Agostino Steffanis „Niobe“

Nun ist sie also endlich da – die langerwartete Gesamtaufnahme der Niobe von Agostino Steffani (1654 – 1728), mit der in Bremen 2013 Staraltist Philippe Jaroussky neben der kanadischen Sopranistin Karina Gauvin Furore  gemacht hatte. Der Hype um Cecilia Bartolis Steffani-CD bei Decca machte vergessen, dass zumindest für Barockfans Agostino Steffani nun wirklich kein Unbekannter ist, obwohl auch die Erato das glauben machen möchte. Al contrario! Schon die Electrola brachte in den Sechzigern Steffani-Opern-Ausschnitte auf einer Hamburg-Barock-LP heraus (Tassilone u. a.). Der von mir stets bewunderte Pionier Newell Jenkins gab die Niobe bereits 1978 in Castelfranco/Veneto konzertant und darauf in New York mit sehr ordentlichen Solisten (nebst Counter). Und die italienische Aufführung kam sogar offiziell als LPs (im Vertrieb der Angelicum) heraus (und schmückte lange meine Sammlung). Also ist die vorliegende Erato-Neuaufnahme nur (aber immerhin) eine Studio-Erstaufnahme und keine Welt-Erst-Einspielung. Zudem gab´s immer Steffani-Aufnahmen und -Aufführungen, so neben Geistlichem unter Harnoncourt und Jenkins den Alarico 2003 (Concerto 2001), den Enrico Leone (Calig 1986), die Niobe abgesehen von Jenkins auch 2010 unter Thomas Hengelbrock in Schwetzingen 2008 und  London 2011, den Orlando Generoso in Hannover (2018) und natürlich den Tassilone bereits 1986 unter Günther Kehr beim swr und unter Newell Jenkins in Castelfranco 1965 mit dem amerikanischen Counter Angelo Messana. Sicher habe ich noch einige Titel vergessen, aber in summa ist dies doch eine stattliche Reihe umgänglicher Bemühungen um den italienischen Komponisten und Diplomaten, der zudem auch der Lehrer von Händel zeitweise war. Das Rad wird eben nicht neu erfunden, auch wenn die Plattenlabels das gerne so hätten und in diesem Fall die Erato die Neuaufnahme unter Paul O´Dette und Steven Stubbs so propagiert. Herr Hengelbrock hätte das sicher auch gerne aufgenommen…

Die 1688 in München erstaufgeführte Oper ist eine repäsentative, mit allen Zutaten einer barocken Grand-Opéra, eben mit dem Instrumentarium der Pracht, mit Trompeten und barocken Vorgaben. Auf der Bühne muss das außerordentlich prächtig gewesen sein, und Boston Baroque ist in seinem Bemühen um eine üppige visuelle Darbietung im barocken Stil auf den beigefügten Fotos zu sehen, wo Erato-Star Philippe Jaroussky und Jesse Blumberg in kostbaren Kostümen zu sehen sind und sich José Lemos kokett als fächerschwenkende Nerea gibt. Nur von Karine Gauvin, der eigentlichen Protagonistin, findet sich kein Szenenfoto. In einer auf zwei Stunden gekürzten TV-Fassung aus eben Bremen singt sie konzertant neben Jaroussky und natürlich in dieser Aufnahme. Ein Blick ins Kleingedruckte belehrt, dass die Szenen-Fotos von 2011 und aus der in Boston gelaufenen szenischen Realisierung stammen, wo Amanda Forsythe die Titelrolle sang, auf den CDs nun aber zur Dienerin Manto heruntergestuft wird (dazu der Bericht in der New York Times von 2011).

