Mau und müde

 

Wenn man die Neueinspielung des Labels Dynamic der in Neapel 1788 uraufgeführten Oper Fedra von Giovanni Paisiello (1740-1816) anhört, erhält man einen akustischen Eindruck, als ob bei der Live-Aufnahme (mit Applaus und Bühnengeräuschen) aus dem Jahr 2016 im Teatro Massimo Bellini in Catania nicht alle Mikrofone angeschlossen waren – der Klang ist mau und dumpf. Die Tontechnik bereitet von Anfang wenig Freude, die Sänger auch kaum. Doch der Reihe nach. In der griechischen Mythologie ist Phädra die Gattin von Theseus und verliebt sich in dessen Sohn aus erster Ehe Hippolytos. Da ihr Stiefsohn sie zurückweist, klagt die rachsüchtige Phädra ihn bei ihrem Gatten an. Der eifersüchtige Theseus beschwört seinen Vater Neptun, der seinen Enkel durch ein Meeresungeheuer töten läßt. Phädra gesteht ihre Lüge und begeht Selbstmord. Euripides‘ Tragödie wurde von Jean Racine als Versdrama bearbeitet, seine Phèdre (1677) in Paris gespielt. Rameaus Hippolyte et Aricie (1733) verwandelte den Stoff meisterhaft für die Oper, Johann Simon Mayr komponierte Fedra 1820 in seiner vorletzten Oper, Ildebrando Pizzetti trug sie ins 20. Jahrhundert (1908/1915), Sylvano Bussotti vertonte sie 1988.

Welche Aspekte der Geschichte das Libretto von Mario Salvioni bei Paisiello erzählt – die unglückliche Liebe und Seelennot Phädras, ihre Eifersucht und Rache oder die Liebe Hippolytos zu Aricia – bleibt vorerst unklar, das Beiheft erläutert die Handlung nur in gröbsten Zügen, ein Libretto ist weder vorhanden noch wird darauf verwiesen. Und auch musikalisch ist Paisiellos Werk alles andere als lautmalerisch oder unmittelbar, ganz im Gegenteil: seit Rameaus Meisterwerk ist ein weiter Weg zurückgelegt worden. Wer einfach mal in die Ouvertüre oder eine Arie hört, könnte vermuten, in einer heiteren Oper gelandet zu sein, oft bekommt man den Eindruck, ein Drama im Gewand einer Buffa präsentiert zu bekommen. Berührungspunkte der Musik mit der Handlung kann man nur gelegentlich ausmachen. Überwiegend gibt es Dacapo-Arien, das Paar Ippolito-Aricia ist mit Koloraturen versehen und stellt Affekte dar, bei Fedra und Teseo ist der dramatische Ausdruck bereits weiter entwickelt, Fedras „Svegliati all’ire omai“ ist einteilig, Theseus „Lascia mai ch’io respiri“ am Ende des ersten Aktes ist eine der stärksten Stellen, in der Paisiello seine etwas substanzlos klingende Geschichte musikalisch eindrucksvoll verdichtet. Und auch das einzige Duett (Ippolito-Aricia) ist mehr als nur routinierte Gebrauchsmusik, es wird unterbrochen durch den Ausbruch eines Sturms und das Erscheinen des Seemonsters.

Die knapp unter zwei Stunden spielende Oper ist für Chor (der sechs Szenen hat) und neun Sänger, die am Tage der Aufnahme in müder Tagesform erscheinen und sich teilweise hörbar steigern, manche unschöne Momente und schrille Stimmfarben beeinträchtigen das Zuhören. Elf Arien gibt es, die Hauptrolle mit vier Arien hat Aricia, die von Anna Maria Dell’Oste gesungen wird, deren Sopran für die Rolle ein wenig zu reif klingt, Caterina Poggini (Ippolito) singt zwei Arien, nicht jede Höhe ist unangestrengt, beider Duett gehört musikalisch dennoch zu den spannenden Momenten. Ebenfalls zwei Arien hat Raffaella Milanesi als Fedra, sie und Tenor Artavazd Sargsyan, der als Teseo eine Arie singt, bemühen sich um stimmliche Dramatik. Eine Arie haben auch Piera Bivona (Learco) und Esther Andaloro (Diana) – beide nutzen die Chance am Aufnahmetag nicht, die Nebenrollen sind mit Sonia Fortunato (Tisifone), Salvatore D’Agata (Mercurio) und Giuseppe Lo Turco (Plutone) eher matt besetzt. Das Orchester des Teatro Massimo Bellini di Catania unter  Dirigent Jérôme Correas spielt ordentlich, einen lebendigen, unmittelbaren oder überraschenden Paisiello-Klang findet man nur phasenweise vor. „World Premiere Recording“ steht auf der Titelseite des Beihefts – nur wieso? Es gibt eine  Live-Aufnahme von Fedra aus Mailand (1958, Lucille Udovich, Angelica Tuccari, Renata Mattioli, Ortensia Beggiato, Orchestra Sinfonica di Milano della RAI / Angelo Questa/ Andromeda), die heute noch erhältlich ist. Alles in allem eine lässliche und wenig liebevoll gemachte Veröffentlichung, von der weder Künstler noch Zuhörer profitieren. (2 CDs, Dynamic, CDS 7750/1-2) Marcus Budwitius