Familienfreundliches Amusement

 

David Monod, Spezialist für US-amerikanische Sozial- und Kulturgeschichte, hat den Versuch gewagt, die Geschichte der nordamerikanischen Kunstform Vaudeville in sechs Kapiteln und auf 226 Seiten Text nachzuzeichnen. Dabei entstehen aus einem überbordenden, chaotischen und durchkommerzialisierten Phänomen so etwas wie Struktur, Form und Ordnung, die einen Eindruck über Aufstieg und Fall dieser singulären Form populärer Unterhaltung geben.

Für Monod geht Vaudeville aus diesen 19.-Jahrhundert-Vorläufern hervor: Varieté, Minstrel Shows, sogenannten „Dime“-Museen („Groschenmuseen“) und Darbietungen in Saloons bzw. Bars. Für den Autor war das Vaudeville vor allem für die Mittelschicht gedacht, die familienfreundliche Unterhaltung suchte – mit Gespür fürs Neue, Überraschung, mit ständig wechselnden Programmen. Vaudeville war weder elitär wie die Oper, noch so teuer wie andere musikalische Unterhaltungen, etwa die Operette, das frühe Musical oder die Revue. Stattdessen war Vaudeville bewusst preisgünstig konzipiert, so dass Zuschauer mehrmals die Woche hingehen konnten. Diese „Volksnähe“ machte Vaudeville sehr demokratisch, auch weil gezeigt wurde, dass jeder mit einem besonderen Talent groß rauskommen könne.

Poster: Hurly-Burly-Extravaganza, Refined Vaudeville 1899/ Britannica

Für Monod umfasst die Hochphase des Vaudeville 35 Jahren: von 1890 bis 1925. Allerdings merkt man, dass sein unübersichtlicher und unintellektueller Untersuchungs-Gegenstand sich typischen akademischen Kategorisierungen widersetzt. In Kapitel 1 geht es um die „Mode für Vaudeville („Vogue for Vaudeville”) und darum, wie das Genre sich vor allem in urbanen Zentren ausbreitet, weil es saubere, sichere und gut beleuchtete Theater bespielte sowie „Stars“ offerierte, die medial entsprechend angepriesen wurden.

Mit vielen Zitaten aus Tageszeitungen und Fachjournalen der Ära bietet Monod Informationen zu den extrem diversen Darstellern, die so wirklich jede nur denkbare Attraktion boten. Sie waren selbst verantwortlich für ihre Requisiten und Kostüme, für ihre Musik und ihre Begleitung. Ihr Leben war unvorhersehbar und konnte sich ständig von einem Tag zum anderen ändern. Wegen der vielen Reisen von Stadt zu Stadt, von Theater zu Theater, und wegen Auftritten fast rund um die Uhr war das Leben für Vaudeville-Darsteller hart. Neben Jongleuren, Akrobaten, Tänzern, Komikern, Sängern, Musikern, Verkleidungskünstlern mit ihren „Acts“ gab es kurze Theaterstücke, Sketche, Mini-Musicals, alles was Neu war und das Interesse des Publikums wecken konnte.

Die berühmte Fanny Brice, Vaudeville – Star ihrer Zeit/ Dover

Die großen Persönlichkeiten, die den Vaudeville-Markt beherrschten, hießen Sophie Tucker, Fannie Brice, Al Jolson, May Irwin, Nora Bayes, Gallagher & Shean, Eddie Cantor, Ray Bolger. Sie alle fingen klein an und perfektionierten ihr Können im Vaudeville, bevor sie zu größerem Formaten wie den Follies, Revuen, Musicals und später zum Kino wechselten. Die meisten Vaudeville-Darsteller verschwanden allerdings im Dunkel der Geschichte.

Einige wenige prominente Afro-Amerikaner gingen aus dem Vaudeville-System hervor, obwohl dieses zutiefst rassistisch war und die Arbeitsbedingungen für Schwarze noch dramatischer waren als für Weiße, vielen von ihnen jüdischer Abstammung. Monod schildert die Kämpfe, die S. H. Dudley & His Smart Set ausfechten mussten, oder Bert Williams, Ernest Hogan, Bob Cole bzw. J. Rosamond Johnson, um nur die allerbekanntesten zu nennen. Viele von ihnen machten später Karriere am Broadway.

