„Tout étourdie…“

 

„Je suis encore tout étourdie“, ganz benommen ist auch der Zuhörer vom Reiz der jungen Manon Lescaut, die vor einem Gasthaus in Amiens erscheint, von wo aus sie ihr Cousin in Kloster begleiten soll. Die damals 32jährige Victoria de los Angeles singt das mit kindlicher Unschuld und gleichwohl Raffinement, ist schlichtweg „charmante“, wie der Cousin bemerkt, und bietet ein feines Portrait des schlichten Mädchens, das sich auch etwas anderes als das Kloster vorstellen kann, „Combien ce doit être amusant de s’amuser toute une vie“. Sie wirkt im zweiten Akt reifer, ist im dritten brillant, und sie hat keine Mühe mit der tieferen Lage in ihrer Sterbeszene. Das ist rundum stimmig. Und die weiteren Beteiligten, voran der gefühlvoll und stilsicher singende Henri Legay mit seiner melancholisch umflorten Traumerzählung und schönen Piani als Des Grieux, die charaktervollen Michel Dens als Lescaut und René Hérent, in dessen Bass sich die Linien eines Lebemannes abzeichnen, machen die von dem 80jährigen Pierre Monteux dirigierte Manon, in der er die wie hinter einem Gazeschleier erscheinen Rokoko-Veduten vorsichtig heranrückt, noch immer zu einem Juwel.

Die im Juni 1955 in der Pariser Salle Wagram aufgenommene Aufnahme der Manon ist Bestandteil der 16 CD-Klappbox, in der Erato die von der EMI in jahrzehntelanger Fleißarbeit angehäuften Massenets Operas (0190295683474) jetzt zu einem Preis veröffentlicht, den einst nur eine kostete. Manons „Je suis  encore tout étourdie“ lässt sich freilich nicht nachlesen: im schmalen Beiheft gibt es einen dreisprachigen Text, Trackliste, dafür die CD einzeln in die originalen Cover gewickelt. Der Klang scheint mir gegenüber den letzten EMI-CDs unverändert.

Die Ausgabe umfasst sieben Massenets Opern, sich mit der Belle Époque deckende Hauptschaffenszeit von 1881 bis 1910, von der Hérodiade bis zum Abschiedswerk Don Quichotte von 1910. Vorausgegangen war der Roi de Lahore (1877/ den gibt’s in diskutabler Ausführung bei Decca, wo das Ehepaar Bonynge-Sutherland sich Verdienste erworben hat, zumal die Decca viele weitere Massenet-Aufnahmen im Katalog hat), auf die Cervantes-Oper, eigentlich nach Jacques de Lorrains Stück über den Ritter von der traurigen Gestalt, folgten noch drei posthum uraufgeführte Opern. 70jährig verstarb Massenet im August 1912; ein Monat später vollendete Proust den ersten Entwurf von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Belle Époque war vorbei.

Die sieben Opern der Box, es gehören neben der besagten Manon noch Werther, Thaïs,  Sapho (ursprünglich bei Vega als LP-Box, die von der EMI ebenfalls als LPs mit just dem Cover übernommen wurde, wie das nun auf den Papphüllen in der Erato-Schachtel zu sehen ist;  als CDs gab es die Sapho bereits bei Bourg und dann zuletzt bei Malibran, der Firma des Doria-Ehemanns Guy Dumazert) sowie Le Jongleur de Notre-Dame dazu, bilden zugleich ein wesentliches Kapitel Aufnahmegeschichte über mehr als dreieinhalb Jahrzehnte ab, von der Manon über den Werther Ende der 1960er Jahre, die aus den 70er Jahren stammenden Thaïs,  Sapho und Le Jongleur bis zu Don Quichotte und Hérodiade von 1992 bzw. 1994.

