ungekürzt, aber enttäuschend

 

Belcanto-Liebhaber und vor allem Sammler von Raritäten warten mit Spannung auf jede Neuveröffentlichung der rührigen britischen Firma Opera Rara. Selbst wenn man auch über die Auswahl der Sänger maulen mag, die man in diesem Fall entweder als „alte Schuhe“ oder „ungeeignet“ nennen möchte. denn die jüngste Initiative betrifft Rossinis Melodramma tragico Semiramide, welches freilich nicht unbedingt eine Rarität auf dem Plattenmarkt darstellt. Noch immer ist für mich die Decca-Einspielung mit Joan Sutherland und Marilyn Horne von 1966 der Maßstab aller Dinge. 25 Jahre später brachte die DG ihre Aufnahme mit Cheryl Studer und Jennifer Larmore heraus. Auch viele und wirklich bedeutende Live-Dokumente sind verfügbar, so vom Festival Aix-en-Provence 1980 mit Montserrat Caballé und Marilyn Horne oder vom Rossini Opera Festival Pesaro 1992 mit Iano Tamar und Gloria Scalchi sowie aus dem Konzerthaus Wien 1998 mit Edita Gruberova und Bernadette Manca di Nissa. Maßstäblich sind immer noch die beiden  Aufnahmen mit der hinreißenden und gebührend dunklen Cecilia Gasdia und Gloria Scalchi aus Pesaro oder die aus Genf mit der unglaublich intensiven Nelly Miricioiu in der Titelrolle. Die Konkurrenz also ist groß und illuster. Da kann die neue Aufnahme bei Opera Rara nicht mithalten, auch nicht im orchestralen Bereich.

Zumindest aber markiert diese Veröffentlichung von OR die erste Studio-Aufnahme seit mehr als 20 Jahren (wobei Live-Mitschnitte meistens spannender, weil intensiver sind) und ist darüber hinaus bedeutungsvoll wegen ihrer absolut ungekürzten Fassung. Daraus resultieren die vier (!) CDs mit einer Spieldauer von insgesamt 230 Minuten.

Semiramide ist die letzte italienische Oper des Komponisten vor seinen Kreationen für Paris, uraufgeführt mit enormem Erfolg 1823 am Teatro La Fenice von Venedig. Sie gehört zu Rossinis Werken mit den allerhöchsten Anforderungen an die Interpreten und da muss man leider konstatieren, dass die Neueinspielung diesen Ansprüchen nicht durchweg genügt und sich mit den vorhandenen Aufnahmen kaum messen kann. Die virtuose Titelrolle, die einen dunklen Sopran, also einen Falcon, verlangt,  wurde Albina Shagimuratova anvertraut, einer international gesuchten und erfolgreichen  Königin der Nacht, eine bekannte Koloratursängerin. Doch Rossinis babylonische Königin ist ein anderes Kaliber, eine von Isabella Colbran kreierte Partie, für welche die Sängerin eine stabile und farbige Mittellage sowie eine gute Tiefe braucht. Eine solche steht der Russin nicht zu Gebote, ihr Sopran klingt zu leicht, gelegentlich sogar dünn und zu eindimensional im Farbspektrum. Prüfstein ist die große Kavatine „Bel raggio lusinghier“ mit ihrem elegischen, sehnsuchtsvollen Beginn, dem mit „Dolce pensiero“ ein bewegter Schlussteil folgt. Shagimuratova lässt technisch keine Wünsche offen, verziert ausgiebig und legt (auch grelle) Spitzentöne ein, aber in Ausdruck und Farbpalette wünschte man sich einen größeren Reichtum.

Auf den Arsace, die zweite Hauptrolle der Oper, ist Daniela Barcellona beinahe abonniert. Mit ihrem gutturalen, recht groben, gewöhnlichen Timbre ist sie mein Fall nicht, aber ich muss gestehen, dass sie hier weicher und ausgeglichener klingt als erinnert und die Besetzung dieser Semiramide dominiert. Rossini führt die Figur mit einer ausgedehnten Auftrittsszene ein – dem beklommenen Rezitativ „Eccomi alfine in Babilonia“ folgt eine Kavatine („Ah! quel giorno ognor rammento“), gespickt mit vielen vokalen Tücken, die ihren Höhepunkt im vertrackten Schlussteil im Stil einer Cabaletta findet („Oh! Come da quel dì“). Auch Arsaces zweites großes Solo im nächsten Akt („In si barbara sciagura“) absolviert Barcellona (bis auf einige strenge Spitzentöne) souverän. In den beiden großen Duetten Arsaces mit der Titelheldin mischt sich ihre Stimme mit der von Shagimuratova in angenehmer Harmonie. Aber Erinnerungen an Kolleginnen wie Ewa Podles, Gloria Scalchi oder  natürlich Lucia Valentini Terrani (oder die unvergessene Kathleen Kuhlmann) treiben Tränen der Sehnsucht hervor,.

