Zu viel Henze, wenig Meyerbeer, kein Mayr

 

Ein gutes, erklärendes Handbuch kann sich für einen Opernbesuch mitunter als notwendiger erweisen als das schicke Abendkleid für die Dame oder der feiner Zwirn für den Herrn. Zumal heutzutage. Regisseure neigen dazu, Werke aus ihrem historischen Kontext zu reißen, Figuren des Mittelalters in Jeans zu stecken, statt eines Waldes eine gähnend leere Bühne zu präsentieren. Nicht immer wird auf Anhieb klar, wer denn nun wer ist, und warum jemand mit einer Maschinenpistole herumfuchtelt, statt das Schwer zu schwingen. Aktualisierungen der alten Stoffe erschließen sich nicht in dem Maße, in dem die Handlung voranschreitet. Und nicht immer passt es. Wer sich also vor einer Aufführung schlau machen beziehungsweise das eigenen Wissen überprüfen will, ist mit dem Handbuch der Oper gut bedient. Es ist in vierzehnter, grundlegend überarbeiteter Auflage als Gemeinschaftsproduktion der Verlage Bärenreiter (ISBN 978-3-7618-2323-1) und Metzler (ISBN 978-3-476-02586-9) erschienen. Mit der ISBN-Nummer 978-3-7618-7093-8 wird es auch als eBook angeboten. Für unterwegs ist das praktisch, denn das 950 Seiten umfassende Konvolut passt nicht in jede Handtasche. Es ist regaltauglich. Berücksichtigt sind nunmehr 340 Opern vom Frühbarock bis zur Gegenwart. Die frappierende Aktualität der neuen Ausgabe stellt sich bereits auf dem Einband dar. Gezeigt wird eine Szene aus Miroslav Srnkas Oper South Pole, die 2016 an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführt wurde, von Hans Neuenfels in Szene gesetzt und von Kirill Petrenko dirigiert. Sie kam ins Fernsehen und fand bei Publikum und Presse begeisterte Aufnahme. Das Werk selbst wird auch gebührend behandelt. So breit gefächert, wie es dieser brandneue Titel erwarten lässt, ist das Repertoire des Handbuches allerdings nicht.

Allenthalben klaffen schmerzhafte Lücken. Während von Rameau sechs Werke Berücksichtigung fanden, wird Meyerbeer mal eben nur mit zweien, nämlich Hugenotten und Prophet, abgespeist. Dabei ist gerade dieser Komponist in letzter Zeit erfreulich oft auf den Spielplänen erschienen. Mit Vasco da Gama wurde die ursprüngliche Fassung seiner Africaine neu entdeckt. Die Deutsche Oper Berlin hat ihren Meyerbeer-Zyklus mit Dinorah begonnen und mit  Les Huguenots fortgeführt. Nürnberg, Kiel und Würzburg stehen Meyerbeer-mäßig nicht nach.

Zudem kommen deutsche Opern  viel zu kurz. Zar und Zimmermann und Wildschütz reichen für Lortzing eben so wenig wie der Vampyr für Marschner, dem wenigsten noch sein Hans Heiling zu gönnen gewesen wäre. Otto Nicolai muss sich mit seinen ewigen Lustigen Weibern bescheiden, obwohl mit Aufführungen von Templario und Heimkehr des Verbannten endlich seine in Italien gewonnene Belcanto-Meisterschaft Anerkennung findet. Vergeblich sucht man auch Johann Simon Mayr, der inzwischen nicht mehr nur als Lehrer von Donizetti wahrgenommen wird. Bei allem Respekt für Hans Werner Henze stellt sich die Frage, ob es denn gleich neun (!!!) seiner Opern sein müssen. Und Manfred Trojahn ist mit fünf (!!!) Titeln auch mehr als gut bedient, während Wagner-Regény, Siegfried Wagner, Otmar Gerster oder Siegfried Matthus leer ausgehen. Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortsetzen.

