Júlia Várady zum 80.

 

Wenn ich an Júlia Várady denke, die gerade ihren 80. Geburtstag feiern kann und zu deren Ehren ihre Stammfirma orfeo eine 10-CD-Erinnerungsbox herausgegeben hat (davon nachstehend mehr), ist das erste Wort, das sich mir aufdrängt das Wort „Ernsthaftigkeit“. Ernsthaft ist und war sie in allem, was sie künstlerisch tat, in ihren Rollengestaltungen, in ihrem Erarbeiten von Partien, im Vorbereiten derselben, im sich Vorbereiten. Da war nichts Leichtfertiges, nichts Zufälliges. Und ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihr in ihrer schönen Wohnung im Berliner Westend, wo wir bei Tee und handbelegten Käseschnittchen „nach getaner Arbeit“ in der Küche stehend eben diese Ernsthaftigkeit noch einmal thematisierten. Wenngleich ich mich auch mit einem Lächeln an ihren unvermittelten Heiterkeitsausbruch während unserer Gespräche erinnere, überraschend und bezaubernd.

Apart zu jedem Alter: Júlia Várady/Bildquelle: Bayerischer Rundfunk

Apart, attraktiv, zierlich, dabei äußerst lebhaft in der Bewe­gung und der Rede, leidenschaftlich im Argument und atembe­raubend offen über sich selbst – Júlia Várady im Gespräch ist ganz anders, als man sie sich vielleicht vorstellt. Das, was auf der Bühne manchmal kühl und distanziert wirken konnte, teilte sich dem Gegenüber als disziplinierte, klare und zu Ende durchdach­te Argumentation mit, als intellektuelle Reflexion über das eigene Leben und den Beruf, wobei immer wieder ihre spontane Warmherzigkeit und ihr bezauberndes Lächeln durchbrachen. Es ist leicht, sich im Gespräch in Júlia Várady zu verlieben. Und vieles von dem was sie sagte zeugte ebenso von ihrer Klugheit wie auch einem reellen Bühnenverstand, vor allen von ihrer unbedingten Treue zu ihrer Kunst. Manches ist mir bei erneuter Durchsicht meines Interviews so frisch wie gestern und gilt beispielhaft heute wie damals.

Man kann in unserem Beruf nicht schummeln!“ Der Anlass des Gesprächs war damals ihre sensationelle Violetta an der DOB, wo man eine kaum sonst so gesehene Studie der verschiedenen Seins-Zustände dieser vom Tode gezeichneten Frau mit-erleben konnte. Nicht nur stimm­lich, sondern vor allem auch schauspielerisch legte die Várady ihre Violetta als eine hektische, zwischen Hoffnung und Furcht pendelnde junge Frau an, deren fatales Ende konsequent durch­lebt wurde. „Man kann in unserem Beruf nicht schum­meln!“, sagte sie damals mit leidenschaftlichem Nachdruck, und sie bedauerte die jungen Dinger, ihre Kollegen, die „schön ver­packt und mit großen Schleifen darum“ auf den Markt geworfen würden, nur um dann nach kurzer Zeit verbraucht zu sein. „Nichts gegen Vermarktung, wenn sie in einem be­stimmten Rahmen gut gemacht wird!“, aber auf der Bühne zählte der wirkliche Einsatz für sie.

