Zeitgenössisches

 

Man trennt nicht einfach das seit 1893 wie siamesische Zwillinge zusammengewachsene Opern-Doppel Cavalleria Rusticana und Pagliacci. An Versuchen hat es freilich nicht gefehlt – zuletzt hat man der Cavalleria in Dessau Pierantonio Tascas A Santa Lucia zur Seite gestellt; Besseres kam aber selten nach. Im Juni 2015 kombinierte die Oper Leipzig Leoncavallos Pagliacci mit der Uraufführung von The Canterville Ghost von Gordon Getty. Der Mitschnitt kam bei Pentatone heraus (PIC 5186 541), wo auch schon die vom Leipziger Intendanten Ulf Schirmer dirigierte Aufführung von Plump Jack  sowie die Andersen-Oper vom Mädchen mit den Schwefelhölzern erschienen war. Um ihm die Uraufführung dieser Nichtigkeit an einem ersten deutschen Haus zu servieren, muss Schirmer schon ungemein angetan gewesen sein von den musikdramatischen Qualitäten des 83jährigen Amerikaners. Getty, den wikipedia als Businessman, Investor und Philanthrop beschreibt, hat ein umfangreiches kompositorisches Oeuvre vorgelegt, das an prominenten Orten zur Uraufführung gelangte, wobei ihm möglicherweise zu Hilfe kam, dass er ein Sohn des Öl-Tycoons Paul Getty ist.

An dem 60minütigen Einakter The Canterville Ghost, zu dem Getty selbst das Libretto verfasste, ist nicht viel auszusetzen. Man muss dieses altmodisch-banale, spätromantisch-illustrative Idiom schon sehr mögen, dazu die plätschernde Lieblichkeit und abrufbare Gruselromantik, mit der Oscar Wildes Erzählung 1887 und die Geschichte der Virgina Otis auf Canterville-Castle ummantelt wird, um von dieser musicalhaften Instant-Dramatik überzeugt zu sein. Die in Wildes Erzählung eingeschriebenen Brüche zwischen Satire, romantischer Liebesgeschichte und Burleske werden nicht angekratzt, die Figuren erfahren keine Vertiefung. Virginia ist die lyrische Naive (Alexandra Hutton mit klarer Pamina-Stimme), Canterville der wütende Bariton in der Verdi-Tradition (Anooshah Golesorkhi macht das allerbeste daraus) – beider Begegnung bildet die umfangreichste der aus 20 Szenen bestehenden Oper -, der Geist ein bellender Bass (Matthew Trevino); dazu kommen Timonthy Oliver als Oris, Jean Broekhuizen als Mrs. Otis sowie Danise Wernly und Rachel Marie Hauge.  Matthias Foremny und das Gewandhausorchester geben viel für das banale Stück, das mit Streichern und Xylophon, Blechbläserkaskaden und Cembalo durchaus Momente schafft, denen man sich wie gut konstruierter Filmmusik nicht entziehen kann (siehe auch die Version von Alexander Knaifel).

 

Etwas völlig Unbekanntes kommt aus Stockholm. Der Mitschnitt einer am Neujahrstag 1965 an der Kungliga Operan uraufgeführten Oper, vor der ich nie hörte. Auch nicht von dem Komponisten: Laci Boldemann. Sterling holt das Versäumnis auf zwei CD nach (Sterling CDO 1111/1112-2). Es mag daran liegen, dass es sich bei Black is White – said the Emperor/ Schwarz ist weiß, sagte der Kaiser um eine Kinder- oder Familienoper handelt, ein Genre, das damals noch nicht die derzeitige Hausse erlebte und irgendwie in die Ritze fiel. Ich habe die Aufnahme gerne gehört und das sehr hübsche Libretto und das Beiheft (schwed.., engl. und dt.) mit den Skizzen zur Uraufführung gerne gelesen.

