Carl Loewe: Bibelszenen auf der Orgel

 

Wer sich Löbejün nähert, erblickt zuerst den mächtigen Kirchturm von St. Petri, der über der Stadt zu thronen scheint. So hoch erhebt er sich. Angekommen in dem beschaulichen Ort in Sachen-Anhalt, der seit zehn Jahren mit Wettin und einigen anderen Gemeinden eine Verwaltungsgemeinschaft bildet, scheinen alle Wege und Straßen auf das Gotteshaus zuzulaufen. In direkter Nachbarschaft kam am 30. November 1796 der Komponist Carl Loewe auf die Welt. Sein Geburtshaus existiert nicht mehr. Es wurde zwischen 1886 und 1887 durch einen Neubau ersetzt. Der dient nun als Gedenkstätte für den Komponisten. Dem Museum hat der schottische Historiker und Sammler Ian Lilburn (1927–2013) seine einzigartige Sammlung von Tonträgern mit Werken Loewes einschließlich Diskographie vermacht. Ständig kommen neue Titel hinzu. Das Interesse an dem Komponisten ist ungebrochen – auch dank der Bemühungen der Internationalen Carl Loewe Gesellschaft, die ihren Sitz in Löbejün hat und dort regelmäßig Festtage von starker Ausstrahlung mit Künstlern und Gästen aus aller Welt veranstaltet. Sie werden mit schöner Regelmäßigkeit vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) übertragen. Nicht wenige hätten es verdient, auch auf Tonträgern festgehalten zu werden.

Die CD-Neuerscheinung Carl Loewe und die Orgel hat ihren ganz besonderen Reiz. Sie wurde in Löbejün produziert, in St. Petri, Loewes Taufkirche. Dort hat sich der originale Taufstein erhalten, die Orgel von damals hingegen nicht. Sie wurde 1901 durch ein Instrument aus der Werkstatt von Wilhelm Rühlmann aus den nahegelegenen Zörbig ersetzt und von 2017 bis 2018 saniert. Mit „ihrem warmen, grundtönigen Klang und ihrer Ausrichtung am spätromantischen Klang“ hätte sie auch den Romantiker Carl Loewe zugesagt, wird im Booklet gemutmaßt. Die CD ist beim Label Querstrand erschienen (VKJK 2013). Sie dürfte das erst offizielle Tondokument Made in Löbejün sein. Als Solist wurde der französische Organist Irénée Peyrot gewonnen, der sich auch dadurch einen Namen gemacht hat, dass er das gesamte Orgelwerk von Max Reger (Querstand) und von Friedrich Wilhelm Zachow, des Lehrers von Georg Friedrich Händel, einspielte (Fagott Orgelverlag).

Hoch über die Stadt erlebt sich der Turm der Stadtkirche St. Petri in Löbejün, wo die Orgel-CD mit Werken von Carl Loewe eingespielt wurde. Links das Museum für den Komponisten. Foto: Winter

Noch immer wird Carl Loewe vornehmlich als Balladen-Komponist wahrgenommen. Schließlich bildet diese Werkgruppe das Zentrum seines Schaffens. Wurde er noch bis in die 1990er Jahren hinein gern auf Die Uhr oder Die Heinzelmännchen reduziert und damit auch gründlich missverstanden, hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Bei cpo wurden sämtliche Lieder und Balladen in modernen Interpretationen mit dem umtriebigen Cord Garben am Klavier vorgelegt. Nicht zuletzt dadurch und durch das segensreiche Wirken der gut vernetzten Loewe-Gesellschaft mit ihrem engagierten Präsidenten Andreas Porsche wurde ein Paradigmenwechsel bewirkt. Aus der Versenkung wurden große Chorwerke, Instrumentalwerke und Kammermusik geholt und auch auf CD verbreitet. Jüngere Sänger wie Konstantin Krimmel, Samuel Hasselhorn, David Jerusalem oder Stéphane Degout entdeckten Loewe für sich. Doch auch die Orgel-CD scheint nicht ohne Balladen auszukommen. Sie mussten schon viele Bearbeitungen über sich ergehen lassen, wurden mit verteilten Stimmen gesungen und auch mit diversen nicht näher bezeichneten Orchesterbegleitungen untermalt, womit sie in die Nähe von Salonmusik rückten. Es finden sich aber auch sehr feinsinnige und respektvolle Instrumentierungen der Klavierstimme durch Komponisten wie Hans Pfitzner, Arnold Schönberg, Leo Blech, Bernd Alois Zimmermann und Felix Mottl sowie neuzeitliche Versionen von Michal Dobrzynski aus Szczecin (Stettin), der einstigen Wirkungsstätte Loewes. Sie waren bei den 6. Carl-Loewe-Festtagen 2016 in Löbejün aufs Programm gesetzt worden.