„Man hat nur ein einziges Leben. Jeder Abend, wenn der Vorhang runtergeht, ist ein Abschied. Ich muss mindestens 90 % am Abend geben, damit das Publikum spürt, was in mir vorgeht. Es geht nicht anders. Und dabei soll man nicht leichtsinnig sein. Alles basiert natürlich auf einer erstklassigen Technik, die ich Gott sei Dank habe und die mir bereits als junges Mädchen von meiner Lehrerin zu Hause beigebracht wurde. Aber man kann eben nicht schummeln, das Publi­kum merkt das. Wieso soll ich etwas leichtsinnig heraus­schleudern, wenn ich schon einen Tic bekomme, wenn ich nur auf die Uhr schaue und sehe, wie die Minuten verge­hen. Eine Minute aus meinem Leben ohne Absicht und leichtfertig verstreichen zu lassen, ist etwas, was mir zutiefst zuwider ist. Man muss eben alles geben oder Nein sagen zu Angeboten, die einem nicht entsprechen. Vor allem muss man überlegen, wieviel man investiert. Denn Singen ist ja nicht nur Geldverdienen, Singen ist auch die Materie in uns. Denn jeden Abend habe ich einen Teil meiner Zellen vollkommen verbraucht.“

„Das Arbeiten auf der Bühne ist natürlich auch eine ganz intime Angelegenheit, wenn man mit fremden Menschen umgeht. Wenn man einen fremden Tenor hat, den man noch nie gesehen hat, und mit dem man sich umarmen und küssen muss, dann muss so eine Chemie herrschen, dass man sich gern anfasst, dass man nicht nur so tut, als ob, das merkt das Publikum immer. Manchmal spuckt je­mand einem sogar auf die Lippe oder fasst wirklich sehr direkt zu, und auch das ist gut so, das muss echt sein, es geht nicht anders. Das kommt aber auch über die Rampe. Man muss auch als Sänger die Gänsehaut im Publikum spüren, und das Publikum muss spüren, was in uns vor­geht. (…) Glauben Sie, dass Verdi oder Wagner nichts dabei empfanden, als sie diese Opern schrieben? Die haben doch nicht nur tech­nisch komponiert (…).“

Und die Diszi­plin? Ich habe mich daran gewöhnt. Mir wäre es anstren­gend, anders zu sein. Mein Sternzeichen ist Jungfrau mit einem irrsinnig starken Löwen-Anteil. Und vielleicht hat auch meine eigene Biographie etwas damit zu tun, denn ich stamme aus einem sehr disziplinierten Elternhaus. Und ich bin es mir schuldig, dass ich vor mir selbst bestehen kann. Meine Seele wünscht, dass sie etwas erlebt, und ich wünsche, dass ich nicht etwas abliefere und mein Geld abarbeite, sondern dass ich mein eigenes Niveau halte.“

„Musik ist ja für Sänger und ganz besonders für mich die große Chance für die Seelenwäsche, an vielen Stellen beinahe eine psychotherapeutische Sitzung, wenn ich auf der Bühne meine Ängste und meine sehnlichsten Wün­sche herauslassen kann. Ich bin anschließend ganz leer, ganz erleichtert, alle Ängste, alle Lieben, Täuschungen, die ganze Skala von Leiden und Freuden, alles wozu man fähig ist, kann man auf der Bühne durchleben. Das ist ein großes Glück. Man durchmisst die großen Spannen zwi­schen äußersten Glücksgefühls und einer großen Entlee­rung, auch der Aggressionen. Dabei gibt die Bühne die einmalige Chance, in verschiedene Personen und Persön­lichkeiten zu schlüpfen. Ich scheue mich nicht, auch weniger schöne, weniger runde Töne zu singen, als man sich vielleicht im anderen Fall von anderen Sängern vor­stellen kann. (Dass Júlia Várady betörend schöne Piano-Töne, vor allem in der oberen Lage, singen konnte, erinnerte ihr Ge­sprächspartner mit großer Rührung von ihrem Verdi-Requiem her, das unter Giulini in der Berliner Philharmonie ganze Reihen zum Weinen brachte.)

