SINGEN IN DER POST-UND POSTPOSTMODERNE

 

Singen in der Oper, als Therapie und in der Post- und Postpostmoderne: Die Farbe ungebändigter Zornesröte ergießt sich über das vom Autor des Buches Singen selbst gestaltete Cover, und Bernd Weikl hat allen Grund, wie immer und notorisch wütend zu sein, denn was sein Lebensinhalt während seiner Sängerlaufbahn und auch jetzt noch ist, die Oper und das Singen allgemein, haben in den letzten Jahrzehnten einen bedauerlichen Wandel vollzogen. Die Werke der Opernliteratur werden durch die Anhänger des Regietheaters bis manchmal zur Unkenntlichkeit entstellt, und das Singen, sieht man von Fußballstadiongebrülle und Happy birthday for you  einmal ab, ist fast ganz verschwunden, Volks-, Kirchen- oder Weihnachtsliedersingen gehören nicht mehr zum selbstverständlichen Zeitvertreib und damit allgemein verbreiteten Kulturgut in deutschen Landen.

Weikls Buch nähert sich nach einem Vorwort, einer Widmung und einem Geleitwort seinem eigentlichen Thema. Im Vorwort hebt ein befreundeter Akademiker die Vielseitigkeit des Autors und damit des vorliegenden Werks hervor, die Widmung durch den Autor gilt dessen langjährigem Freund Adolph Kurt Böhm, das Geleitwort bezieht sich auf eine Aufführung von Mendelssohn-Bartholdys Elias unter Mitwirkung des Baritons 1988 anlässlich des vierzigsten Jahrestags des Bestehens des Staates Israel. Der Prolog schließlich bietet eine Vorausschau auf die Themen, die den Autor beschäftigen: Ist er Künstler oder Entertainer, gilt im Opernhaus die Partitur oder der Regisseur als das A und O aller Dinge, worin besteht der Bildungsauftrag der staatlich bezuschussten Künste, und was kann Singen bei bewusster Atmung bei Patienten der Psychiatrie bewirken?

Letzteres wird als Ergebnis einer Untersuchung in einer Münchner Klinik umfangreich und mit vielen Graphiken zum besseren Verständnis beitragend, dargeboten. Das Fazit ist der Nachweis, dass das Singen und das „angewandte Atmen“ sich positiv auf Stimmung und Haltung der Patienten auswirken.

Etwas überraschend geht es dann mit einem knappen Blick auf den Ursprung der Oper weiter, um danach sich mit den unterschiedlichen Aufgaben von rechter und linker Gehirnhälfte zu befassen. Wie zu einer Art Refrain kehrt Weikl zu den Auswüchsen des Regietheaters, das sein Verdammungsurteil über „Wiedererkennung und Wohlfühlen“  als Teil des Operngenusses gesprochen hat, ja das Ende der Oper mit diesen verbindet, erneut zurück.

Man hat oft den Eindruck, den Verfasser übermanne der Zorn über die heutigen Verhältnisse und hindere ihn daran, kontinuierlich zu einem Thema Stellung zu beziehen, führe ihn immer wieder zu den bevorzugten Themen Regieuntaten, Verfall des musikalischen Lebens in Deutschland zurück, wobei manches wohl zu schwarz gesehen wird, so mit der Behauptung, es gebe keinen Musikunterricht in den Schulen mehr oder es habe ein Orchestersterben eingesetzt. So mag die Tatsache, dass zur Zeit der Wende  43 % der deutschen Orchester sich auf dem Gebiet der DDR befanden, auch bedeuten, dass es dort ein Überangebot gab. Fast leere Parsifalvorstellungen an der Berliner Staatsoper ließen bei der Rezensentin einst diesen Gedanken aufkommen.

Praktisch für werdende Sänger könnte das Kapitel über den „menschlichen Körper als Instrument“ sein, über den Vokalausgleich und die optimale Atmung. Ein weiterer Aspekt, die Interessen und Vorhaben Bernd Weikls betreffend, sind dessen Versuch, Männer aus der Wirtschaft  zu einer erhöhten „kulturellen Kompetenz“ zu verhelfen, das schwedische Königshaus für sein Ideen zu begeistern oder Kritik und Publikum in Tokio für nazifreie Meistersinger. Ein gerichtliches Vorgehen gegen die Vergasung von Juden in einer Tannhäuser-Inszenierung endet ohne den erwünschten Erfolg, und die vom Autor für kommende Zeiten vorhergesehenen Scheußlichkeiten auf deutschen Opernbühnen kann man bereits jetzt besichtigen. Welch großer Unterschied besteht schließlich zwischen einem von Weikl in zukünftigen Zeiten angesiedelten Florestan, der am Ende erschossen wird, und einem , so bereits in Salzburg zu sehen gewesen, der als psychisches Wack am Boden kauert?!

Kleine Ungenauigkeiten wie „Staatspräsident“ anstelle von „Bundespräsident“ oder „Va pensiero sull’allo dorato“ hätten durch ein aufmerksames Lektorat vermieden werden können.

Kann man mit einem so vehementen, leidenschaftlichen Kampf gegen das moderne Regietheater etwas bewirken, oder wird man zu einer Art Don Quichotte im Kampf gegen übermächtige Windmühlenflügel? Man kann sich zum Kämpfer berufen fühlen und sich  das Leben damit selbst schwerer machen als notwendig, oder man erfreut sich an den wunderbaren Aufnahmen, die es zum Glück in großer Zahl gibt, zum Beispiel an einem Sachs oder Wolfram von Bernd Weikl (135 Seiten, Leipziger Universitätsverlag 2018; ISBN 978 3 96023 129 5). Ingrid Wanja