Jene Werke aber, die Eingang in das Handbuch gefunden habe, sind exzellent und erschöpfend abgehandelt. In diesen gut lesbaren Texten offenbart sich die hohe Qualität dieser überarbeiteten Auflage. Bei allen Werken wird weitgehend nach dem gleichen Muster verfahren, was den raschen Zugang erleichtert. Es finden sich alle Personen, Orte und Schauplätze, es gibt Hinweise auf die Gliederung, die Zusammensetzung des Orchesters und die Spieldauer. Handlung, stilistische Stellung, Textdichtung und Geschichtliches werden getrennt und ausführlich behandelt, Unterschiede in einzelnen Fassungen verständlich herausgearbeitet. Sogar bei Verdis Don Carlos, dem Prüfstein für die genaue Dokumentation der unterschiedlichen Bearbeitungen in Opernführern, bleiben keine Fragen offen. Das Problem des Handbuches sind nicht die Texte, sondern die Proportionen.

Handbuch der OperDabei haben es sich die Herausgeber nicht leicht gemacht. Wo sollen sie anfangen, wo enden? Was aufnehmen, was weglassen? Ein Buch von fast tausend Seiten kommt auch an Grenzen. Beiträge früherer Auflagen und verstorbener Autoren waren mit neuen Texten zu verbinden. Im Vorwort wird das genau erklärt. Gleich am Beginn macht der Musikschriftsteller Robert Maschka deutlich, dass Opernführer letztlich nur die „in den Opernhäusern stattfindenden Veränderungen“ reflektieren. Das ist nachzuvollziehen, wird aber nicht konsequent genug durchgehalten, wie die Beispiele Nicolai, Meyerbeer oder Mayr zeigen. Eine Presse-Information zur Neuerscheinung versieht Bärenreiter mit der etwas altbackenen Überschrift „Oper zum Schmökern“. Und es werden einige Fragen aufgeworfen, die sich im Handbuch beantwortet finden sollen. „Wie heißt Wotans Schwester?“ Hm! Wer sollte das sein? Der hat ja gar keine. Freia, die am ehesten in Frage käme, kann es nicht sein. Die ist nämlich Frickas, der Gattin Wotans, Schwester und damit dessen Schwägerin. Fricka nennt sie denn auch im Rheingold ihr „holdes Geschwister“ und Freia selbst fleht Wotan als „Schwäher“ an. Er soll sie vor der Zudringlichkeit der Riesen schützen. Schwäher ist eine sprachlich veraltete Form für Schwager oder auch für Schwiegervater.

Und – so wird weiter gefragt – „Wer fordert seinen Herrn zum Tänzchen heraus?“ Ja, wer denn wohl? Der gestandene Opernfreund hat natürlich diverse deutsche Übersetzungen von Mozarts Figaro im Kopf. Er weiß, dass sich die Frage aus Figaros Kavatine im ersten Akt herleitet, mit der er dem Grafen den Kampf ansagt, weil er nicht von Susanna lassen will. Mal ist von Tanz, mal von Tänzchen die Rede. Je nach Übersetzer – ballare eben. Aus dem Buch erfährt man die Antwort auf die Frage jedenfalls nicht, zumal das Stück heute stets im italienischen Original gegeben wird. Während die Oper in der Erstnennung des Titels im entsprechenden Kapitel des Handbuches sehr richtig als Le nozze di Figaro gelistet ist, nennt es im Widerspruch dazu bei etlichen fremdsprachigen Werken den alten deutschen Titel zuerst – Iphigenie in AulisDer Barbier von SevillaDas Mädchen aus dem goldenen WestenDer TroubadourDie Macht des SchicksalsHugenotten und Prophet waren schon genannt. Diese verwirrende Handhabung, die den Lesern nicht nützt, erklärt sich auch aus der langen Entstehungsgeschichte des umfangreichen Nachschlagewerks. Bei Monteverdi konnten sich die Autoren nicht für ein einheitliches Verfahren entscheiden. Beim Ritorno di Ulisse wurde der deutsche Titel (Die Heimkehr des Odysseus) bevorzugt, bei L’incoronazione di Poppea der italienische. So unterschiedlich tauchen beide Stücke auch im Register auf. Angleichungen wären sinnvoll gewesen. Dem Handbuch ist also eine 15. grundlegend überarbeitete Auflage zu wünschen. Rüdiger Winter