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins/Foto OBA

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins/Foto OBA

Wie auch immer, die Studio-Ersteinspielung von 2013 aus Bremen vom dortigen Rundfunk im Rahmen des Musikfestes Bremen ist ein Meilenstein der Barock- und Steffani-Rezeption, kein Zweifel. Das erprobte Boston Early Music Festival Orchestra unter den Genannten klingt ein wenig unsinnlich, kleinstimmig und alert, aber meine Einschränkungen betreffen die Dynamiken und das Tempo. Irgendwie scheint mir das hier ein Rückfall in alte Zeiten zu sein, wo Gemächlichkeit regierte und die Rezitive sich doch auch manchmal recht quälend ziehen. „Action, Jungs!“ möchte man rufen, wenn sie die wirklich sensationellen Solisten durch ihre Mitteilungen arbeiten und eigentlich wie in einem Mikrokosmos nur mit sich beschäftigt sind (liegt das an den Aufnahmebedingungen?). Es scheint eine mangelnde Kommunikation zwischen  den Akteuren zu herrschen, kein auf einander Agieren. Die Nummer gehen ab und nichts wirklich Aufregendes passiert. Dabei ist hier doch die Hölle los: Die hochmütige Königin Niobe legt sich gleich mit drei Göttern an. Diana, Apoll und ihre Mutter Latona müssen erleben, dass sich die Sterbliche über sie setzt, nur weil sie meint, von einem Gott beglückt worden zu sein. Was sich auch noch als Irrtum erweist. Absolut  sauer richten die drei Götter also ein Massaker unter den Kindern der Niobe an, deren Ehemann Anfione sich darauf ersticht, bevor Niobe selbst vor Schmerz zu Stein erstarrt. Das alles auf drei langen CDs, deren letzte eigentlich per azione die spannendste ist, weil sich dort endlich mal Drama einstellt. Aber bis dahin hat´s eine lange Strecke voller vokaler Einzelschönheiten (und dabei spricht Paul O´Dette in dem informativen Booklet-Artikel zur Fassung von den Kürzungen, die schon Steffani vornahm, weil auch er die Oper 1688 zu lang fand…).

Philippe jaroussky als Anfione beim Boston Early Music festival 2001/ Foto Constantini/Erato

Philippe Jaroussky als Anfione beim Boston Early Music Festival 2011/ Foto Constantini/Erato

Mir wollen die Mitschnitte unter Hengelbrock aus London 2010 und Schwetzingen 2008 lebendiger, bewegter, akitonsreicher erscheinen, eben weil sie Live-Mitschnitte sind, was auch Barockopern gut tut. Diese Aufnahme von Radio Bremen ist mir zu sehr „Studio“ und „achtziger Jahre“, sorry. Vielleicht ist Boston Baroque da etwas stehen geblieben. Die Ariadne von Conradi von O´Dette & Stubbs aus Boston 2005/cpo litt unter demselben Syndrom der Blutarmut. Zumindest gibt’s live unter Hengelbrock und auch bei der Pionieraufnahme von Jenkins 1978 mehr Schmiss, mehr an Miteinander. Wenngleich hier bei Erato wirklich superb gesungen wird – ohne Ausnahme!

Als Niobe übertrifft sich die stets wunderbare Karina Gauvin selbst – so toll, so ausdrucksvoll, so Roeschmann-nahe im Timbre habe ich sie noch nie gehört, sie reift zu einer wirklich großen Ausdruckssängerin heran, dabei beherrscht ihre hochindividuelle Stimme die vielen kleinen Nuancen dieser Partie und breitet vor uns eine Seelenskala von sanft bis stürmisch, von oberflächlich-verliebt bis groß-klagend aus, absolut köstlich! Ehemann Anfione ist mit Philippe Jaroussky ebenfalls superb besetzt, die Stimme hochindividuell, im Ausdruck versiert und dabei so klangschön. Auch die Übrigen sind wirklich in dieser Spitzenklasse: Amanda Forythe nun als Manto, Christian Immler als Seher Tiresia. Dazu kommen Aaron Shehan, Terry Wey, Jesse Blumberg, Colin Balzer und José Lemos als komische Nerea. In summa also haben wir eine wirklich prachtvoll gesungene Barock-Aufnahme vor uns, die erst im letzten Drittel an Fahrt gewinnt und die mit einem fulminanten Finale ausklingt: Karina Gauvins Klage über ihre toten Kinder ist die lange Vorlaufstrecke allemal wert, und Jaroussky singt zudem at his best. Ausstattung und Präsentation sind tadellos und informativ. Trotz meiner eingehenden Einschränkungen sehr habenswert – wenngleich die zweistündige Konzertversion von Radio-Bremen es vielleicht auch getan hätte, oder… Geerd Heinsen

Agostino Steffani: Niobe, Regina di Tebe, Dramma per musica in tre atti mit Philippe Jaroussky, Karina Gauvin, Amanda Forsythe, Christian Immler, Aaron Sheehan, Terry Wey, Jesse Blumberg, Colin Balzer, José Lemos; Boston Early Music Festival Orchestra; Paul O’Dette & Stephen Stubbs;  3 CDs Erato 0825646343546