Gefürchtet wegen ihrer Tessitura ist die Partie des Idreno, in der Barry Banks (sonst meist secondo uomo bei Opera Rara, einen zu reifen Charaktertenor hören lässt, dem es an jugendlicher Frische fehlt und der in der exponierten Lage einen gequälten Klang annimmt. Der Sänger erfüllt den bravourösen Zuschnitt der Rolle, doch haben die Koloraturen einen unangenehm meckernden Ton. Seine Arie im 1. Akt, „Ah dov’è“, beginnt er passabel, die Stimme hat in der Mittellage sogar einen schwärmerischen Anflug, was auch für die Arie im 2. Akt, „La speranza più soave“, zutrifft, aber beim Aufstieg in die höhere Lage stellen sich im Klang wieder die genannten Probleme ein. Auch Mirco Palazzi als Assur ist keine ideale Besetzung und stärkt nur die Erinnerungen an Kollegen wie Samuel Ramey oder Simone Alaimo. Sein Bass ist im Charakter zu weich, klingt zuweilen auch hohl, vor allem in den Koloraturen, bei denen man die Fülle und Farbe der tiefen Männerstimme vermisst. Achtbar zieht sich der junge Sänger im Duett mit Arsace, besonders dessen Schlussteil, „Va, superbo“, mit auftrumpfender Stimmgebung aus der Affäre, auch das Duett mit Semiramide zu Beginn des 2. Aktes hat Gewicht. Die Besetzung ergänzen Susana Gaspar als Azema mit angenehmem Sopran und Gianluca Buratto als Oroe mit dumpfem Bass.

Zum fünften Mal bei Opera Rara steht Mark Elder am Pult des Orchestra of the Age of Enlightenement und sorgt für eine vitale, frische Interpretation. Fast lautlos lässt er die Sinfonia beginnen und steigert sie dann effektvoll bis zu ihrem überschäumenden accelerando-Wirbel. Plastisch malt er die übermächtigen Donnerschläge der erzürnten Götter im 1. Akt aus, spannungsreich baut er das ausgedehnte Finale Primo auf, in welchem auch der Opera Rara Chorus (Madeleine Venner) starke Akzente setzt. Schon dessen ersten Auftritt mit „Belo si celebri“ zu Beginn des Werkes hatte der Dirigent lebhaft eingeleitet und der Chor setzte diese Vorgabe mit Verve in einen pulsierenden Gesang um. Sehr atmosphärisch wird der düstere Gesang der Magier im Tempel ausgebreitet. Der Opera Rara Chorus und das Orchester sind die Säulen dieser Einspielung, welche die zehnte aus Rossinis Oeuvre bei OR darstellt. Der Ausgabe wird ein zusätzliches Booklet beigelegt, das das eingeschweiste wegen Verdrucker in demselben ersetzt. Bernd Hoppe

 

  1. Peter

    Auf youtube gibt es übrigens eine zum Niederknien schöne Semiramide mit Anderson, Horne, Merritt, Ramey, etc. unter Henry Lewis. Der recht passable Raubmitschnitt von 1986 in London dauert (fast) ohne Klatschen rund 205 Minuten, dürfte somit auch ohne Striche aufgeführt worden sein!

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  2. Mauro

    Ganz meine Meinung, zumal ich die Naxos-Aufnahme unter Fogliani exzellent finde. Im Booklet der Naxos-Aufnahme ist von einer „völlig ungekürzten Fassung“ die Rede. Allerdings existiert auch eine Version mit erweitertem Schluss, den Rossini für Paris komponiert hat. Vielleicht ist dieser ja bei Opera Rara zu hören? Dann gäbe es wenigstens ein (wenn auch nicht besonders starkes) Kaufargument.

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  3. Peter

    Nun, ich bin kein Musikologe und habe die OR-Semiramide auch noch nicht gehört. Ich wage aber zu behaupten, dass die recht ansprechende Einspielung unter Zedda mit 229 Minuten und 32 Sekunden (Dynamic) wohl genauso absolut ungekürzt ist und deshalb den Kauf der neuen OR-Version keinesfalls rechtfertigt. Auch Antonio Foglianis Interpretation auf Naxos kommt dem mit einer Spieldauer von immerhin 221 Minuten und 44 Sekunden sehr nahe. Nicht zu vergessen ist bei einer derart langen Oper, dass gewisse Tempo-Variationen schnell einmal die Gesamtlänge einer vollständig gespielten Oper um einige Minuten variieren lassen können.
    Abgesehen davon hätte OR wirklich Gescheiteres zu tun auf dem noch unerforschten Gebiet des Belcanto als eine der bekanntesten Rossini-Opern noch einmal mittelprächtig aufzunehmen. Nur schon bei Donizetti ist nicht alles eingespielt, aber auch bei Mercadante, Pacini oder – warum nicht bei einem englischen Label? – Balfe, etc. wäre noch so viel wiederzuentdecken!

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