„Gott, ich lebe noch!“

 

Allzu viele Einspielungen von Lélio, ou Le Retour à la vie, dem so bezeichneten Lyrischen Monodrame in sechs Teilen für Sprecher, Solisten, Chor und Orchester von Hector Berlioz, gibt es mitnichten. Orfeo schafft dem mit einer Neuerscheinung nun Abhilfe (Orfeo C210071). Es handelt sich bei Lélio, dem „Seltsamste[n], was Berlioz je komponierte“ (Dietmar Holland), im Grunde genommen um die Fortsetzung der ungleich bekannteren Symphonie fantastique, der wohl bedeutendsten französischen Sinfonie des 19. Jahrhunderts. Anders als diese ist Lélio kein homogenes Werk. Vielmehr werden Lieder, Chöre und Instrumentalstücke zusammengenommen und durch von einem Erzähler vorgetragene Schauspielmonologe zusammengehalten. Musikalische Zitate aus der Symphonie fantastique gibt es bereits in der ersten Ballade Le pêcheur nach Goethe. Vor allem aber dreht es sich um Shakespeare, Ausdruck der Begeisterung Berlioz‘ für die irische Shakespeare-Schauspielerin Harriet Smithson, seine spätere erste Ehefrau. Bereits im düsteren Chœur d’ombres ein Bezug zum Hamlet. Wiederum greift Berlioz ein früheres eigenes Werk, die Kantate La mort de Cléopâtre, auf, mit welcher er (erfolglos) den Prix de Rome erringen wollte. Das wiederum solistische und idealistische Chanson de brigands handelt von den Freiheiten kalabrischer Räuberbanden und ist in seiner lebensbejahenden Grundstimmung völlig anderer Natur. Im berückenden Chant de bonheur sowie im orchestralen, geradezu ätherischen La harpe éolienne zitiert der Komponist seine andere Rompreis-Kantate La mort d’Orphée. Mit der Fantaisie sur La Tempête de Shakespeare ist schließlich als krönender Abschluss eine viertelstündige Tondichtung über Shakespeares The Tempest eingebaut, die eigentlich für sich allein stehen und unabhängig vom Rest des Werkes in Konzertprogrammen berücksichtigt werden könnte. In dieser stellenweise wirklich stürmischen Fantaisie nähert sich Berlioz auch am ehesten seiner Fantastischen Sinfonie an, selbst wenn vokal vom Chor beigesteuert wird.

Für die künstlerische Ausführung ist verantwortlich das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der begnadeten Leitung von Michael Gielen, der für den SWR übrigens auch die Symphonie fantastique eingespielt hat (Michael Gielen Edition Vol. 4). Bestens disponiert die Wiener Singakademie wie auch die Solisten Herbert Lippert (Tenor) und Geert Smits (Bariton). Der markante Joachim Bißmeier beeindruckt im hier deutschsprachigen Part des Sprechers. Klanglich gibt es an diesem ORF-Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 7. Dezember 2000 nichts auszusetzen – sieht man von gelegentlichen Publikumsgeräuschen ab. Eine echte Bereicherung der Diskographie und ein weiteres Plädoyer für Lélio. Höchstwertung in allen Belangen. Orfeo-typisch vorbildlich das umfangreiche Beiheft (Englisch und Deutsch) mit den kompletten Texten im Original sowie mit Übersetzung. Daniel Hauser