Ein Sänger bekommt seine Stimme zurück

Mehr hätte auf diese CD nicht gepasst. Neunundsiebzig Minuten und zwei Sekunden Juan Luria – Oper, Lied, religiöse Gesänge Das ist viel. Aber nicht zu viel. Man muss sich darauf einlassen, denn die Aufnahmen sind mehr als hundert Jahre alt, also aus den Kindertagen der Tonaufzeichnung überliefert. Es ist, als tauche man tief hinab in die Vergangenheit. Eine ganz andere Welt, die längst untergegangen ist, tut sich plötzlich wieder auf, lässt Einblicke und Höreindrücke zu. Der 1862 in Warschau als Johannes Lorie geborene Sänger debütierte bereits 1884 an der Wiener Hofoper. Da war an Gustav Mahler als Direktor dieses Hauses noch nicht einmal zu denken.

1890 ging er für eine Saison an der Met nach New York. Von 1891 an lebt er in Italien, wo er unter dem Namen Giovanni Luria 1893 an der Mailänder Scala den Wotan in der italienischen Erstaufführung der Walküre in italienischer Sprache sang. Wieder in Deutschland, ließ er sich in Berlin nieder, reiste zu Gastspielen weiterhin an zahlreiche Opernhäuser und widmete sich schließlich vornehmlich der pädagogischen Tätigkeit.
Juan_Luria1Luria, hoch angesehen und als Königlich Württembergischer Hofopernsänger geehrt, musste sein Vaterland 1937 verlassen, weil er Jude war. Er floh nach Holland, wo er nach der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht verhaftet, deportiert und am 21. Mai 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde. Sein Schicksal steht für die Zerstörung der besten Traditionen deutscher Kunst durch die Nationalsozialisten, die bis heute nachwirkt. Deshalb ist diese CD auch ein Stück Wiedergutmachung. Luria bekommt siebzig Jahre nach seinem schmachvollen Ende Stimme und Würde zurück. Nicht nur durch die CD, die von der Frida-Leider-Gesellschaft herausgegeben wurde, sondern auch durch einen Stolperstein vor seiner letzten Wohnstätte in der gutbürgerlichen Bleibtreustraße 44 im Berliner Ortsteil Charlottenburg. Mit diesen in das Straßenpflaster eingelassenen kleinen Gedenksteinen – ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig – wird an Menschen erinnert, die das Schicksal von Luria teilten.

Luria war vergessen, nur Sammlern von Schelllackplatten noch ein Begriff. Die sind offenbar zahlreich überliefert, das Booklet nennt gleich sechs Sammlungen, aus denen sich bedient werden konnte. Die Auswahl kennt keine Grenzen. Szenen aus Rigoletto, Trovatore und Ballo in maschera weisen Luria als exzellenten Verdi-Bariton aus. Die Stimme ist konzentriert und auf dem Punkt, klingt später etwas heller und noch ausdrucksstärker als in den ersten Einspielungen von 1905. Gesungen wird in Deutsch und auch in Italienisch, mal mit Klavier, mal mit Orchester. Die Tempi sind in ihrer Ausdehnung mitunter gewöhnungsbedürftig, was aber auch an den Aufnahmekapazitäten der Platten, die von Chris Zwarg (Truesound Transfers Berlin) hervorragend überspielt wurden, liegen mag. Zwei Szenen des Wolfram aus Tannhäuser und das berühmte „Behüt‘ euch Gott“ aus Nesslers Trompeter von Säckingen repräsentieren das deutsche Fach, Schuberts „Am Meer“, Schumanns „Die beiden Grenadiere“ und Loewes „Fridericus Rex“  – allesamt mit Orchesterbegleitung – den Liedgestalter, ein Ausschnitt aus Mendelssohns Paulus den Oratoriensänger.

CD - LuriaEtwas unverhofft platzt „La Paloma“, der berühmte spanische Hit von Sebastián Iradier in der eher seltenen Übersetzung „Mich rief es an Bord“ herein, um abermals die vielseitige Begabung von Juan Luria zu beschwören. Das ist eine schöne Bereicherung. Der Titel wurde 1908 für  das berühmte Label Odeo eingespielt. Eingedenk seines tragischen Endes berühren zwei religiöse jüdischen Gesänge besonders stark: „Adaun aulom“ und „Adonay s’choronu“. Sie wurden 1907 ebenfalls von Odeon mit Harmonium-Begleitung und dem Chor der Neuen Synagoge in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße, aufgenommen. Deren prachtvoller Eingangsbereich hat die Zerstörung überlebt. Heute ist dort das Centrum Judaicum untergebracht.

Die CD mit der Bestellnummer 19051912 ist direkt bei der Frida-Leider-Gesellschaft, die auch den Stolperstein initiiert hat, zu beziehen. Das Foto oben zeigt den Stolperstein, in der Mitte ein Porträt von Luria, unten links das etwas eigenwillig gestaltete Cover der CD.

Rüdiger Winter

Einstellungen
Einstellungen
Einstellungen
Einstellungen
Einstellungen
§
1
2
3
4
5
6
7
8
9
0
=
Backspace
Tab
q
w
e
r
t
y
u
i
o
p
[
]
Return
capslock
a
s
d
f
g
h
j
k
l
;
\
shift
`
z
x
c
v
b
n
m
,
.
/
shift
English
alt
alt
Einstellungen