nicht auf sich allein gestellt ist. Als Bühnentier braucht sie das Gegenüber, um sich voll entfalten zu können. So wie im Finale der Walküre, beim Schwur auf der Burg der Gibichungen oder in der große Szene mit Waltraute, die von Margarete Klose bedrückend gestaltet wird. Deren große Erzählung könnte dreimal so lang sein, ohne langweilig zu werden. In ihrer Ausdeutung gerinnen die vielen Zeilen und Noten zu einem Moment. Als Wotan und Wanderer hinterlässt Ferdinand Frantz einen würdigen Eindruck, bleibt dabei aber etwas eindimensional. Nicht, dass er alles gleich sänge. Eine Neigung in diese Richtung gibt es schon. Mir ist er etwas zu gütig, zu unbestimmt. Wotans zwiespältiger, machtbesessener Charakter könnte stärker herausgearbeitet sein. Mit seiner stimmlichen Zuverlässigkeit ist er die Säule des ganzen Unternehmens. Furtwängler hatte ihn schon in seiner Bühnenaufführung in der Mailänder Scala eingesetzt. Auch in der Studioaufnahmen der Walküre singt er den Wotan – bei Moralt ebenfalls.

Die ebenfalls schon genannte Sena Jurinac ist einer besonderen Würdigung wert, indem sie ihr Publikum davon überzeugt, dass die Gutrune keine undankbare Aufgabe ist. Nach dem Trauermarsch in der Götterdämmerung schlägt ihre Stunde. Wie sie ängstlich und unruhig umherirrt und das drohende Unheil heraufziehen sieht, ist kaum je so anrührend auf Tonträger gelangt. Die kleine, dichte Szene wird – von Furtwängler höchst sensibel begleitet – zum Drama im Drama. Der Dirigent ist immer im richtigen Moment zur Stelle. Natürlich kann er Gewalten entfesseln, Spannungen aufbauen. Er legt seine legendären Pausen ein, in denen nicht nur das Publikum, sondern auch er selbst den Atem anhält. Ganz typisch für ihn ist der etwas unbestimmte, dafür aber umso aufregendere Beginn der Walküre.

Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Orchestermusiker hatte ihn einst bei einer Probe gebeten, doch den Auftakt bitte deutlicher zu schlagen, sie wüssten sonst nicht, wann sie einzusetzen hätten. Darauf soll Furtwängler geantwortet haben: „Je undeutlicher, desto besser“ (Foto oben: Herkules/ Capitolinisches Museum Rom/ Foto Winter). Rüdiger Winter