Die Carl-Loewe-Büste auf dem Oberen Markt in Löbejün, der Geburtsstadt des Komponisten. Im Hintergrund die Turmspitze mit dem mächtigen Dach von  St. Petri. Foto: Winter.

Peyrot ging nun das Wagnis eines Arrangements für Orgel ein. Das sind die Titel: Tom der Reimer, Das Erkennen, Die Mutter an der Wiege, Niemand hat’s gesehen und – last but not least – die unverwüstliche Uhr. Und wie klingt das nun? Wer es nicht besser weiß, könnte die Stücke tatsächlich für Orgelkompositionen halten. So genau und durchaus auch passend sind sie auf das Instrument zugeschnitten. Es offenbart sich ein hohes Maß an musikalischem Einfallsreichtum auch jenseits der menschlichen Stimme. Den Höhepunkt bildet für mich das Lied Niemand hat’s gesehen, dessen Schnellläufigkeit die Orgel mit ihren variablen Möglichkeiten gar noch genauer erfassen, aufnehmen und bis zum Ende durchhalten kann als eine Sängerin, für die es geschrieben ist. Peyrot spielt die Stücke sehr elegant, mit Raffinesse versehen und zieht nicht alle Register. Die bleiben mit entsprechender Wirkung der Programmeröffnung der CD vorbehalten: „Nun danket alle Gott“ aus Musikalischer Gottesdienst. Diese Sammlung von zwanzig Choralpräludien bildet eine der umfänglichen Orgelkompositionen Loewes, mit der er protestantische Orgelmusik-Traditionen aufgreift. Das CD-Finale mit „Lobet den Herrn, alle Heiden“ unter Berufung auf die Nr. 9 des Passionsoratoriums Das Sühneopfer des neuen Bundes wirft die Frage auf, welche Textfassung für diese Angabe zugrunde liegt. In allen drei auf CD erschienen und mit Textbüchern versehenen Aufnahmen (FSM, Oehms und Naxos) beginnt dieser Chor der Apostel mit den Worten „Lobet ihr Knechte des Herrn“ aus dem 113. Psalm der Luther-Bibel. Die Gesamtwirkung wird dadurch nicht beeinträchtigt. Sie beruht auf der Musik, nicht auf dem Wort. Was ist noch im Angebot? Neben weiteren Nummern aus dem Musikalischen Gottesdienst der „Gang nach Emmaus“, „Bethesda“ sowie „Martha und Maria“ aus Biblische Bilder, einer Sammlung von Klavierstücken mit ausgesprochen bildhaften Zügen, die Peyrot für die Orgel adaptiert hat. Ebenfalls für Orgel bearbeitet sind „Herr, bleibe bei uns“ und „Also hat Gott die Welt geliebt“ aus dem Oratorium Die Festzeiten. Auch das Passionsoratorium wird nochmals bemüht, diesmal mit dem Schusschor „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich“.

Es gehört zu den Auffälligkeiten im Werkverzeichnis Loewes, dass er, der begnadete Organist, nur wenige originäre Werke für diese Königin der Instrumente hinterlassen hat. In Stettin brachte er den größten Teil seines Lebens als Musikdirektor zu. Diese Position schloss auch den Dienst an der großen Orgel in St. Jacobi ein. Sie stammte aus der Werkstatt des bedeutenden Hamburger Orgelbauers Arp Schnitger, wurde 1700 fertiggestellt und im Zweiten Weltkrieg zerstört. Loewes enge Bindungen an das Instrument gingen so weit, dass er testamentarisch verfügte, nach dem Tod sein Herz in einen Pfeiler neben der Orgel einzumauern, wofür es trotz diverser Nachforschungen bisher keine belastbaren Beweise mehr gibt. Im Booklet werden die historischen Hintergründe von der in Halle lehrende Musikwissenschaftlerin Cordula Timm-Hartmann ausführlich dargelegt. Sie zitiert auch aus den Erinnerungen des Theologen Friedrich Wilhelm Lüpke an einen Gottesdient 1851 in der Stettiner Jacobikirche, bei dem Loewe in Erscheinung trat: „So ein Orgelspiel habe ich nie wieder gehört.“ Auch Maximilian Runze, der sich wie kaum ein anderer für die Pflege, Erforschung und Verbreitung von Loewes Werken einsetzte, hat ihn in Stettin noch selbst spielen hören, „was mich stets wunderbar ergriff“.