Auch sind sie ein Dokument französischer Gesangskunst jener Jahre, wobei es vielleicht ein wenig zugespitzt wäre zu behaupten, die Entwicklung von einem eminent französischen zu einem internationalen Stil. Doch wir hören, mit Ausnahme der in London eingespielten und durchgehend mit britischen und amerikanischen Sängern besetzten Thaïs Nicolai Gedda ist so etwas wie ein Franzose ehrenhalber – vor allem in den älteren Aufnahmen Sänger, die eng mit der Opéra-Comique und der Opéra verbunden waren, – man denkt unwillkürlich auch an die unter Jean Fournet entstandenen Aufnahmen – außerhalb Frankreichs oft weniger bekannt blieben und Stützen des französischen Repertoires in den Provinzbühnen und in der Metropole waren, beispielsweise den genannten Michel Dens, mit seiner unglaublich langen Karriere, den Bariton Jean Borthayre, ihren Nachfolger Roger Soyer, die fleißige Mady Mesplé und die ungemein vielseitige und tüchtige Renée Doria (Star einer ganzen Flut von Aufnahmen und Querschnitten bei der alten Firma Vega, später Malibran), die Tenöre André Mallabrera, Henri Legay und der unvergleichliche und von den großen Firmen beklagenswert nicht beachtete  Alain Vanzo.

Die Hérodiade, die in chronologischer Reihenfolge am Beginn der Sammlung gehört, steht gleichzeitig am Ende eines Wegs zu einem internationalen Stil. Ganz nebenbei, welch aufnahmetechnischer Fortschritt, welche klangleicher Reichtum. Die Hauptpartien sind, mit Ausnahme von Nadine Denize in der Titelrolle, mit dem defitiven Nicht-Franzosen Ben Heppner, Thomas Hampson jedoch passend besetzt. Die EMI Aufnahme aus Toulouse unter Michel Plasson trat mit der zeitgleich erscheinenden Sony-Aufnahme (unter Gergiev, mit Fleming, Domingo, Zajick, Pons) in Konkurrenz. Studer zeigt als Salomé ihre Fähigkeit fürs französische Repertoire, bei aller Klarheit bleibt ihre Interpretation gegenüber Fleming, die auch die starke Konkurrenz zur Thais der Sills bildet, gesichtslos. Hampson, der sich im französischen Repertoire stets recht wohl fühlte, ist der in jeder Hinsicht wohlgefälligere Hérode, Ben Heppners Französisch ist einfach besser als das Domingos, José van Dam zeigt als Phanuel wenig Bassschwere, aber nochmals seine Kunst. Für Nadine Denize war das Ende ihrer Bühnenkarriere damals wohl in Sicht. Ich mochte diese glühende, etwas respektlose, draufgängerische Stimme immer. Und was sie aus dem Text der Hérodiade, die sie bereits 1974 unter David Lloyd-Jones gesungen hatte, macht ist toll. Sie ist ein weiteres Plus der Aufnahme.

Für den Werther, eine Referenzaufnahme wie die Manon, braucht’s nicht viele Worte. Vielleicht kam er für beide ein klein wenig spät, auch muss man eine Sopran-Charlotte mögen. Die etwas gerade singende, melodramatische De los Angeles und der leidenschaftliche Nicolai Gedda unter dem geschmackvollen Georges Prêtre sind idiomatisch und in manchen Nuancen unübertroffen.

Zu spät kam die Thaïs leider für die vielgepriesene Beverly Sills. Auch für den Nicias von Gedda, der einige Jahre zuvor ihr Des Grieux gewesen war. Seit ihrer Uraufführung scheint Thaïs fest in amerikanischer Hand. Sills folgt auf Kolleginnen wie Farrar, Neblett, Moffo, später folgte ihr wiederum Fleming nach, die sich an der Met oder im Studio an der zur Heiligen gewandelten Kurtisane versuchten. Wenige Jahre nach der in den Abbey Road Studios entstandenen Aufnahme, wo sie mit magerem und fahrigem Sopran agierte, zog sich Sills von der Bühne zurück. Sherill Milnes ist ein gewaltiger, gar nicht unrechter Athanaël, Lorin Maazel leitet eine suppige, allgemeine Aufführung.

 