Boldemann wurde 1921 in Helsinki geboren. Sein Großvater „war der Schriftsteller Arvid Järnefelt, dessen Bruder Armas Järnefelt erster Hofkapellmeister an der Königlichen Oper Stockholm war. Deren Schwester Aino heiratete Jean Sibelius“. Durch seinen Vater war er deutscher Staatsbürger und besuchte in Berlin die Schule. Er studierte an der Royal Academy of Music in London (u.a. bei Henry Wood) sowie Klavier in Schweden bei Gunnar de Frumerie. 1942 musste er in die deutsche Armee eintreten, diente in Russland, Polen und Italien, von wo aus er desertierte und zwei Jahre in einem amerikanischen Gefangenenlager verbrachte. Nach dem Krieg lernte er in Lübeck seine Frau Karin kennen, eine Enkelin des Bassisten Paul Bender. 1947 zogen beide nach Schweden, wo seine Großeltern lebten und Boldemann als Komponist und Musiklehrer arbeitete. Den Auftrag zu der Märchenoper erhielt er vom Set Svanholm, der ab 1956 als Chef der Königlichen Oper fungierte. Chefdirigent war damals Michael Gielen, der durch seine Kinder auf Boldemanns Kinderlieder aufmerksam gemacht worden war. Der Entwurf zur Oper stammt von Boldemanns Frau Karin, die durch die Frage eines Sechsjährige, ob Hitler wirklich so böse war und warum die Leute taten was er sagte, angeregt wurde, die Antwort darauf als Märchen zu behandeln. Im Zentrum ihrer im Orient zur Zeit von Jesu Geburt spielenden Handlung steht ein Junge, dem es gelingt die Diktatur des Kaisers zu stürzen. Außerdem gibt es die Liebesgeschichte zwischen der Prinzessin und dem Prinzen sowie Episoden mit dessen lustigen Begleitern. Den Text verfasste der Kinderbuchautor Lennart Hellsing. Boldemann komponierte eine richtige Oper, keine sparsame Kinderoper. Modern war Schwarz ist weiß, sagte der Kaiser schon zur Entstehung nicht – im Gegensatz zu Blomdahls Aniara und Werles Drömmen om Thérèse, hinter deren Entstehung auch Svanholm stand; übrigens erhielt Boldemann einen Auftrag Rolf Liebermanns, für die Hamburgische Staatsoper Lindgrens Mio, mein Mio zu schreiben. Dazu kam es nicht mehr. Boldemann starb 1969 in München nach einer Gallenoperation. Aber die Oper ist farbig, lebhaft, abwechslungsreich, mit kräftigen Akzenten, Gongs, Trompeten, volkstümlich, beispielsweise in Chören, die zeigen, weshalb seine kurz vor seinem Tod entstanden Liedersammlung bis heute zum Bestand des schwedischen Chor-Repertoires gehört, mit tänzerischem, musikdramatischem Drive im Zuge der russischen Modernen, mit liedhaften Solostellen, veritablen Arien, einem Duett, Terzett, Quartett und Quintett und kauzigen Pantomimen; als der Kaiser seine Macht verliert, kommt eine elektronische Orgel zum Einsatz, die bei der Uraufführung von dem Avantgardisten Karl-Erik Welin gespielt wurde. Der Titel bezieht sich auf zwei große Vasen, eine schwarze und weiße. Der Kaiser befiehlt dem Prinzen, die weiße zu holen, worauf dieser die weiße bringt, der Kaiser behauptet aber, dass dies die schwarze sei. Die Höflinge bestätigen die Aussage des Kaisers. Der Doktor holt die schwarze Vase und sagt, „hier ist die weiße“. Der Prinz protestiert und wird in einem Käfig eingesperrt. Der Junge kommt frei und gerät abermals in die Nähe des Kaisers, der wieder das Offensichtliche leugnet und den am Himmel leuchtenden Stern nicht sehen will. Wieder stimmen ihm alle zu. Einzig der Junge bleibt standhaft, „ich kann ihn sehen“. Als der Kaiser zum Schlag gegen den Jungen ausholt, nimmt das Leuchten an Intensität zu. “Es ist da, ob wir wollen oder nicht“, sagt der Junge. Endlich erkennt auch der Kaiser, dass es eine höhere Macht gibt. Er lässt die Gefangenen frei, überlässt die Herrschaft den Prinzen und der Prinzessin und reitet in die Wüste, wobei die Geschichte offen lässt, ob er einer der drei Heiligen Könige sein könnte. Der Junge sucht neue Abenteuer.

