Ehrung aus den Beständen

 

Anniversary Edition? Vor hundertfünfzig Jahren, am 14. Oktober 1871, wurde Alexander von Zemlinsky, der das adelige „von“ in seinem Namen seit den 1890er Jahren nicht mehr verwendete, in Wien geboren. Gestorben ist er im Alter von 71 Jahren im amerikanischen Exil in Larchmont nordöstlich von New York. „Über Zemlinsky nachzudenken“, schreibt der Musik-, Politik- und Literaturwissenschaftler Christoph Becher in seinem umfangreichen und eingehenden Text, der die Edition begleitet, „heißt zumeist, an seinem Ende anzufangen. So typisch seine Rezeptionsgeschichte für das von Weltkriegen und Nationalsozialismus gezeichnete 20. Jahrhundert zu sein scheint, bleibt doch bemerkenswert, wie unterschiedlich der Komponist in den vergangenen 150 Jahren beurteilt worden war“. Anerkennt in Wien, wo Mahler im Jahr 1900 seine zweite Oper Es war einmal an der Hofoper uraufführte, bewundert von seinem Schüler Schönberg, der sein Schwager wurde, gefeiert als Dirigent des Deutschen Theaters in Prag, „unterlag Zemlinsky noch zu Lebzeiten den musikalischen wie politischen Zeitläufen. Er wurde verjagt und vergessen“. Die Erinnerung an ihn setzte erst Mitte der 1970er Jahre wieder ein. Die Uraufführung des Traumgörge 1980 in Nürnberg, dann Gerd Albrechts Aufführung der beiden Oscar-Wilde-Einakter Eine florentinische Tragödie und Der Zwerg 1981 in Hamburg leiteten, begleitet von der 1977 bis 1981 entstandenen Einspielung der Streichquartette durch das LaSalle Quartett und Lorin Maazels Aufnahme der Lyrischen Symphonie aus dem März 1981 (beide bei der DG), die Zemlinsky-Renaissance ein. Bedeutenden Anteil daran hatte von Anfang an das Label Capriccio, das zum Geburtstag wesentliche Aufnahmen auf sechs CDs mit einer Spielzeit von 6 ½ Stunden bündelt (C7360).

Im Fall von Zemlinskys Opern bietet die letzte CD (CD 6) zentrale Ausschnitte aus den – mit Ausnahme der Florentinischen Tragödie – konkurrenzlosen Capriccio-Gesamtaufnahmen von fünf Werken. Angefangen von der Märchenoper Es war einmal (1900), die Hans Graf im Juni 1987 beim Dänischen Rundfunk aufnahm, über den 1905/06 entstandenen Traumgörge unter Gerd Albrecht (Frankfurt, September 1987), welcher im Oktober 1996 an der Hamburgischen Staatsoper auch die Live-Aufnahme von Der König Kandaules dirigierte. Bis zu Stefan Soltesz, der im Februar 1990 in Berlin die Klabund-Oper Der Kreidekreis (1933) aufnahm, und Bertrand de Billys Live-Aufnahme der Florentinischen Tragödie 2010 aus Wien. Die sorgfältig ausgewählten Ausschnitte lassen unzufrieden. Das will man ganz hören.

Den Monolog des Gyges (mit Franz Grundheber) hatte Gerd Albrecht bereits zuvor aus dem König Kandaules herausgelöst für seine Einspielung der zu einer Orchestersuite zusammengestellten Ballettstücke aus Triumph der Zeit, einem Tanzpoem in einem Aufzug von Hugo von Hofmannsthal, das unvollendet blieb, da Mahler gegen eine Aufführung an der Wiener Hofoper war (CD 2).

Albrecht hatte 1992 ebenfalls die Symphonischen Gesängen op. 20 eingespielt, sieben Liedern für Bariton und großes Orchester auf Texte schwarzer amerikanischer Dichter, die u.a. von Rassismus und Lynchjustiz handeln (CD 3). Franz Grundheber reduziert gewaltige Stimmittel zu feinstem Ausdruck. Auf die dritte CD mit den Orchesterliedern gehört auch Zemlinskys zweiter Orchesterlieder-Zyklus, die sechs Maeterlinck-Lieder op. 13 mit der pastosen Petra Lang und dem ORF Orchester unter Susanna Mälkki. Ebenfalls auf der dritten CD findet sich das Brahms gewidmete, 1896 entstandene und 1900 im Wiener Musikverein uraufgeführte Frühlingsbegräbnis für Sopran, Bariton, Chor und Orchester mit dem schwülstigen Text von Paul Heyse, der von den Tieren des Waldes erzählt, die einen „von der Sommersonne getöteten Jüngling beerdigen“. Edith Mathis und der Ende vorigen Jahres verstorbene Roland Hermann bieten noble Gesangsleistungen, ohne das längliche Werk zu retten; dringlich nehmen Chor und Orchester des NDR unter Antony Beaumont den hymnischen Ton auf. Kleine Preziosen stellen die Eichendorff-Ballade „Waldgespräch“ für Sopran, zwei Hörner, Harfe und Streicher dar und die Dehmel-Vertonung „Maiblumen blühten überall“ für Sopran und Streichsextett, die den eigenen Ton des jungen Zemlinsky zeigen. Edith Mathis umhüllt die Jahrhundertwend-Müdigkeit mit großer Finesse. Als Alternative unter Leitung eines Dirigenten käme James Conlons Aufnahme sämtlicher Orchesterlieder bei EMI (mit Isokoski, Urmana, Andreas Schmidt, Volle) in Frage.