Lady Macbeth etwa oder Aida sind ja Figuren, die kämpfen. Aida zum Beispiel kämpft um Radamés, und sie ist zudem eine Frau, die ihr Vaterland verlassen musste. Das gilt auch in gewisser Weise für mich; ich musste ebenfalls mein Heimatland verlassen. Und vieles von den eigenen Empfindungen setzt man dann in Musik um. Ich stehe zu meinen für viele auch unbeque­men Rollengestaltungen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich etwas tue, von dem ich die Folgen nicht übersehen kann.“

Das galt sicher auch in Hinsicht auf ihre Kompromisslosigkeit und ihr völliges Engagement für ihren Beruf. Sie ordnete sich zwar Regisseuren und Dirigenten wäh­rend der Arbeit völlig unter und galt als äußerst „pflegeleicht“. Aber sie machte sich keine Illusionen, dass ihre Verweigerung des Anti­chambrierens, des diplomatischen Umgehens mit wichtigen Leuten nur um eines bestimmten Projektes willen, ihr auch geschadet hat. „Aber vielleicht ist das Nicht-Zustandekom­men von Partien wie ein Schicksalswink. Es gibt immer eine zweite Seite. Das Leben ist für mich wie ein Riesenrad, und es ist niemals nur so, dass es einem nur schlecht oder nur gut geht. Man muss das Gute und das Schlechte mit dem gleichen Lächeln annehmen. Für alle steht am Ende dasselbe Schicksal. Ich bin kampfbereit, aber nicht verbis­sen. Ich bin eben nur ein bisschen unbequem, weil ich keine Kompromisse mache. Und das muss man bei mir auch akzeptieren. Ich bin keine Liebe auf den ersten Blick, entweder man mag mich, oder man mag mich nicht. Eine halbe Sache wird bei mir niemand finden!G. H.

 

Wie oben erwähnt hat die Firma orfeo auf 10 (bereits früher veröffentlichten) CDs ihre Archive geöffnet und die Kunst der Várady noch einmal ausgebreitet. Unser geschätzter Kollege Gerhard Persché hat ihre Biographie und dieses Vermächtnis gewürdigt; und wir danken für seine Erlaubnis, daraus Auszüge zu übernehmen.

(…) Júlia Várady wurde 1941 im siebenbürgischen Oradea (Großwardein) geboren. (…) Ihre sängerische Ausbildung erhielt sie vor allem bei Arta Florescu in Bukarest, zunächst als Mezzo-Contralto. Nach ersten Bühnenjahren ab 1962 in Cluj sowie Gastspielen und Wettbewerbspreisen in Italien wurde aber Beethoven quasi zu ihrem Schicksal: Sie sang dessen Konzertarie „Ah! perfido“; Christoph von Dohnänyi hörte über einen seiner Mitarbeiter davon, bat sie zum Vorsingen und holte sie 1970 an die Oper Frankfurt. 1971 gastierte sie erstmals an der Bayerischen Staatsoper (mit sensationellem Erfolg als Vitellia in Mozarts „La clemenza di Tito“; Sammler hüten den Mitschnitt wie ein Juwel/G. H.), der sie beinahe dreißig Jahre lang eng verbunden blieb. Ihr anderes Stammhaus wurde ab den 1970er Jahren wie erwähnt die Deutsche Oper Berlin; seit 1980 ist sie Bayerische und Berliner Kammersängerin. An beiden Musiktheatern übernahm sie ein breites Rollenspektrum, das von den wichtigen Mozart- und Verdi-Sopranpartien zu Puccini und bis hinein ins jugendliche Wagner-Fach reichte (unter ihrem Mann als Dirigent nahm sie sogar Isoldes Liebestod auf).

Auch die großen Sopranrollen bei Richard Strauss (inklusive der Mezzo-Partie des Komponisten in „Ariadne auf Naxos“) sowie wichtige Partien aus dem slawischen Bereich, vor allem den Opern Tschaikowskys, zählten zum ausgedehnten Repertoire dieser außerordentlichen Singdarstellerin, die mit ihnen auch auf der Hörbühne der Schallplatte ausführlich dokumentiert ist. Auch mit einer Partie, die als „Reise in die Heimat“ verstanden werden kann und zugleich ihre stimmliche Bandbreite zeigt: die meist von Altistinnen und Mezzosopranen interpretierte Judit(h) in Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ (etwa in einer Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau als Blaubart). Im vorliegenden CD-Konvolut aus Anlass ihres achtzigsten Geburtstags werden zudem einige ihrer Ausflüge ins Land der Raritäten dokumentiert, etwa zu Spontinis Tragedie- lyrique „Olympie“, Spohrs Oper „Jessonda“ und Meyerbeers szenische Kantate „Gli amori di Teolinda“.

