Stuttgarter Bruckner

 

An Roger Norrington, mittlerweile 87 Jahre alt, scheiden sich für manche die Geister. Als Verfechter der historischen Aufführungspraxis und eines vibratolosen Klanges machte er sich früh einen Namen und gründete 1978 die London Classical Players, denen er zwei Jahrzehnte vorstand. Mehr und mehr kam auch die Romantik und Spätromantik in Norringtons Fokus, doch erst spät wandte er sich der Musik Anton Bruckners zu. Eine erste Einspielung der Urfassung der dritten Sinfonie entstand 1995 noch mit den London Classical Players (EMI), doch das Gros seiner Bruckner-Aufnahmen machte Norrington tatsächlich während seiner Chefdirigentenzeit beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, das er zwischen 1998 und 2011 leitete. Zunächst bei Hänssler aufgelegt, erscheint der komplette Stuttgarter Bruckner nun gebündelt in einer fünf CDs umfassenden Box bei SWR Music (SWR19528CD). Inkludiert sind die Sinfonien Nr. 3 und 4 jeweils in Urfassung (editiert von Leopold Nowak) sowie die Sinfonien Nr. 6, 7 und 9 in den gängigen Nowak-Editionen. All diese Einspielungen entstanden im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle, und zwar im relativ kurzen Zeitraum zwischen 2007 und 2010, gehören also bereits der Spätphase des Dirigenten Norrington an.

Eingangs erklärt Norrington in einer kurzen Anmerkung seine Auffassung bezüglich der Aufführung von Bruckners Sinfonien. Für den Kenner nicht wirklich neu, betont er, dass es sein Bestreben sei, dem Klangideal des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen. So orientiere er sich hinsichtlich der Besetzung des Orchesters exakt an Bruckners Vorgaben und verwende die seinerzeit übliche Wiener Orchesteraufstellung. Bogenführung, Phrasierung, Artikulation sowie die neuesten Erkenntnisse zur Tempofrage flössen ebenfalls in seine Lesarten ein. Selbstredend folgt auch ein typisch Norrington’scher Verriss des bei den Wiener Philharmonikern angeblich bis 1938 nicht gespielten Vibrato, dem der Dirigent seinen eigenen „reinen Klang“ entgegenhält. Wie umstritten gerade die Vibrato-Frage ist, wird freilich nicht ausgeführt. Norrington schließt mit der Behauptung, dass Bruckners Sinfonik ganz ausdrücklich nicht sakralen sondern säkularen Charakters sei. Dies mag formal zwar zutreffen, doch wird die tiefe Verwurzelung dieses „Unzeitgemäßen“ im Katholizismus damit doch augenscheinlich zur Marginalie reduziert.

Die Theorie ist das eine, die Praxis das andere. So problematisch Norringtons dogmatischer Duktus sein mag, so kann man dem tatsächlichen Hörerlebnis gewisse Meriten nicht absprechen. Besonders die beiden Erstfassungen der Wagner-Sinfonie und der Romantischen künden von einem durchaus vorhandenen Werkverständnis. Dass sich Norrington für diese bis heute relativ selten eingespielten Originalfassungen stark machte, wurde von Brucknerianern durchaus gewürdigt, selbst wenn viele letzten Endes den überarbeiteten Letztfassungen den Vorzug geben mögen. Norrington schlägt tendenziell schnelle bis überaus rasante Tempi an, wobei die zwölf Jahre ältere EMI-Einspielung der Dritten sogar noch flotter daherkam und den Spitzenreiter in der gesamten Diskographie darstellt. Sieht man auf die Spielzeiten der Vierten, welche bei Norrington genau eine Stunde dauert, und vergleicht dies mit den 75 Minuten bei Kent Nagano (Farao bzw. Sony), so lässt sich die unterschiedliche Werkauffassung deutlich erahnen.

Bei der sechsten und siebten Sinfonie, wo sich Norrington aufgrund der üblicheren Fassungen breiterer Konkurrenz zu stellen hat, zeigen sich dann aber auch die Grenzen dieses Geschwindigkeitsrausches. Die „kecke“ Sechste verträgt die gerade knapp 52 Minuten vielleicht noch einigermaßen, doch im Falle der Siebenten mit ihren sage und schreibe nur 55 Spielminuten sind darob doch Zweifel angebracht. Interessanterweise ist hier weniger das Adagio das Problem, das Norrington mit 19 Minuten noch einigermaßen im Sinne Bruckners („Sehr feierlich und sehr langsam“) dirigiert, als vielmehr der mit 15 Minuten schlichtweg zu verhetzte Kopfsatz. Egal welche Vergleichsaufnahme man heranzieht, niemand hat das derart schnell dargeboten. Durchschnittlich genehmigen sich die Dirigenten zwischen 19 und 20 Minuten für diesen Satz, mit Ausreißern wie dem greisen Celibidache, der in seinem legendären „Versöhnungskonzert“ mit den Berliner Philharmonikern 1992 fast 28 Minuten benötigte.

Seine merkwürdigste Bruckner-Aufnahme legte Norrington aber in Gestalt der neunten Sinfonie vor. Diese Konzertaufführungen vom 15. und 16. Juli 2010 beschlossen auch die Bruckner-Exegese des Briten. Während der Kopfsatz mit 22 Minuten zwar nicht gerade getragen, aber völlig im Rahmen daherkommt (wie auch bei Heinz Rögner; Kurt Masur war sogar noch etwas schneller unterwegs), erstaunt das darauffolgende Scherzo einigermaßen, welches mit 11 Minuten beinahe in der Manier Bruno Walters zelebriert wird (ohne allerdings dessen Dämonie zu erreichen). Der wirkliche Schock erfolgt im Adagio, das mit gerade einmal 18 Minuten als grobe Fehlinterpretation verortet werden muss. Selbst der wahrlich beschwingte Rögner genehmigte sich in diesem langsamen Satz gut 21 Minuten, und Carl Schuricht lotete weiland mit 20 Minuten die Grenzen des Möglichen aus. So erscheint Norringtons Neunte seltsam unrund und nicht wirklich homogen, auch wenn das Scherzo für sich genommen durchaus seine Momente hat.

Es bleibt nachzutragen, dass sämtliche Aufnahmen auf Live-Aufführungen beruhen, die – außer im Falle der dritten Sinfonie – an mehreren Tagen mitgeschnitten wurden. Am Klangbild gibt es nichts zu bemängeln. Es unterstreicht den gewiss streitbaren Bruckner-Zugang Norringtons. Summa summarum keine Erstempfehlung für den Einsteiger, aber doch eine hörenswerte Erweiterung für die Bruckner-Diskographie des Fortgeschrittenen. Daniel Hauser