Im 2. Kapitel beleuchtet Monod die Modernität des Genres, die Weise, wie sich Vaudeville an Konsumentenbedürfnissen orientierte und damit, wie Vielfältig das Angebot war. Monod schreibt, die Darsteller mussten „authentisch“ wirken, um das Publikum zu erreichen. Sie waren die ersten, die neue Musikrichtungen unters Volk brachten, z. B. den Ragtime. Musikverlage rissen sich um prominente Vaudeville-Darsteller, um ihre Porträts auf Notendeckblättern zu verwenden, wodurch Musiktitel quasi empfohlen wurden. Tanzmoden wie der Two-Step, der Foxtrott, der Shimmy, der Tommy, der Texas-Tommy etc. wurden alle zuerst in Vaudevilles eingeführt.

Rassistische Witze und Stereotype – bis hin zur Extremkarikatur – waren weitverbreitet und allgemein akzeptiert, auf eine Weise, wie man sich das 2020 kaum mehr vorstellen kann. Blackface war als Stilmittel bei weißen wie afro-amerikanischen Darstellern omnipräsent und führte zu vorhersehbaren Klischees, Einschränkungen in der Charakterisierung und noch mehr Rassismus.

Das 3. Kapitel heißt „Grabbing Attention, or Making Good with the Distracted Audience”. Wenn das Publikum müde wurde oder unaufmerksam, mussten die Darsteller es sofort zurückgewinnen. Monod nennt diese Taktik „direct appeal“, weil sie unmittelbar funktionieren musste.

Die Sänger, die Stars, die Komiker erzählten dem Publikum oft Familiengeschichten, über ihre Ehepartner oder über etwas, was gerade passiert ist, dadurch sollte die Illusion von Vertrautheit erzeugt werden. Und so etwas wie der Eindruck von „Freundschaft“ entstehen. Anders als bei britischen Music Halls war das US-Publikum ausdrücklich aufgefordert zu reagieren und den Darstellern lautstark zu antworten. Ansonsten sollte es sich allerdings zurücklehnen und entspannen – und einem anstrengenden Arbeitsalltag entfliehen.

In Kapitel 4 geht es um die Modernität von Vaudeville. Auch wenn amerikanische Zuschauer neue Moden vielfach nur langsam akzeptierten, halfen Vaudeville-Darsteller, Trends zu beschleunigen. Laut Monod wollten Vaudevillians immer, dass ihr „Act“ frisch und neu wirkte. Die Tänzerin La Sylphe – mit der Wespentaille – entfachte Begeisterung für Salome und ihrer Schleiertanz. Der „Apachentanz“, bei dem ein „ganzer Kerl“ eine Frau durch die Luft schleuderte, entpuppte sich als zu drastisch fürs Vaudeville-Publikum, er musste entschärft werden, indem man darüber lachen konnte. Vaudeville bemühte sich immer, ein „sauberes“ Image zu promoten. Sexuelle Inhalte wurden genauestens kontrolliert, damit Frauen und Kinder unbeschadet Aufführungen besuchen konnten, womit sich Vaudeville stark von Operetten und Burlesques unterschied.

Vaudeville: Ohne die „Mädels“ ging nichts – und welcher New-York-Besucher der Fünfziger bis Achztiger erinnert sich nicht an die langen Beine in der Radio City Music Hall?/ santafemexican

