Russisches

 

Naxos hat bei den drei jüngsten Wiederveröffentlichungen von Aufnahmen der sowjetischen Plattenfirma Melodiya drei Volltreffer gelandet. Es sind großartige Dokumente eines vollblütigen, theatralischen russisch/sowjetischen Musizierstils, die hinsichtlich der Opern zusätzliches Interesse beanspruchen können, weil sie nicht zum gängigen Repertoire gehören. Und auch weil man Sängern begegnet, die im Westen kaum bekannt sind und dennoch höchsten Ansprüchen genügen. Dementsprechend ist uneingeschränkte Authentizität garantiert, zu der die profunden Chöre und das Orchester des sowjetischen Rundfunks beitragen.

Da ist zunächst einmal Anton Rubinsteins 1875 uraufgeführte Oper Der Dämon. Dies ist ein Werk voller Düsternis und dunkler Farben, nur gelegentlich aufgehellt mit orientalischem Kolorit und stimmungsvollen Genreszenen. Es behandelt ein urromantisches Sujet: die Hoffnung des namenlosen Dämons, eines verdammten Untoten, auf Erlösung durch die Liebe eines irdischen Mädchens. Die aus dem Jahr 1974 stammende Gesamtaufnahme wird von Boris Khaikin mit dramatischem Feuer dirigiert. Nina Lebedeva verleiht der fächerübergreifenden Partie der Tamara einen slawisch herben, dabei üppigen wie agilen Sopran, der aber auch zu innigen Pianotönen fähig ist. Als dämonischer Verführer steht ihr mit dem ausladenden, in allen Lagen kraftvollen Bass-Bariton von Alexander Polyakov ein Dämon großen Formats und schmerzlich intensiven Ausdrucks gegenüber. Wie sich beide im ausgedehnten Finalduett ein tolles, vor schierer Leidenschaft berstendes stimmliches Duell liefern, gleicht einem musikalischen Krimi. Nina Derbina steuert die zur Versöhnung aufrufenden Worte des Engels mit vollmundigem, ausgeglichenem Alt bei. Die kurze, aber wichtige Partie des Prinzen ist mit dem etwas schmalen, aber kultiviert geführten lyrischen Tenor Aleksey Ousmanov besetzt und eine weitere kleine Rolle, die des alten Dieners, prunkt mit Boris Morozov aus dem großen Reservoir exzellenter russischer Bässe (Mel CD 1002102, 2 CD).

 

Von ebensolcher interpretatorischen Geschlossenheit ist die 1978 eingespielte Aufnahme von Peter Tschaikowskys überbordendem Vierakter Die Zauberin. Im Mittelpunkt des 1887 uraufgeführten historischen Bilderbogens steht die junge selbstbewusste Gastwirtin Nastasja, die unschuldig ein grausames Familiendrama auslöst, weil sie dem Begehren des Fürsten Nikita nicht nachgibt und sich stattdessen in seinen Sohn Yuri verliebt. Am Ende wird sie von Nikitas eifersüchtiger Gattin vergiftet, der Fürst tötet Yuri und verliert den Verstand. Die Oper changiert zwischen intimem Zwiegespräch und pompöser Massenszene, die der schlank und gleichzeitig expressiv dirigierende Gennady Provatorov zu einer fesselnden Einheit zu verschmelzen weiß. Unter seiner Leitung erlebt man ein packendes, in der Intensität nie nachlassendes musikalisches Drama, bei dem die Emotionen nur so lodern. Was natürlich auch an dem ausnahmslos vorzüglichen Ensemble, insbesondere den vier famosen Hauptrollensängern liegt. Rimma Glushkova verkörpert die Titelpartie hingebungsvoll und verströmt gleichmäßigen, warm timbrierten und leuchtkräftigen Sopranglanz. Den passenden dramatischen Kontrast liefert Lyudmila Simonova als Fürstin mit einem voluminösen, durchschlagsfähigen Mezzosopran und imposanten Höhen. Lev Kuznetsov steuert für den Yuri einen substanzreichen, emphatischen Tenor bei. Den Fürsten stattet Oleg Klyonov mit baritonaler Wucht und markanter Ausdruckskraft aus, die in der finalen Wahnsinnsszene ihren Höhepunkt findet. Trotz ihrer Länge versetzt Die Zauberin den Zuhörer über drei Stunden in Spannung, und das – ein weiteres Plus – in erstaunlich plastischer Tonqualität (Mel CD 10 01811, 3 CD).

 

Die modernste Oper, auch inhaltlich gesehen, ist Sergei Prokofievs 1940 uraufgeführter Fünfakter Semyon Kotko. Sie führt nicht in ferne Zeiten zurück, sondern in eine damals erst unmittelbare Vergangenheit, in ein ukrainisches Dorf am Ende des 1. Weltkriegs 1918. In fast 50 Szenen entfaltet sich ein ganzer Kosmos menschlicher Schicksale: im Zentrum steht der Soldat Semyon, der aus dem Krieg zurückkehrt und sich aufgrund der aufflackernden politischen Konflikte im Ort der Roten Armee anschließt; da ist der reaktionäre Bauer Tkachenko, der seine bolschewistischen Nachbarn an die Deutschen verrät, der oberste Dorfsowjet Remenjuk, der sich den Partisanen anschließt, oder die junge Ljubka, die nach der Ermordung ihres Verlobten wahnsinnig wird. Dieses realistische Gesellschaftspanorama hat Prokofiev zu einer wunderbaren Mischung aus melodischem Rezitativ, lyrischem Arioso und Volksmusik, Leitmotiven und filmmusikhaft illustrierender Orchesterbegleitung inspiriert. An der Spitze eines auch in den kleinsten Partien typengerecht besetzten Ensembles präsentiert sich ein wunderbarer Tenor: Nikolai Gres in der Titelpartie hat Belcantoschmelz in der Stimme, singt kernig und trotzdem elegant, ein wahrer vokaler Held. Man möchte alle anderen nennen: Lyudmila Gelovani, die seiner Braut Sofia einen hellen Sopran mit viel Liebreiz schenkt; die beiden weiteren Paare Tatiana Tugarinowa und Mikhail Kiselyov sowie Tamara Antipowa und Nikolai Timchenko, ein Quartett junger, gut geführter Stimmen mit singdarstellerischer Prägnanz; die schwarzen Bässe Nikolai Panchekhin als Verräter und Gennady Troitsky als Dorfsowjet, die im gleichen Stimmfach durch unterschiedliche Färbung divergente Charaktere erschaffen – bedrohlich der eine, bemitleidenswert in der Trauerklage der andere. Großes leistet auch der Dirigent Mikhail Zhukov, der den enormen Apparat an Solisten und Chor überlegen zusammenhält und eine Sogkraft entwickelt, der man sich nicht entziehen kann. Prallstes Musiktheater, das gerade im Moment durch die gegenwärtigen Verhältnisse in der Ukraine von beklemmender Aktualität ist, das verspricht diese Aufnahme aus dem Jahr 1960 in erheblichem Maße. Man freut sich auf weitere anstehende Neuheiten von Melodiya (Mel CD 10 02120, 3 CD). Karin Coper