Im Jahr 1978 hatte Júlia Várady an der Metropolitan Opera in New York debütiert; außerdem war sie in den Jahrzehnten bis zu ihrem Abschied von der Bühne Ende der 1990er Jahre regelmäßiger Gast u.a. an der Wiener Staatsoper, bei den Salzburger Festspielen, sang an Covent Garden ebenso wie beim Edinburgh Festival, in Paris (Opera Bastille und Palais Garnier) und an der Mailänder Scala. 2003 zog sie sich auch vom Konzertpodium zurück – wo sie nicht zuletzt dem Liedgesang breiten Raum gegeben hatte (im vorliegenden Album dokumentiert durch Aufnahmen von Liedern Strauss4, Tschaikowskys und Spohrs) – und widmete sich dem Gesangsunterricht, einer Leidenschaft, die sie nach eigener Aussage schon als junge Sängerin in sich spürte.

Ab 1999/2000 wirkte sie als Professorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, unterrichtete auch am Opernstudio der Staatsoper Unter den Linden. Seit 2012 ist sie zudem als Gastprofessorin an der Hochschule für Musik in Karlsruhe tätig. Als Lehrerin gab und gibt sie weiter, was ihr in ihrer aktiven Bühnenzeit, wie bereits erwähnt, selbstverständlich schien: Die völlige Beherrschung der Gesangstechnik als Voraussetzung für jede Art von Expression. Die Kunst des ausdrucksvollen Gesangs fängt ja ihrer Überzeugung nach bei der souveränen, nicht mehr von technischen Unwägbarkeiten beeinträchtigten Führung des vokalen Instruments an. Womit sie die Grundbedingungen klassischer Gesangskunst und technisch makellosen Singens anspricht, die auch ihre Stärken waren: Möglichst vollendetes Legato, bruchloses Messa di voce sowie eben größtmögliche stimmliche Biegsamkeit.

(…) Wie die Verbindung von vokaler Schönheit und expressiver Stimmigkeit jedoch auch bei zeitgenössischer Musik vorbildlich funktioniert, erfuhr man etwa bei Júlia Váradys Cordelia in der Uraufführung von Aribert Reimanns Lear 1978 an der Bayerischen Staatsoper neben ihrem Mann Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie. Gerhard Persché

 

Júlia Várady – The Orfeo Recordings – mit Werken von: Giuseppe Verdi, Giacomo Puccini, Peter Iljitsch Tschaikowsky, Richard Wagner, Richard Strauss, Gaspare Spontini, Louis Spohr, Giacomo Meyerbeer, Wolfgang Amadeus Mozart; Mitwirkende: Júlia Várady, Lothar Odinius, Stella Doufexis, Helen Donath, Dietrich Fischer-Dieskau, RIAS Kammerchor, Bayerisches Staatsorchester, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Münchner Rundfunkorchester, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Bamberger Symphoniker, Radio-Symphonie-Orchester Berlin und weitere (10 CDs orfeo  C210086)

 

 Dank an Gerhard Persché für die Auszüge aus seinem Artikel im Beiheft der orfeo-Box und an Wolfgang Denker für das Auffinden meines Interviews, das 1990 an anderer Stelle erschien. Die Abbildung oben ist eines von vier Gemälden, die Dietrich Fischer-Dieskau von seiner Frau gemalt hat und das  mit den drei anderen als Reproduktion bei direkt@naxos.de angefordert werden kann; eine Karte dazu liegt der Box bei.