Roussets neue Barockperle

 

Schier unüberschaubar ist die Anzahl der Einspielungen von Opern des französischen Barock mit dem Dirigenten Christophe Rousset und seinem Ensemble Les Talens Lyriques. Jetzt legt Aparté mit dieser Besetzung auf zwei CDs und mit einem informativ ausgestatteten Booklet (in Französisch und Englisch) eine im Juli 2019 in Paris entstandene Aufnahme von Lullys Tragédie en musique Isis vor (AP216).

Das Werk in einem Prolog und fünf Akten entstand nach Cadmus et Hermione, Alceste, Thésée und Atys als des Komponisten fünfte Tragédie in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Philippe Quinault und wurde 1677 im Château de Saint-Germain-en-Laye uraufgeführt. Einige Szenen von Lullys Komposition haben auch andere Tonsetzer beeinflusst, so der Chor der Bewohner der Eisregion im 4. Akt („L’hiver qui nous tormente“), welcher Purcell für seinen Chor der Cold People in King Arthur inspirierte, oder das Terzett der drei Parzen am Ende des 4. Aktes („Le fil de la vie“), das Rameau als Vorbild für die Furienszene in Hippolyte et Aricie diente.

Im Prologue versammeln sich die Götter Ruhm (La Renommée), Neptun und Apollo sowie die Musen, um Feierlichkeiten für König Louis XIV. vorzubereiten, welche von Frieden, Freude und Vergnügen handeln. Entsprechend heiter ist der musikalische Charakter zu Beginn. Mit der Ouverture sorgt Rousset für einen festlichen Einstieg mit gravitätischen Akkorden und der erste Chor wird von pompösen Bläserklängen begleitet. In den Préludes und Airs pour les muses sind aber auch filigrane Klanggeflechte von kammermusikalischer Delikatesse zu hören. Im 1. Akt, der mit einem getragenen Ritournelle beginnt, sieht man den unglücklichen Hierax (Aimery Lefèvre mit klangvollem Bariton), der glaubt, dass die ihm als Gattin versprochene Nymphe Io, Tochter des Flusses Inachus, ihn nicht mehr liebt. Ève-Maud Hubeaux, die im Juni 2019 im konzertanten Hamlet an der Deutschen Oper als Gertrude reüssiert hatte (und mit einem absolut ravissanten Abendkleid mit freiem Rücken sprachlos machte), singt sie mit energischer Tongebung und  substanzreichem Mezzo. Hierax’ Freund Pirante (Cyril Auvity mit feinem Tenor)  versucht ihn aufzumuntern, denn Göttin Juno sei auf seiner Seite. Io vertraut sich ihrer Vertrauten, der Nymphe Mycène (Bénedicte Tauran mit resoluter Strenge, später auch keifend als Junon), an, denn sie wurde vom Götterboten Mercure (charaktervoll-exaltiert: Fabien Hyon) informiert, dass Jupiter in sie verliebt sei. Dieser erscheint höchstpersönlich, um zu verkünden, dass er der Erde Segen und Frieden bringen wolle. Edwin Crossley-Mercer singt ihn mit gebührender Bass-Autorität, nachdem das Orchester seinen Auftritt mit einem majestätischen Marsch eingeleitet hatte.

Zu Beginn des 2. Aktes zeigt er sich Io in ganzer Pracht. Die Erde hat er in Wolken gehüllt, um sein Treffen mit ihr vor den Augen seiner eifersüchtigen Gattin Junon zu verbergen. Io teilt ihm mit, mit Hierax verlobt zu sein, und widersteht ihm. Iris, Götterbotin und Junons Vertraute (sinnlich: Ambroisine Bré), kommt mit dieser, während Jupiter Io folgt. Später bittet ihn Junon, ob sie eine Nymphe in ihren Hofstaat aufnehmen dürfe. Es ist Io, die von Hébé (Ambroisine Bré) und den Nymphen willkommen geheißen wird.

Im 3. Akt hat Junon Io, die der Göttin Eifersucht befürchtet, der Aufsicht von Argus (Philippe Estèphe mit sonorem Bassbariton) anvertraut, der selbst Hierax den Zutritt zu ihr verwehrt. Syrinx und Nymphen kommen mit dem als Schäfer verkleideten Mercure, der Argus verkündet, dass Pan (Edwin Crossley-Mercer) ein festliches Divertissement zu Ehren der Nymphe Syrinx (Ambroisine Bré) geben will. Pan erklärt dieser seine Liebe, doch sie zieht es vor, frei zu bleiben, und flieht vor ihm. Diese „Oper in der Oper“ mit einer Reihe von munteren Tänzen diente in Wahrheit dazu, Argus in den Schlaf zu wiegen und Io zu befreien. Hierax verhindert das, weckt Argus und beide rufen Junon um Hilfe an. Mercure tötet Argus mit seinem Zauberstab und  verwandelt Hierax in einen Raubvogel, der davon fliegt. Junon erscheint in ihrem Triumphwagen, erweckt Argus wieder zum Leben und verwandelt ihn in einen Pfau. Aus der Tiefe der Hölle beruft sie eine Furie, Io zu bestrafen.

Erstarrt in der Kälte, klagen die Menschen zu Beginn des 4. Aktes („L’hiver qui nous tormente“). Die Furie (Cyril Auvity) weidet sich an ihrem Leid, wandelt die Eiseskälte gar in Gluthitze. An Ambossen arbeiten Schmiede, inmitten der Flammen erscheint Io, versucht vergeblich, die Furie zu bewegen, erklimmt einen Felsen und stürzt sich in den See. Sie bittet die Parzen mit ihrem Gefolge – Krieg, Gewalt, Krankheit, Feuer, Flut –, die sich in einem stürmischen Chor vereinen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch diese verfügen, dass einzig Junon darüber entscheiden könne.

Io taucht aus dem See auf, bittet Jupiter um das Ende ihrer Qualen („Terminez mes tourments“ als schmerzliche Klage). Bewegt von ihrem Los, steigt er vom Himmel herab, muss ihr aber verkünden, dass er sich Junons Willen nicht widersetzen könne. Die Göttin erscheint und verlangt von Jupiter den Verzicht auf Io. Er stimmt ein und Junon sendet die Furie zurück in die Hölle. Io ist erlöst von ihren Prüfungen und wird unter dem Namen Isis in den Rang der Unsterblichen erhoben. Die Götter steigen herab und nehmen sie auf („Venez, divinité nouvelle“), während das Volk der Ägypter ihr einen Altar baut und sie als Göttin anerkennt. Mit zwei festlichen Airs pour les Égyptiens und dem feierlichen Chor „Isis est immortelle“ endet das Werk als eine weitere Perle in Roussets barocker Sammlung. Bernd Hoppe