In den Kapiteln 5 und 6 wendet sich Monod plötzlich ab von den Darstellern und den Inhalten von Vaudevilles und widmet sich dem Geschäft. Es gab kleine Vaudeville-Theater in der Nachbarschaft mit niedrigen Preisen, denen die großen Theater gegenüberstanden in großen Städten, mit höheren Produktionskosten und entsprechend teureren Eintrittspreisen. Hier stellt Monod die wichtigsten Player vor: die Theaterbesitzer Fred Proctor, H. R. Jacobs, Marcus Loew, Alexander Pantages, Oscar Hammerstein I, B. F. Keith, E. F. Albee, die das Vaudeville auf luxuriösen Riesenbühnen zu einem nationalen Phänomen machten. Er beschreibt ihre skrupellosen Geschäftspraktiken – Buchungsagenturen, Kartelle usw. –, die schließlich zum Niedergang der Kunstform führten. Es kam zu Streiks der Darsteller, Gewerkschaften wurden gegründet, um die Ausbeutung zu stoppen. Afro-Amerikaner gründeten ihre eigenen Spielstätten und lockten ein eigenes Publikum heran – wobei wiederum neue Kartelle entstanden, deren Geschäftspraktiken ebenfalls fragwürdig waren.

Mit der zunehmenden Verbreitung des Stummfilms wurden immer häufiger kurze Filme Teil von Vaudeville-Programmen. Daraus entwickelten sich bald Spielstätten, wo auch längere Filme gezeigt wurden – die irgendwann zur Hauptattraktion avancierten. Wodurch Vaudeville-Theater zu Kinos mutierten. Wenn überhaupt, wurden Live-Darbietungen irgendwann nur noch als Vorprogramm zum Film und in den Pausen angeboten. Die über Theaterketten und Betriebskartelle operierenden Vaudeville-Routen quer durch die USA wurden schließlich zu den wichtigen Distributionsrouten für Hollywooderzeugnisse.

Auch er gehörte zu den Attraktionen des Vaudeville: der schöne Eugen Sandow, der seine beträchtliche physische Wirkung zu vermarkten wusste/Wikipedia

Je mehr sich das Kino durchsetzte und dann nach dem Ersten Weltkrieg auch Tonträger, desto mehr wurde Vaudeville verdrängt. Das Radio beschleunigte den Prozess in den 1920er-Jahren. Und als dann mit The Jazz Singer 1927 der Tonfilm kam, war es eigentlich vorbei mit Vaudeville.

Als seriöse akademische Publikation zu einem frivolen Thema bietet das Buch nur 19 kleine Abbildungen in Schwarzweiß, die aber allesamt faszinierend sind. Insgesamt liefert das Buch unendliche viele Details, die den Leser irgendwann jedoch versinken lassen in einem zu viel von allem. Was den einstigen Reiz von Vaudevilles ausmachte und warum die Kunstform so populär war, das erschließt sich dem modernen Leser nur bedingt. Dennoch ist die Leidenschaft des Autors für sein Thema nicht zu leugnen, und sie ist ansteckend. Selbst wenn ich mir einen leichteren, witzigeren und beherzteren Erzählton gewünscht hätte. Mache seiner Thesen wiederholt Monod so oft, dass sie ermüden. Man glaubt irgendwann aus reiner Erschöpfung, dass sie wohl stimmen müssen.

Der Autor, der Broadway-Experte Richard C. Norton/ Foto privat ORCA

In seiner Danksagung erwähnt Monod die Datenbank vaudevilleamerica.org. Sie lohnt, einen Besuch. Und letztlich muss man Monod auf alle Fälle gratulieren, zu der vielen Arbeit, die er in diese Untersuchung gesteckt hat. Das Buch wirft ein helles Licht auf eine vergessene Ära der US-amerikanischen Populärkultur. Hoffentlich gibt’s bald mehr dazu zu lesen. Richard C. Norton/ Übersetzung Kevin Clarke

 

(David Monod “Vaudeville & The Making Of Modern Entertainment 1890-1925”; 288 S., Register & Illustrationen; University of North Carolina Press, HARDCOVER ISBN: 978-1-4696-6054-7).  Foto oben Poster/ Harry-Rasom-Center;  der obige Artikel erschien im oiriginalen  Englisch zuerst auf der Website des Operetta Research Center, dank an den Autor und ORCA-Chefredakteur Kevin Clarke)