Die Maeterlinck-Gesänge finden wir ein weiteres Mal auf der vierten CD. Diesmal in einer Bearbeitung „für Singstimme und Kammerensemble von Erwin Stein und Andreas Tarkmann“. Begleitet vom Linos Ensemble singt die an der Wiener Staatsoper tätige ukrainische Mezzosopranistin Zoryana Kushpler den knapp 20minütigen Zyklus glutvoll, erdenschwer. Die vierte CD, sozusagen die Lieder-CD, bietet weitere Besonderheiten: die sechs leichten, keineswegs folkloristischen Walzer-Gesänge nach toskanischen Volksliedern op. 6., interpretiert von dem eminenten Liedbegleiter Charles Spencer und dem etwas anämischen Tenor von Thomas Michael Allen. Mit dem die beiden zeitgleich mit Schönbergs Brettl-Liedern entstandenen Brettl-Lieder von 1901 sowohl intensiv wie buffonesk ausmalenden Tenor Thomas Ebenstein steht Spencer ein profilierterer Interpret zu Seite. Jugendstilfeine Lied-Kultur bietet Ruth Ziesak (begleitet von Gerold Huber) in den 5 Gesängen op. 7 und dem Zyklus der vier 1916 in Prag entstanden Lieder mit drei Texten Hofmannsthals und einem von Baudelaire, die erst 1995 von Antony Beaumont herausgegeben wurden. Prägnant, wortklar und erzählerisch steuert der Bariton Kay Stiefermann Heines „Es war ein alter König“ und Eichendorffs „Waldgespräch“ aus (mit Alexander Schmalcz am Klavier) bei.

Jugendstil und 30er Jahre-Moderne. Die zweite CD kombiniert die 1893 uraufgeführte viersätzige d-moll-Sinfonie, die Zemlinsky sowohl die Anerkennung von Brahms wie der Presse einbrachte, die ihm „eine gedeihliche Zukunft“ vorhersagte, und die schönheitstrunkenen Ballettsätze Triumph der Zeit von 1903 mit der 1934, für eine „praktische Besetzung“ komponierten Sinfonietta op. 23.  Albrecht dirigiert, wie erwähnt, den Triumph der Zeit, Antony Beaumont leitet das Symphonieorchester des NDR bei der Symphonie Nr. 1 d-moll, und die finnische Dirigentin und Spezialistin für Neue Musik Susanna Mälkki und das ORF Orchester widmen sich der Sinfonietta.  

Das Klarinettentrio d-Moll op. 3 von 1896, das eine Hommage an Brahms und dessen fünf Jahre zuvor uraufgeführte Klarinettentrio 114 darstellt, und das zweite der vier Streichquartette, eingespielt von Pacific Trio 2013 in Kalifornien sowie dem Wiener Artis Quartett bereits 1989 in St. Gilgen, reißen den Bereich der Kammermusik an (CD 5). Den Auftakt bildet natürlich das Orchesterwerk, das am Anfang der Zemlinsky-Renaissance stand: die Lyrische Sinfonie op. 18 für Sopran, Bariton und Orchester in Christoph Eschenbachs mit dem Grammy-Award ausgezeichneter Pariser Einspielung mit dem Orchestre de Paris, ein Musikdrama, in dem Christine Schäfers sehr leichter Sopran vor allem im zweiten und sechsten Satz leuchtet und Matthias Goerne sich in seinen vier Abschnitten souverän neben Vorbildern wie Fischer-Dieskau (DG), Hagegard (Decca) oder Allen (Carlton Classics) behauptet /Foto oben Ricordi/ Capriccio ist im Vertrieb von Naxos/ www.naxosdirekt.com).  Rolf Fath