Als Meister der Kammermusik präsentiert sich Carl Loewe auf dieser CD, die bei cpo herausgekommen ist (555 256-2). Solisten sind Henning Lucius (Piano), Marietta Kratz (Violine), Lena Eckels (Viola), Jakob Christoph Kuchenbuch (Violoncello) und Christian Seibold (Klarinette). Das überbordende „Duo Espagnola“ ist das letzte Instrumentalwerk des Komponisten. Im Booklet wird von Cord Garben zu Recht auf die „motivische Nähe einzelner Wendungen des Viola-Parts“ zur Ballade „Der Nöck“ verwiesen. Eine starke Bildhaftigkeit offenbaren die aus drei Teilen bestehenden Schottischen Bilder mit den Titeln „Die Jungfrau vom See“, „Der Wanderer auf Bothwell-Castle“ und Der Schottenclan“. Für Loewe, der zweimal England besucht hatte, blieb Schottland – wie anderen Komponisten auch – ein Sehnsuchtsort.

Bei wem das Interesse tiefer geht, findet eine Fülle an Informationen in der Schrift Carl Loewe Kirchenmusiker und Komponist von Götz Traxdorf. Sie ist beim Verlag Janos Stekovics in der Reihe der Veröffentlichungen der Internationalen Carl-Loewe-Gesellschaft herausgekommen (ISBN 978-3-89923-403-9). Dokumentation und CD dürfen durchaus als Einheit verstanden werden. Traxdorf war vor seiner Pensionierung als Musikbibliothekar in Halle tätig. Seine Arbeit ist von Kenntnis und Verehrung getragen und wahrt doch stets wissenschaftliche Distanz. Der Autor will seine Leser nicht zu Loewe überreden. Er informiert. Was zählt, sind Fakten und Erkenntnisse. Auf knapp hundert Seiten kommt einiges zusammen. Im Zentrum steht das übersichtlich aufgeschlüsselte Verzeichnis von Loewes kirchenmusikalischen bzw. evident religiösen Kompositionen. „Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht bestehen, solange nicht das gesamte, das Thema betreffende Material in den infrage kommenden Archiven differenziert sondiert und lückenlos bekannt gemacht worden ist“, heißt es einschränkend gleich zu Beginn in einer Fußnote. Damit ist das Feld für künftige Forschungen abgesteckt.

Der Text selbst ist ein konzentriertes Porträt des Komponisten mit vielen Facetten. Aufgespürt finden sich die „biographischen Voraussetzungen in Kindheit und Jugend“. Leser werden Zeugen jener ungeahnten Bewerbung des jungen Mannes, die aus Loewe den „Kirchenmusiker und Musikdirektor der Stadt Stettin“ macht. Traxdorf begegnet dem „Balladenmeister unter dem Druck seines Amtes“, porträtiert den Organisten Lowe, der keine Zeit gehabt zu haben schien, „seine freien Improvisationen zu Hause aufzuschreiben“, widmet sich der „Vokalmusik für den gottesdienstlichen Bedarf“ und lässt nicht die „erbauliche geistliche Musik außerhalb eines Sakralraumes“ außer Acht, deren melodische Einfachheit vor allem Laien ansprechen sollte und streift schließlich noch die geistlichen Oratorien.

Ihren Abschluss findet die Dokumentation mit einem üppigen Bildteil, der auch zurück an den Ausgangspunkt dieser Besprechung führt – nach Löbejün. Zu sehen ist die alte Orgel in St. Petri von 1591 wie sie noch Loewe kannte und das Bronzedenkmal auf dem Kirchhof, das 1942 eingeschmolzen wurde, aus dessen Form jener Nachbildung aus Löbejüner Porphyr entstand, die heute auf dem Oberen Markt zu einem neuen Wahrzeichen der Stadt wurde. Rüdiger Winter

 

Oben ist das Gemälde „Jesus im Haus vom Martha und Maria“ des italienischen Manierismus-Malers Alessandro Allori (1535-1607), einem Schüler seines Onkels Bronzino, zu sehen. Die Schwestern bieten Jesus Einkehr. Während Maria lauschend zu seinen Füßen sitzt, ist Martha mit der Bewirtung des Gastes beschäftigt. Als sie sich bei Jesus über die Untätigkeit der Schwester beklagt, antwortet dieser laut Bibel: „Martha, Martha, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“ Diese Bibelszene, die sich im Neuen Testament bei Lukas und Johannes findet, inspirierte Carl Loewe zu einem seiner Biblischen Bilder, das als Orgelbearbeitung auch ins Programm der neuen CD aufgenommen wurde (Historisches Museums Wien). Foto: Wikipedia