Diesseits und Jenseits

Grenzenlos nennt sich die Festschrift zum 75. Geburtstag des Saarländischen Staatstheaters und schafft damit bewusst einen Kontrast zu der Aufgabe, die ihm bei seiner Eröffnung im Jahre 1938 zugedacht war, nämlich ein Bollwerk gegenüber dem „Erzfeind“ Frankreich zu bilden. Es folgte im Krieg die Bespielung auch der von den Deutschen besetzten Gebiete, nach dem Krieg nach einer kurzen amerikanischen Besetzung die Einflussnahme der französischen Besatzungsmacht, ehe wie bereits 1935 in bezug auf das Dritte Reich die Saarländer für die Eingliederung in die Bundesrepublik stimmten.

Die Kapitel, die sich mit der Geschichte des Theaters befassen, sind für den Historiker ebenso interessant wie für den Kunstinteressierten, denn sie schildern einmal exemplarisch das, was sich an allen deutschen Theatern in der Nazizeit mehr oder weniger ausgeprägt abspielte, erhalten aber durch die geographische Lage des Hauses eine besondere Zuspitzung sowohl was das Wohlwollen der Nazispitzen als was die Zuweisung besonderer Aufgaben an das „Gautheater Saar-Pfalz“ als „Bollwerk deutscher Kultur“ betrifft.

Nach dem Grußwort von Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, das bereits auf zwei weitere Besonderheiten, die Beziehung zu Frankreich nach dem Krieg und die Kontaktaufnahme zu Georgien, hinweist, dem Geleitwort des Kulturministers und dem Vorwort der jetzigen Intendantin, Dagmar Schlingmann, von der noch ein weiterer, ausführlicherer Beitrag stammt, befasst sich Dieter Bartetzko mit der Architektur dieses neben Dessau einzigen Theaterneubaus der Nazizeit. Zur „Stimmungsarchitektur“ zählt er den Bau von Paul Baumgarten, der auch für den Umbau der Städtischen Oper Berlin und den Bau der Wannsee-Villa Liebermanns verantwortlich war. Viele Fotos aus der Entstehungszeit des Theaters und seiner Vollendung ergänzen den Text, der auch begründet, warum man das stark bombengeschädigte Haus nach 1945 wieder aufbaute.

Zwei Artikel befassen sich mit der „Instrumentalisierung der Kunst“ in der Nazizeit, so Alexander Jansens „Blicke ins Dunkel“, der in einer sehr plastischen Erzählweise davon berichtet, wie Adolf Hitler die Saarländer für das über 90prozentige Votum für Deutschland  belohnen wollte, wie die Feierlichkeiten zur Eröffnung mit Wagners Der fliegende Holländer und Kämpfe um den Intendantenposten verliefen. Selbst Feinheiten wie die Annahme, man habe die Franzosen mit dem Spielen des 1. Satzes der 7. Beethovensinfonie ärgern wollen, weil dieser auch einst bei einem Benefiz-Konzert zugunsten der Befreiungskriegs-Veteranen gegen Napoleon erklungen war, bleiben nicht verschwiegen. Selbst der Kampf um die Kantine und um Coca Cola wird berücksichtigt, als erstaunlich ist anzusehen, dass das Eröffnungsplakat zwar einen Adler, nicht aber das eigentlich obligatorische Hakenkreuz zwischen seinen Fängen zeigt.

Ein Auszug aus den Erinnerungen des jüdischen Konzertmeisters Alexander Schneider stimmt nachdenklich, verurteilen möchte man ihn wegen einiger seltsamer Äußerungen aber nicht, da gegenüber jemandem, der Mutter und Schwester in Auschwitz verlor, jede Kritik verstummt. Auch das daneben abgedruckte Hetzblatt eines NSDAP-Organs dürfte zu unterschiedlichen  Reaktionen beim Leser führen.

Bereits 1939 wurde das Theater wegen der Evakuierung während des Frankreichsfeldzugs wieder geschlossen. Ab 1940 geriet die Spielplangestaltung zunehmend unter politischen Einfluss, besonders natürlich im Schauspiel. Eine erneute Evakuierung Saarbrückens fand im Dezember 1944 statt. Unter der Überschrift „Rückkehr nach Europa“ wird zunächst sehr anschaulich von Ursula Thinnes über die französische Zeit des Saarlands berichtet, als über dem restaurierten Theaterbau die Inschrift „Opéra de Sarrebruca“ prangte, deutsche Künstler nur mit Visum hier wirken durften und die französische Zensur sogar Rotkäppchen unter ihre Lupe nahm. Der Austausch mit französischen Bühnen blieb recht einseitig, abgesehen von einer Arabella mit der jungen Rysanek und Egks Peer Gynt. Das entpolitisierte Theater mit einer Vorliebe für die Operette war typisch auch für die saarländische Nachkriegszeit.  Der wohl beliebteste Schauspieler der Saarbrückener war August Johann Drescher, aus dessen Nachlass, ob Schminkset oder Grabschleifen,  Bettina Hanstein ein faszinierendes Lebensbild herausliest.

Holger Schröder widmet den Nachkriegsintendanten Hermann Wedekind (1960-76) und Kurt Josef Schildknecht (1991 -2006) ein Kapitel mit dem Titel „Weltoffenheit – Unterhaltung mit Haltung“. Eine sogar von Helmut Kohl gewürdigte Unternehmung waren der Kontakt mit Georgien bis zur Wende, die Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Siegfried Köhler und die Entdeckung junger Sänger wie Trudelise Schmidt und Siegmund Nimsgern. Unter die Intendanz von Schildknecht fällt die Uraufführung von 15 Auftragsopern, die Einstufung von Orchester und Chor in die Besoldungsgruppe A, die Arbeit von Libeskind für Tristan und Intoleranza. Als weniger positiv schätzt der Verfasser dieses interessanten Kapitels natürlich die einsetzenden Sparmaßnahmen und die Schließung der Schauspielklasse an der Hochschule ein.

Die jetzige, seit 2006 amtierende Intendantin Dagmar Schildknecht nimmt anhand der Buchstabenfolge g-r-e-n-z-en-l-o-s Stellung zu den aktuellen Problemen und Themen wie Grenzen (von finanziellen Mitteln, was aber die Phantasie herausfordert) bis zu Sekt, der in Saarbrücken Crémant heißt. Bereits für die Spielzeit 2008/09 konnte sie sich mit dem Ensemble über die Auszeichnung für das „Beste Opernprogramm“ freuen.

Dieser und weitere Artikel über anspruchsvolle Initiativen des Theaters stehen unter der Überschrift „Theater im Herzen Europas“, die bereits viel über die Aufgaben, die man sich gestellt hat, aussagt. Dazu gehört natürlich auch die enge Bindung an die Nachbarländer, wovon einige zweisprachige Artikel Zeugnis ablegen. Tanz und Bühnentechnik finden in den Schlussartikeln ihren Platz, ehe der Leser sich einer ebenfalls reich bebilderten und umfangreichen Chronik zuwenden kann.

Ist der zweite Teil besonders für Saarländer interessant, so stellt der erste, historische Teil einen wertvollen Beitrag über Theatergeschichte in der Nazi- und in der Nachkriegszeit dar und ist auch für Leser jenseits der geographischen Grenze  aufschlussreich (Grenzenlos; Herausgegeben von Harald Müller und Dagmar Schlingmann, Verlag Theater der Zeit; ISBN 978-3-943881-57-8).

Ingrid Wanja