Vergessene

 

Hans Rott (1858-1884), Zeitgenosse und Bekannter von Anton Bruckner, Gustav Mahler und Hugo Wolf, ging gerade wegen seines tragischen kurzen Lebens in die Musikgeschichte ein. Die Uraufführung seiner ersten Sinfonie im Jahre 1989, über ein Jahrhundert nach Rotts Tod, war eine kleine Sensation und führte zu einer gewissen Rott-Renaissance. Zumindest dieses großangelegte Orchesterwerk wurde seither einige Male eingespielt, so unter anderem von Leif Segerstam und Paavo Järvi. Wirklich ins Konzertrepertoire gelangte die durchaus für sich einnehmende Sinfonie freilich nicht.

Das Label Capriccio wagt sich nun an die erste Kompletteinspielung der sämtlichen Orchesterwerke von Rott, die mit Vol. 1 ihren Anfang nimmt (Capriccio C5408). Bestritten wird dieses ambitionierte Projekt vom Gürzenich-Orchester Köln unter dem britischen Dirigenten Christopher Ward, derzeit Generalmusikdirektor am Theater Aachen. Es sind vornehmlich Frühwerke, denen sich diese Erstveröffentlichung der Reihe widmet, auch wenn sich bei einem Komponisten, der gerade etwa fünf Jahre wirklich komponierte, eine solche Einteilung nur mit Vorbehalten vornehmen lässt. Die Hamlet-Ouvertüre von 1876 – die einzige Weltersteinspielung auf dieser CD, rekonstruiert von Johannes Volker Schmidt – verweist auf den starken Einfluss Richard Wagners, folgt aber wohl auch dem Vorbild Liszts, der eine gleichnamige Tondichtung bereits 1858 schrieb. Rott stand tatsächlich vielmehr im Lager Wagners denn im Umfeld von Johannes Brahms, der seinerzeit sinfonisch das Maß aller Dinge darstellte in Wien, Rotts Heimatstadt. Bereits im Vorspiel zu Julius Cäsar, im Folgejahr entstanden und wohl wiederum mit Shakespeare-Bezug, zeigt sich trotz fragloser wagnerischer Anklänge ein eigener Personalstil. Bei beiden Werken ist unklar, ob sie als eigenständige Konzertouvertüren, als Auftakte zu einer Bühnenmusik oder gar als Operneinleitungen gedacht waren. Die nur teilweise erhalten gebliebenen beiden Suiten B-Dur (1877) und E-Dur (1878) – Aufgabenstellungen während Rotts Zeit am Wiener Konservatorium – wirken im direkten Vergleich deutlich leichtgewichtiger und weniger ambitioniert. Das bedeutendste auf der dieser Veröffentlichung enthaltene Stück ist zweifellos das knapp 15-minütige Pastorale Vorspiel F-Dur, welches 1880 entstand, im letzten Jahr vor des Kompinisten nervlichem Zusammenbruch, der mit seiner Einweisung in die Psychiatrie enden sollte. Hier deutet sich das volle Potential Rotts an, weist das Opus doch bereits in die musikalische Zukunft, ansatzweise an Mahler oder gar Richard Strauss erinnernd. Daniel Hauser

 

Zu den zahlreichen in Vergessenheit geratenen, zu Lebzeiten aber höchst erfolgreichen Komponisten der Spätromantik wird man den Wiener Julius Bittner (1874-1939) zählen müssen. Selbst Kennern der klassischen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürfte er kaum mehr etwas sagen. Tatsächlich war Bittner in erster Linie Jurist, bis 1920 als Richter in Wolkersdorf im niederösterreichischen Weinviertel tätig, anschließend bis 1922 als Beamter im Justizministerium. Erst danach widmete er sich ausschließlich der Komposition. Am bekanntesten sind wohl noch seine Opern Der Musikant,  Der Bergsee (1911) sowie Das höllisch Gold (1916; daraus gibt es eine eindrucksvoll gesungene Arie von Margarete Klose/ G. H.), wobei es von beiden keine moderne Einspielung gibt (von ersterer aber zumindest eine Gesamtaufnahme des Österreichischen Rundfunks aus den frühen 1950er Jahren, die Lust auf mehr macht). Dass sich das britische Label Toccata Classics nun Bittners Schaffen annimmt, ist in jedem Falle zu begrüßen. Offenbar ist eine Serie seiner Orchestermusik geplant, wie diese als Vol. 1 bezeichnete und nun vorgelegte Toccata-CD nahelegt (TOCC 0500), die Weltersteinspielungen seiner Sinfonischen Dichtung Vaterland (1915) sowie seiner Sinfonie Nr. 1 in f-Moll (1923) beinhaltet. Der sinfonische Bittner war bisher gänzlich unbekannt – und wie sich nun herausstellt: völlig zu Unrecht.

