Faszination der „kleinen Sache“

 

Das Marienleben: Der Liederzyklus von Paul Hindemith nach dem gleichnamigen großen Gedicht aus mehreren Teilen von Rainer Maria Rilke hat seit jeher auf Sängerinnen eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Rilke allerdings setzt im Titel zwischen Marien und Leben einen Bindestrich also Marien-Leben. Dabei dürfte auch eine inhaltliche Absicht im Spiele gewesen sein. Für den von einer strenggläubigen katholischen Mutter geprägten Dichter ist das Leben Marias nicht ausschließlich himmlischer, sondern auch betont irdischer Natur – von der Geburt bis zum Tod, der im Gedicht die größte dreigliedrige Strophe beansprucht. Inspiration empfing der weitgereiste Rilke aus Gemälden der italienischen Renaissance. Die Gottesmutter in den verschiedenen Phasen ihres irdischen und weltlichen Daseins ist eine zentrale Gestalt in der Kunst. Naxos hat jetzt eine neue Einsielung herausgebracht (8.573423). Während der Dichter sein Werk in diversen Briefen gern als „eine ganz kleine Sache“ oder als „kleine Nebenarbeit“ abtat, war Hindemith davon fasziniert. Paul Conway zitiert im Booklet-Text aus einem Brief des Komponisten an seinen Verleger, dass er bislang nicht besseres geschaffen habe als diese Lieder. Er arbeitete zwischen 1922 und 1923 daran. Das Gedicht Rilkes war zehn Jahre früher erschienen. „Die Zufriedenheit war indes nicht von langer Dauer“, so Conway. „Hindemith beschloss, das Werk zu überarbeiten, um den Gesang enger an den Text und die Klavierstimmer anzupassen und überdies den Zyklus stilistisch einheitlicher zu gestalten.“ Diese Arbeit beanspruchte nicht weniger als fünfundzwanzig Jahre und wurde 1948 abgeschlossen.

Für ihre Aufnahme wählt die Sopranistin Rachel Harnisch diese Version, die auch die größte Verbreitung fand. Begleitet wird sie von Jan Philip Schulze. Die Sängerin ist Schweizerin und steht am Beginn einer internationalen Karriere. Erfolge sicherte sie sich als sie als Pamina, Fiordiligi, Marzelline, Michaela und Rachel. Mit ihrem schwebenden Sopran bringt sie ideale Voraussetzungen für die Lieder mit. Wenn erforderlich, schwingt sie sich auch zu dramatischen Höhen auf. Sie klingt jung. Das ist auch ein Vorteil. Es hätte allerdings nicht geschadet, wäre noch mehr Wert auf die textliche Ausgestaltung und Verständlichkeit gelegt worden. Schließlich sind die Lieder so komponiert, dass die Stimme auch den Worten folgen kann. Hindemith hatte das immer im Auge. Die Lieder des Zyklus fliegen dem Zuhörer allerdings nicht mal eben so zu wie klar strukturierte Volkslieder oder Kirchengesänge für die Gemeinde. Zu empfehlen ist es, sich die Rilkesche Vorlage unterstützend heranzuziehen. Leider wird sie im Booklet nicht mitgeliefert. Sie ist aber – wenn in Buchform nicht zu Hand – im Internet zu finden.

Die Neufassung des Zyklus unterscheidet sich deutlich von der ursprünglichen Komposition. Lediglich das zwölfte Lied, „Stillung Mariae mit dem Auferstandenen“, blieb unverändert. Erstmals aufgeführt wurde sie von Annelies Kupper 1948 in Hannover. Davon hat sich auch eine Aufnahme beim Label Christophorus erhalten. Bei dieser Sängerin klingen die Lieder mütterlicher als bei der neuesten Einspielung. Die Produktion mit Erna Berger von 1953 wurde besonders berühmt, weil sie auch mehrfach als Schallplatte erschienen war. Aus ihrer Interpretation klingt ein überirdischer Ansatz. The Intense Media nahm einen CD-Umschnitt in seine Erna-Berger-Edition aus zehn CDs „Glockenklang der Seele“ auf. Noch zu haben ist auch die Einspielung von Gerda Lammers bei Cantate, während die Aufnahme mit Gundula Janowitz bei Jecklin Disco seit langem vergriffen scheint. Gerda Hartmann hat den Zyklus für Discover, Veronica Lenz-Kuhn für Thorofon, Maya Boog für cpo, Judith Kellock für Koch, Soile Isokoski für Ondine und Elisabeth Meyer-Topsoe für Danacord eingespielt. Eine orchestrierte Variante gibt es bei Finlandia mit Karita Mattila. Auch die erste Fassung von Hindemiths Marienleben ist aufgenommen worden – und zwar von Roxolana Roslak gemeinsam mit Glenn Gould bei Sony. Rüdiger Winter