Der enorme Zugewinn in dieser Massenet-Box, weil m. W. einzige und fast wieder vergessene Studio-Aufnahme, ist die Sapho. Auch wenn in dieser ein „Hit“ wie „O ma lyre immortelle“ aus Gounods Version fehlt, hat Massenets Oper ihre Reize. Seine Sapho hat jedoch absolut gar nichts mit der auf dem Felsen von Lesbos ihre Leier schwingende Dichterin zu tun, denn Alphonse Daudets realistische Studie über das Pariser Modell Fanny LeGrand, die einst als Sapho posierte, und den jüngeren Beamten Jean aus der Provence, ein bisschen Traviata und Louise und Bohème, ist ein tragisches Konversationsstück. Nach einem schwerblütigen Prélude schlägt Massenet in dem „Pariser Sittenbild“ um eine reifere femme fatale und den unschuldigen Provinzler einmal mehr einen bezaubernden Ton aus Künstlerfest, erster Liebe, Leidenschaft und Resignation an. Es spielt das wackere Orchestre de la Garde Républicaine, unter dem die Effekte des ersten Aktes mit der Bühnenmusik des Festes recht plump ausfallen; sein langjähriger Chefdirigent Roger Boutry dirigiert offenbar die die von Massenet für die Opéra- Comique 1908 erweiterte Version. Renée Doria hat für die von Emma Calvé kreierte alternde Courtisane  mit goldenem Herzen eine im Lauf ihrer langen Karriere bereits strapazierte und strapazierfähige Stimme, die immer noch weitgehend intakt ist. Doria verfügt über eine gute Höhe, vor allem über die Fähigkeit, der Figur Tiefe und Ausdruck zu geben (die sog. Séduction „Viens, m’ ami“ lohnt des Anhörens), der Schluss des zweiten Aktes gelingt ihr fabelhaft, und sie muss eine großartige Darstellerin gewesen sein, denn sie beherrscht die Szene, sobald sie die Studio-Bühne betritt. Überhaupt möchte man nach dieser Aufnahme das Stück unbedingt auf der Bühne sehen. Ihr Jean ist der (mir) völlig unbekannte Ginès Sirera, dem mit hübschem Timbre ebenso so schöne demi-teintes gelingen und der selbstverständlich mit bester Diktion singt. Er war in seiner Zeit der heldische Sänger in der Provinz – von Dijon bis Marseille. Der Rest muss nicht erwähnt werden. Meine CDs hatten leider immer wieder Aussetzer.

Boutry leitet, diesmal mit Chor und Orchester aus Monte-Carlo, auch die merkwürdige verschwurbelte, auf einem mittelalterlichen Mysterienspiel basierende Kurzoper (rund 90 Minuten, weshalb die spätere CD-Ausgabe eine Dreiviertelstunde Thais mit Jacqueline Brumaire anhängte) Le Jongleur de Notre-Dame. Alain Vanzo singt (recht spät in seiner Karriere) mit nasalem Trompetenton den einfältigen Jongleur Jean, der der Marienstatue als Opfergabe seine Kunst darbietet. Er fällt vor Erschöpfung um – also Jean, nicht Vanzo. Die Statue steigt von ihrem Piedestal und segnet ihn. Ein gemütlicher Frère Boniface ist Jules Bastin.

Fast ebenso schwer erträglich ist der doch ziemlich länglich und immer irgendwie zusammengestoppelt wirkende Don Quichotte, in dem José van Dam unter dem feinnervigen Michel Plasson seine Kunst der Phrasierung, der liedhaften Empfindsamkeit und eleganten Gestaltung zelebriert, bevor er 2010 mit dieser Partie seinen Bühnenabschied gab. Alain Fondary ist ein stellenweise fast rührender Sancho Pansa, Teresa Berganza eine stellenweise derbe und glottisreiche Dulcinée und verwechselt die französischen Kunstfiguren mit einer spanischen Donna.

 

Als Einzelveröffentlichung schickt Erato dem Massenet-Kästchen noch Edouard Lalos Le Roi d’ Ys hinterher (2 CD 0190295734855). Die von André Cluytens mit dem Orchestre national de la Radiodiffusion française eingespielte „Standard-Aufnahme“ von 1957 war mir entfallen. Ich hätte nicht geglaubt, was in operalounge.de bereits über die bretonische Legende von der versunkenen Stadt Ys gesagt wurde. Henri Legay ist, das wundert nicht, etwas leicht für den Ritter Mylio, um den sich die Schwestern Rozenn und Margared in die Haare bekommen. Doch seine Aubarde „Vainement, ma bien-aimée“ gibt er mit viel Süße und Gefühl, eine Wohltat inmitten des gewaltigen keltischen Getöses. Aber Janine Micheau, die bereits in den 30er Jahren ihr Debüt gegeben hatte, singt als Rozenn dünn und scharf. Und auch Rita Gorr versieht, mit mütterlich sattem Timbre und hohem Pathos, die böse Margared ebenfalls mit durchdringenden Schärfen. Den von Margared zurückgewiesenen Ritter Karnac gibt Jean Borthayre bei aller verständlichen Erregung mit Distinktion und wenig individuellem Ton. Rolf Fath