Prärevolutionäre Galanterie

 

Ein paar hundert Meter von dem kleinen Disneyland-Weiler, den sich Marie Antoinette im Park von Versailles unweit des Petit Trianon als Rückzugsort anlegen ließ, hat Antoine Fontane das Hameau de la Reine wieder auferstehen lassen: auf die Bühne der Opéra Royal baute er mit dem Kulissenzauber des späten 18. Jahrhunderts eine Dorfidylle aus Leinwand und Pappe mit Wäscherinnen, tanzenden und singenden Bauern, unter denen in der von Marshall Pynkoski original im Stil des ausgehenden 18 Jahrhunderts nachempfundenen Inszenierung in jedem Moment Marie Antoinette auftauchen könnte, die an solchen Spielereien ihren Spaß hatte. Ein Zurück zur Natur, wie es Rousseau propagierte.

Zu den Lieblingskomponistin der Königin gehörte der 1741 in Lüttich geborene Komponist mit den drei Vornamen André-Ernest-Modeste Grétry, der unbeschadet aus dem Streit der Piccinisten und Gluckisten hervorging und die Französische Revolution besser überstehen sollte als die Königin. Sein Stern war zwar am Sinken und er zog sich in die Eremitage zurück, die einst Rousseau gehört hatte, wurde aber weiterhin bewundert und gehrt, darunter mit der Aufstellung seiner Statue 1803 in der Opéra-Comique und schließlich 1813 mit einem pompösen offiziellen Begräbnis. Vor allem aber blieben seine Werke auch im 19. Jahrhundert Stützen des Repertoires, etwa Aucassin et Nicolette, Lucile, Zémire dt Azor, Raoul Barbe-Bleue, Pierre le Grand mit dem Text von Bouilly.

Einer seiner größten Erfolge, die dreiaktige Opéra-comique Richard Coeur de Lion mit dem originellen Text von Michel-Jean Sedaine, wurde am 21. Oktober 1784 an der Opéra-Comique uraufgeführt, ein halbes Jahr nachdem Beaumarchais Le mariage de Figaro in Paris herausgebracht hatte. Grétry behandelt die Geschichte des englischen Richard I., genannt Löwenherz, der auf dem Rückzug vom dritten Kreuzzug gefangengenommen und – entgegen der historischen Fakten, nämlich der Zahlung eines immensen Lösegeldes – von seinem treuen Troubadour Blondel befreit wurde. Gräfin Marguerite schließt sich Blondels Befreiung seines Herrn an, der auf einer Burg in der Nähe von Linz festgehalten wird. Deren Gouverneur Florestan stellt Laurette, der Tochter des Bauern Williams, nach. Das Happy End verbindet, nachdem Marguerites Truppen die Burg stürmten, Florestan und Laurette sowie Marguerite und Richard. Blondel singt dazu: „Es ist der König, ja, er selbst, der an diesem Ort erscheint! Ach! Welch Glück, welch seliger Tag.“

Es ist eine royalistische Oper, wenngleich in Grétrys Ouvertüre eine Energie wie in den bald folgenden Befreiungs- und Revolutionsopern lodert, was Hervé Niquet, Spiritus Recto dieses royalen Opernvergnügens im Oktober 2019 in Versailles, durch den nervigen Zugriff und die auch in den Tanzszenen und Orchesterzwischenspielen sowie der Schlachtszene am Ende mitreißende Alertheit unterstreicht, mit denen er Le Concert Spiritual spielen lässt. Die Revolution ist noch fern, da bereits während der Ouvertüre die „Bauern in Jacken und Arbeitskleidung mit Feldgerät auf den Schultern“ vorbeigehen, so die Bühnenanweisung, und ihren Chor „Chantons, chantons, célébrons ce bon ménage“ auf den alten Mathurin anstimmen. Blondels fast schon leitmotivisch die kurze Oper durchziehende Erkennungsmelodie „O Richard, o mon Roi“ diente während der Revolution als Lied der Royalisten. Mehr noch hat ein Lied, das jedem Opernkenner vertraut ist, die Jahrhunderte überdauert, die Air der Laurette, die über Florestans Brief aus der Fassung gerät: „Je crains de lui parler la nuit“ und die Tschaikowsky in Pique Dame der alten Gräfin bei ihren Erinnerungen an die gute alte Zeit in Paris wörtlich in den Mund legte.

Die Aufnahme mit dem Gütesiegel von Château de Versailles vereint in einer Pappbox neben einem ausgezeichneten Textheft, in dem allenfalls das Fehlen eines richtigen Personenverzeichnisses stören könnte, CD (73 Minuten) und DVD (87 Minuten), wobei man unbedingt die DVD anschauen sollte (CV5028), nicht etwa, weil hier der Tenor Rémy Mathieu den Blondel singt – Enguerrand de Hys singt ihn auf der CD – sondern weil man sich diese den Geist der Entstehung atmende und dennoch spritzige Inszenierung, die sorgfältigen Kostüme (Camille Assal), die sehr hübschen Tanz- und Fechtszenen (Jeannette Lajeunesse Zingg) und die ebenso hübsche Inszenierung nicht entgehen lassen sollte. Die Sänger sind alle ausgezeichnet, vor allem wissen sie im charmanten, der Tradition der Comédie mêlée d’ariettes entsprechenden Wechsel zwischen Gesangs- und Sprechszenen, in die auch der Chor eingreift, was sie singen und sprechen: darunter Melody Louledjian als Laurette, Marie Perbost als Comtesse, der Tenor Reinoud Van Mechelen mit der feinen Arie „Si l’univers entier am’oublie“ als Richard Löwenherz, der Bariton Jean-Gabriel Saint-Martin als Florestan und der Bass Geoffroy Buffière als Williams. Das Textheft ergänzt dazu perfekt: Grétry stellte einen Gesangsstil, der sich aus den authentischen Akzenten der französischen Sprache ableitet, eine feine melodische Ader und hohe Ansprüche ab die Libretti, die dem vom Publikum geliebten Erzähldiskurs entgegenkommen, in den Vordergrund seines Berufs und schuf ein Werk, dessen galanter, sensibler Stil lyrische Höhenflüge ermöglicht…. Stark ausgeprägte Figuren, die Betonung überschäumender Liebesgefühle, familiäre Einheit überschäumender in der Not und Patriotismus, der seiner Zeit voraus war, stehen in perfekter Harmonie mit der französischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.“ Rolf Fath