Pathos ohne Kitsch

 

Dass Artur Rodziński (1892-1958), der polnische Dirigent mit österreichisch-ungarischen Wurzeln, heutzutage etwas aus dem Blickfeld verschwunden ist, kann man angesichts seiner Qualitäten nur bedauern. Es ist von daher hoch erfreulich, wenn Sony Music nun die 16 CDs umfassende Box Artur Rodziński / New York Philharmonic – The Complete Columbia Album Collection (19439787752) vorlegt.

Die größten Spuren hinterließ der gebürtige Europäer tatsächlich in Amerika, wo er 1925 Assistent von Leopold Stokowski in Philadelphia wurde. 1929 übernahm er sodann als Musikdirektor zunächst das Los Angeles Philharmonic, um 1933 in selber Funktion zum Cleveland Orchestra zu wechseln. Dort blieb er ein Jahrzehnt und legte die Basis für den späteren Welterfolg des Orchesters unter seinem Nachfolger George Szell. Den endgültigen Karrieresprung machte Rodziński dann im Jahre 1943, als er das seit John Barbirollis Abgang 1941 ohne formalen Chefdirigenten agierende New York Philharmonic übernahm, eines der damaligen sogenannten Big Three (neben Boston und Philadelphia; erst in den 1950er Jahren wurde es endgültig zu den heute geläufigeren Big Five, als man Chicago und Cleveland ebenfalls in diese oberste Liga aufnahm). Konflikte mit dem Orchestermanager Arthur Judson kennzeichneten Rodzińskis New Yorker Engagement von Anfang an. Nicht zuletzt aufgrund dieser Problematik endete sein Vertrag bereits 1947. Im selben Jahr wechselte er nach Chicago, doch auch dort gab es ernsthafte Differenzen mit dem Direktionsgremium, so dass Rodziński nach nur einer Spielzeit hinwarf und fortan nur mehr als Gastdirigent auftrat. In seinem letzten Lebensjahrzehnt entstanden noch zahlreiche Einspielungen, machten sich aber auch zunehmende gesundheitliche Verfallserscheinungen des Dirigenten bemerkbar. Dies ging soweit, dass ihm ärztlich dringend von weiteren Dirigierverpflichtungen abgeraten wurde. Freilich scheint sich Rodziński nicht daran gehalten zu haben und übernahm nach seiner Rückkehr nach Chicago Wagners Tristan an der Lyric Opera (übrigens sein einziger dortiger Auftritt). Kurze Zeit später, am 27. November 1958, starb Artur Rodziński im Alter von 66 Jahren in Boston.

Freude für die Fans: die CD-Hüllen mit den originalen Plattencovern der alten LPs 

Seine diskographische Hinterlassenschaft ist ausgesprochen reichhaltig und erstreckt sich auf mehrere Labels. So spielte er in Cleveland und New York für Columbia Records ein, wechselte in Chicago zu RCA Victor, um später neuerlich für ein paar New Yorker Nachzügler abermals zu Columbia zu wechseln. Es folgten Produktionen für Westminster (1954-1956) und ganz zuletzt für EMI (1957-1958), die sämtlich mit europäischen Orchestern, nämlich dem Wiener Staatsopernorchester, dem Royal Philharmonic Orchestra sowie dem Philharmonia Orchestra zustande kamen. Dergestalt nimmt es nicht wunder, dass nur die EMI-Aufnahmen und ein kleiner Teil jener für Westminster bereits in Stereo festgehalten wurden.

Die hier nun vorgelegten Einspielungen entstanden größtenteils zwischen 1944 und 1946, als Rodziński Musikdirektor des New York Philharmonic war, bereichert um ein paar Aufnahmen von 1950 mit dem studioeigenen Columbia Symphony Orchestra. Gemessen am enormen Alter, ist die klangliche Aufbereitung wahrlich gut gelungen (24-bit/192 kHz-Remastering von den Originalbändern). Die meisten dieser Einspielungen erleben hier gar ihr verspätetes CD-Debüt.

Was aber ist nun konkret enthalten? Schwerpunkte umfassen die Komponisten Brahms (Sinfonien Nr. 1 und 2), Rachmaninow (Sinfonie Nr. 2 und Klavierkonzert Nr. 2 mit György Sándor), Tschaikowski (Sinfonie Nr. 6, Nussknacker-Suite, Mozartiana-Suite) und vor allem Wagner (dritte Szene des ersten Aufzuges und kompletter dritter Aufzug der Walküre, Siegfried-Idyll, diverse Auszüge aus Tristan und Lohengrin). Opern-Aficionados dürften frohlocken angesichts der Besetzung: Helen Traubel als üppig-opulente Sieglinde, Brünnhilde und Isolde, der fast vergessene, aber betörend heldische Emery Darcy als Siegmund sowie Herbert Janssen als vielleicht etwas heller Wotan stehen im Zentrum.

In die Edition wurden auch das Columbia-Album mit dem kompletten dritten Aufzug der „Walküre“ und diversen anderen Szenen mit Helen Traubel und Herbert Janssen übernommen.

Trotz des historischen Klanges sind eigentlich enthaltenen sinfonischen Darbietungen Rodzińskis ungemein packend, so dass sich die Faszination auch nach fast 80 Jahren einstellt. Er kostet trotz ziemlich rasanter Tempi süffig, jedoch nie ohne einen Anflug von Kitsch das den Werken innewohnende Pathos aus, so gerade in der Pathétique von Tschaikowski, die er für Westminster etwa ein Jahrzehnt später noch einmal, klanglich geringfügig besser (jedoch auch noch in Mono) einspielen sollte. Überhaupt ist Rodziński im russischen Repertoire ungemein stark, wie man auch in den ebenfalls inkludierten Bildern einer Ausstellung von Mussorgski in der Ravel-Orchestrierung oder in Prokofjews fünfter Sinfonie erfahren kann. Vom damals noch lebenden Sibelius ist interessanterweise als einziges die seinerzeit selten gespielte vierte Sinfonie berücksichtigt, bei der Rodziński besonders im düsteren Kopfsatz punkten kann. Ansonsten ist das französische Repertoire gut abgedeckt mit dem vierten Klavierkonzert von Saint-Saëns (am Piano niemand Geringerer als Robert Casadesus) und Saties Trois morceaux en forme de poire (Robert und Gaby Casadesus). Weiterhin die Sinfonie C-Dur sowie das Vorspiel zum dritten Carmen-Aufzug von Bizet, die Suite française von Milhaud und die exotisch angehauchte sinfonische Suite Escales von Ibert.

Verbundenheit zum amerikanischen Repertoire zeigt Rodziński mit Werken von Morton Gould (Spirituals for Orchestra), Copland (Lincoln Portrait; Erzähler: Kenneth Spencer) und Gershwin (An American in Paris). Gewissermaßen als Zugabe sind die beiden sogenannten Twilight Concerts von 1950 mit dem Columbia Symphony Orchestra anzusehen, wo Gassenhauer wie die Guillaume Tell– und die Orphée aux enfers-Ouvertüre und weitere kurze Stücke, oft Auszüge aus kompletten Werken, zum Besten gegeben werden. Alle CD-Hüllen sind den originalen Covern nachempfunden. Die mit vielen Fotos versehene und Textbeigabe ist sehr gediegen. Insgesamt eine ausgesprochen ansprechende Box für jeden Liebhaber legendärer Dirigenten der Vergangenheit ohne Berührungsangst vor edlem Monoklang (Foto oben: Serge Koussevitzky, Music director of the Boston Symphony from 1924-1949/ Courtesy of the Boston Symphony Orchestra). Daniel Hauser