Die Stockholmer Oper hatte unter Per-Ake Andersson erste Kräfte (und eine engagierte Souffleuse) aufgeboten: in seiner letzten neuen Partie gibt der Sven Nilsson, der in den 1930er Jahren in Dresden gesungen und u. a in den UA von Arabella und Daphne mitgewirkt hatte, den Kaiser – nicht nur durch diese Besetzung des Kaisers mit einem dunkelschweren Bass fühlte ich mich an György Ránkis Des Kaisers neue Kleider erinnert, in dem Mihály Székely 1953 den Kaiser kreiert hatte. Als Junge debütierte Gunilla Slattegard an der Königlichen Oper, der sie bis 1989 angehörte, Laila Andersson, die frisch, anrührend und jugendlich unverstellt klingende Prinzessin, entwickelte sich zu einer dramatischen Sängerin, die als Salome oder Brünnhilde auch hierzulande gastierte. Ein Dokument.

Schwächer ist es um eine 50 Jahre jüngere Einspielung bestellt: Kurt Weill: „A Portrait from Berlin to New York“. Toll die Auswahl auf den beiden CDs (CDA 1820/1821-2), die von der Dreigroschenoper bis zu dem unfertigen Huckleberry Finn reicht und auch so Raritäten wie Love Life streift, deren deutschsprachige Erstaufführung das Theater Freiburg für die kommende Saison avisiert. Das ist alles in Ordnung. Freundlicheres lässt sich über die Box nicht sagen. Doch wer ließ diese Aufnahme passieren? Kein Wort zuviel über eine Interpretation, die in dieser Form bei einem Privatkonzert schön gewesen wäre, aber so…? Der erste Eindruck ist erschreckend. Nicht nur, weil Torsten Mossberg über eine allenfalls halb studierte Chorsängerstimme verfügt und so singt, dass man es als zusätzlichen Verfremdungseffekt auffassen könnte und auch die weiteren Beteiligten über ein engagiertes Amateurniveau (nur Karin Hultenberger ist eine deftige Mrs. Peachum) kaum hinausreichen, sondern weil die Aufnahme auch technisch seltsam antiquiert anmutet.

 

So oft werde ich die Canticles of the Holy Wind des Komponisten und Umweltaktivisten John Luther Adams (*1953) vielleicht nicht hören, obwohl die 14 rund eine Stunde währenden wortlosen Chorgesänge mit bimmelnden, kristallinen Klanggestalten subtile Landschaftsbilder beschwören. Vornehmlich den Himmel und die Wolken („Sky With Four Suns“, „Sky With Four Moons“, „Sky With Nameless Colors“, „Sky With Endless Stars“) beschreiben und daneben – sozusagen als Markenzeichen von Adams – auf vielfältigste Weise Vogelgesänge und eine unverdorbene, ursprüngliche Welt evozieren („The Hour Of The Doves“, „Cadenza Of The Mockingbird“, „The Hour oft he Owl“). Gerade mit den ätherisch gezirpten, ganz niedlichen Birdsongs erzielt Adams eine oft hypnotische Wirkung, die der ausgezeichnet instruierte Kammerchor The Crossing, der das Stück 2013 in Auftrag gegeben hatte, in dieser im August 2016 unter Donald Nally entstandenen Einspielung zu feinsinniger, oft auch komischer Wirkung bringt (cantaloupe music CA21131).  R. F.

Rolf Fath