Interessant, aber warum bei OR?

 

Eigentlich ist Puccinis Opern-Erstling Le Villi  (uraufgeführt 1884 in Mailand als einaktige Fassung unter dem Titel Le Willis, im selben Jahr in Turin als Le Villi in zweiaktiger Version) keine Rarität auf dem Plattenmarkt. Referenzaufnahme ist immer noch die Einspielung unter Lorin Maazel mit Renata Scotto als Anna. Die letzte Ausgabe mit Melanie Diener unter Marco Guidarini bei naive stammt aus dem Jahre 2003. Aber all diese Dokumente bedienten die spätere Fassung, von ersterer existiert lediglich eine Ausgabe bei Fonit Cetra unter Arturo Basile von 1954 mit Elisabetta Fusco.

Die Neuveröffentlichung von Opera Rara wurde im November 2018 in London eingespielt und erweckt besonderes Interesse durch die Wahl der Urfassung und die verwendete neue Ricordi-Edition (ORC59). Im Anhang finden sich zwei Arien aus der späteren Fassung, darunter Annas Hit „Se come voi piccina io fossi“..

Mark Elder, Artistic Director von Opera Rara, dirigiert das London Philharmonic Orchestra und erfasst die Stimmung des Werkes sehr überzeugend. Schon das kurze Preludio ist eine atmosphärische Studie von zauberischen Klängen, die dann in den bewegten Chor „Evviva i fidanzati“ übergehen. Der Opera Rara Chorus (Pieter Schoeman) singt ihn mit vitalem Schwung. Ausgelassen wird Annas Verlobung mit Roberto gefeiert. Beide vereinen ihre Stimmen im Duett „Non esser, Anna mia“, in welchem er sie in ihrer Melancholie zu trösten sucht, muss er doch wegen einer Reise nach Mainz den Schwarzwald verlassen. Mit ihrem melancholisch umflorten Sopran ist Ermonela Jaho eine ausgezeichnete Wahl für die Partie. Der armenische Tenor Arsen Soghomonyan lässt als Roberto emphatische Tenöre hören, die sich leidenschaftlich aufschwingen

Brian Mulligan ist Guglielmo Gulf, Annas Vater, der mit der Preghiera „Angiol di Dio“ das Paar segnet. Sein Bariton klingt warmherzig und fürsorglich. Diese Szene beendet den ersten Teil als großes, rauschhaftes Ensemble der drei Solisten und des Chores. Danach folgt ein dramatisches Intermezzo sinfonico, von Elder mit spannender Steigerung geformt, welches die Geschehnisse in Mainz schildert, wo Roberto von einer Kurtisane verführt wurde und Anna vergessen hat. Aus Gram über seine Untreue stirbt sie und wird zu einer jener Willis, die des Nachts als zauberische Geister die Herzensbrecher zu Tode tanzen. (In der späteren Fassung übernimmt diese Beschreibung ein Erzähler.)

Der zweite Teil der Oper beginnt mit Guglielmos Klage über den Tod seiner Tochter und das Verlangen nach Rache. Die Stimme des Baritons klingt hier sehr tenoral, doch mit gebührend schmerzlichem Ausdruck. Roberto, von Reue geplagt, ist heimgekehrt. Anna aber ist nun zur Rächerin geworden. In der Schluss-Szene „Tu dell’ infanzia mia“ klingt sie anfangs noch einmal ganz zart und zerbrechlich, weil sie sich voller Trauer an den Beginn der Liebe zu Roberto erinnert. Dann aber überwiegen der Schmerz und das Leid wegen seines Betrugs. Sie zwingt ihn zu tanzen bis zum tödlichen Zusammenbruch – ihr „Sei mio!“ ist ein triumphaler Ausbruch, während Guglielmo Gottes Gerechtigkeit preist.

Im Anhang erfreut Jaho mit Annas Arie „Se come voi piccina io fossi“, fein gezeichnet und mit blühender Lyrik ausgestattet. Der Tenor kann in seiner großen Scena drammatica e RomanzaEcco la casa/Torna ai felici dì“ mit wehmütiger Empathie berühren, aber auch mit schwelgerischen Tönen und potenter Höhe prunken. Bernd Hoppe

 

(Aber man fragt sich als Opera-Rara-Fan angesichts der bisherigen Veröffentlichungen doch verwirrt, in wieweit diese der eigentlichen Belcanto-Strategie des Labels entspricht. OR hat sich einen Namen für Donizetti, Rossini und anderes mehr aus dere ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht. Doubletten dieser Art lösen ein gewisses Rätseln über die Ausrichtung der Firma aus… Wird da vielleicht ein potenter Sponsor bedient? Das wäre schade, aber der Verdacht drängte sich bereits bei ein  anderen „Ausreißern“ des Repertoires auf. Zumal diese Willis ja keine Plattenpremiere sind. G. H.)