Es ist beinahe ein Armutszeugnis für die österreichische Orchesterlandschaft, dass ein Orchester und ein Dirigent aus Russland nun in die Bresche springen: Das Sibirische Sinfonieorchester ist wahrlich so ziemlich das letzte, an welches man in diesem Zusammenhang denken würde, und doch meistert es seine Aufgabe mit Bravour. Dies mag an der begnadeten Leitung des Dirigenten Dmitry Vasiliev liegen, der mit demselben Klangkörper bereits einige hochinteressante Einspielungen für dasselbe Label vorlegte (darunter Weltpremieren von Woldemar Bargiel).

Die fast zwanzigminütige Tondichtung Vaterland, im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges entstanden, zeigt sich als ernstzunehmender Gattungsvertreter in der Liszt-Nachfolge und mit deutlichen Anklängen an Wagner und auch Bruckner. Die patriotische Grundstimmung, die dieses Werk auszeichnet, ist freilich im zeitlichen Kontext zu betrachten und nicht unähnlich der beinahe zeitgleich entstandenen Ouvertüre Aus ernster Zeit seines Landsmannes Felix Weingartner. Sein Österreich-Patriotismus verbunden mit seinem Katholizismus sollte Bittner Jahre später nach Hitlers Machtergreifung noch gewisse Probleme bereiten. Tatsächlich ist so etwas wie religiöse Konnotation in dieser Sinfonischen Dichtung spürbar, die apotheotisch mit dem von der Orgel intonierten Choral Ein‘ feste Burg ist unser Gott siegessicher ausklingt.

Besonders die erste Sinfonie, entstanden kurz nach seiner Pensionierung, verdeutlicht sodann, dass Bittner weit mehr war als bloß ein primärer Opernkomponist. Es ist erstaunlich, wie zahlreich die Anklänge an so unterschiedliche Komponisten wie Brahms, Bruckner, Mahler und Franz Schmidt sind, ohne dass man das Gefühl hätte, hier eine plumpe Kopie zu hören; teils an die Grenzen der Tonalität gehend, diese aber nie überschreitend. Ist der Kopfsatz wie eine Hommage an den Brahms’schen Klassizismus, gemahnt der langsame, tief vergeistigte zweite Satz mit seinem kathedralartigen Charakter deutlich an den Meister von Sankt Florian. Im Scherzo tun sich starke Assoziationen zu Mahler auf – die Grundstimmung wechselt gleichsam abrupt ins Weltliche. Dies nimmt im explosiven Finalsatz noch zu, in welchem sich marschartig-militärische Abschnitte mit lyrischen Passagen abwechseln. Einem Feuerwerk gleich wird die Sinfonie fulminant beschlossen.

Der Klang der Einspielungen aus der Philharmonie in Omsk, Sibirien, ist ausgezeichnet eingefangen, geradezu spektakulär, so dass man auch den Tontechnikern allen Respekt aussprechen darf. In summa eine höchst willkommene Bereicherung der Diskographie um randständiges Repertoire. Man darf auf eine baldige Fortsetzung dieser neuen Reihe hoffen, gibt es orchestral doch noch einiges aus Bittners Œuvre zu heben, darunter seine zweite Sinfonie und Schauspielmusiken zu Shakespeare-Dramen (Aufnahme 2018). Daniel Hauser

 

Wer weiß wirklich etwas über den Brahms-Freund Ignaz Brüll? 1846 im mährischen Prossnitz geboren und bereits in der Kinderzeit nach Wien umgezogen, lebte und wirkte er bis zu seinem Tod 1907 u.a. als Klavier-Pädagoge und schließlich als künstlerischer Direktor der Horakschen Klavierschulen. Im Oeuvre des eng mit Johannes Brahms befreundeten Komponisten überwiegen Opern, von denen Das goldene Herz, seine 1875 in Berlin uraufgeführte, erfolgreichste Oper, vielleicht manchen bekannt ist. Demgegenüber treten seine zahlreichen Kompositionen für Klavier solo sowie Weniges im Bereich der  Kammermusik und Sinfonik in den Hintergrund. Daher ist es durchaus verdienstvoll und lohnend, die deutlich romantische Züge aufweisende  Musik dieses Komponisten der Vergessenheit zu entreißen. So sind bei CAMEO CLASSICS die e-Moll-Sinfonie op. 29, zwei freundlich-reizvolle Serenaden, die „Macbeth“-Ouvertüre und das Violinkonzert op. 41 erschienen. Der britische Dirigent Marius Stravinsky, in Berlin als Ballett-Dirigent nicht unbekannt, und Michael Laus, viele Jahre Chefdirigent in Malta, haben sich mit dem Belarusian State Symphony Orchestra und dem Malta Philharmonic Orchestra der genannten Werke mit ihren herkömmlichen Satzfolgen angenommen. Dabei fällt die beachtliche Qualität aller Instrumentengruppen in beiden Orchestern auf, mit der die unterschiedlichen, teilweise auch aparten Klänge in Lyrik und Dramatik erreicht werden. Das Violinkonzert präsentiert der Solist Ilya Hoffmann mit technisch gut beherrschter Virtuosität; im eher sanften „Molto moderato“ kostet er die schön ausgespielten Melodiebögen genussvoll aus (CC9103/4, 2 CD).  Gerhard Eckels

 

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